Giuliano Pedretti Ansprache Aarau 1991

Ausstellung Galerie Kleiner

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Worte anlässlich der Ausstellung von Giuliano Pedretti (1924-2012) in der Galerie Kleiner in Aara

Sehr geehrte Damen und Herren

Bündner-Täler und Künstler-Familien sind zwei Begriffe, die wir leicht zusammenbringen. Die berühmtesten sind die Giacomettis aus dem Bergell und die Pedrettis aus dem Engadin. Wie ich im Vorfeld dieser Ausstellung erfahren habe, liegen die Wurzeln beider Familien in Oberitalien im Gebiet der einstigen Etrusker, deren Kultur wir ja heute noch bewundern. Verwandt oder nicht verwandt ist müssig zu fragen, denn wer in so bestimmenden Landschaften mit eigener Sprache abseits der Städte aufgewachsen ist, wird immer von dieser Basis geprägt sein, egal ob er in Paris, in der Welschschweiz oder immer noch vis-à-vis der Berge Kunst schafft.

Dem Werk des 67jährigen Giuliano Pedretti – Sohn von Turo Pedretti, Enkel von Giuliano Pedretti, Bruder von Gian Pedretti, Schwager von Erica Pedretti – alles Künstler – begegnen wir heute abend eigentlich zum ersten Mal im Aargau, es sei denn jemand erinnere sich an eine Ausstellungsbeteiligung des Künstlers 1960 im Rathaussaal in Wettingen. Von Wiedererkennen wäre allerdings keine Spur, denn das bildhauerische Schaffen von Giuliano Pedretti hat sich in den letzten 30 Jahren vom klassischen Porträt zu einer eigenwilligen Auffassung von Skulptur entwickelt, die  gerade in den letzten Jahren entscheidende Schritte vollzogen hat, ohne dabei freilich den Boden der Tradition zu verlassen. Beschränken wir uns hier auf die Epoche, die wir anhand der ausgestellten Arbeiten nachvollziehen können, das heisst in etwa auf die letzten 15 Jahre.

 

Die älteste Arbeit heisst „Der Philosoph“ und datiert von 1977 – es ist ein Kopf, der das klassische, abbildende Porträt an den Rand führt.Der Künstler spricht von der „Summe der Aspekte“, die er einzubringen versucht habe, indem  er mehrere Blickwinkel, mehrere Ansichten ineinander verarbeitet habe. Der Philosoph muss ein Engadiner gewesen sein, denn in seinem Denker-Gesicht hat sich die rauhe Berglandschaft eingeschrieben. Giuliano Pedretti erarbeitet die Modelle in Ton und man spürt wie er die Einbuchtungen und die Ausstülpungen mit den Fingern geformt hat, wie er dem Kopf seine Gestaltung und damit auch seine Vision  gegeben hat.

Der kunstgeschichtliche Quervergleich darf sich nicht auf den in jedem Text über Giuliano Pedretti auftauchenden Alberto Giacometti, den der Künstler tatsächlich gut gekannt und mit dem er in Paris lange Stunden diskutiert hat, beschränken. Da wäre zum Beispiel auch Hans Josephson zu nennen oder, viel allgemeiner, all die Versuche der 70er Jahre , das traditionelle Abbild in ein visionäres, vom eigenen Künstler-Ich geformtes „Bild“ zu verwandeln,sei es in der Skulptur oder in der Malerei.

 Giuliano Pedretti muss das gespürt haben, denn es setzte daraufhin ein intensives Suchen ein. Die zweidimensionale Zeichnung wies den Weg weiter und führte Giuliano Pedretti zu den „flachen“, gitterartigen Arbeiten – „Skulpturen“ mag ich sie nicht nennen – von denen einige hier zu sehen sind. In der Region, wo Max Matters Körperabwicklungen bekannt sind – wobei ich hier keine direkten Vergleiche konstruieren will – ist der Weg, den Giuliano Pedretti gegangen ist, nachzuvollziehen. Wenn man nämlich den körperhaften „Philosophen“ im Geist in eine nichtperspektivische Zeichnung verflacht und dazu die Einbuchtungen durchbricht und die Kanten der Ausstülpungen stehen lässt, so ergibt das ein Gebilde, das Ansatz für diese scheibenartigen, durchbrochenen Bronzen sein könnte. Geht man weiterhin von der in der Region bekannten Kunst aus und lässt die Gitter-köpfe ein bisschen vibrieren, taucht vor dem inneren Auge vielleicht das Schattenspiel einer Arbeit von Hugo Suter auf. Der Vergleich hinkt und doch ist der Verweis auf die Landschaft, der Verweis auf Licht und Schatten für Giuliano Pedretti immer richtig, ja sogar unabdingbar. Das Weiss des Schnees, das Dunkel des Schattens, die harten Kanten der Berge, die Licht und Dunkel trennen, diese optischen Phänomene sind eng ins Wurzel-geflecht des Künstlers verwoben.

Die flachen Arbeiten waren ein Zwischenschritt. Bald beginnt der Künstler seine Arbeiten wieder zu furchen und mit den Fingern zu formen, ihnen Körperlandschaft zu geben, allerdings – und das ist entscheidend – ohne ihnen Körpervolumen zurückzugeben. Sie sind und bleiben Schattenwürfe voller Geheimnisse – Gesichter, Figuren, aber keine menschlichen Abbilder mehr – Visionen aus dem Stoff, aus dem sich Sagen und Legenden bilden könnten.

Immer, wenn ein Künstler sich rasant entwickelt, verändert sich die Stimme der Umgebung. Die einen gehen freudig mit, die andern bleiben zurück; so auch bei Giuliano Pedretti. Solche negativen Urteile  können schmerzhaft sein für einen Künstler, vielleicht sticheln sie aber auch seinen Ehrgeiz. Wie dem auch sei, um 1988 riet ihm ein guter Freund, der seine neueren Arbeiten nicht so recht anerkennen konnte, er solle zu malen beginnen. Da hatte er in ein Wespennest gestochen. Der Freund mag das leichthin gesagt haben, wissend, dass in den 80er Jahren viele international bekannte Maler zu bildhauern und Bildhauer zu malen begannen. Ob’s Aerger oder Neugierde oder beides war, das Giuliano Pedretti tags darauf ins Malutensiliengeschäft drängte, um das Notwendige zu kaufen, ist nicht so klar zu definieren. Da war nämlich noch etwas Anderes, von dem der Künstler nicht so gerne spricht, das aber seine Skulpturen und seine Bilder massgeblich bestimmt und ihre Eigen-Art mitprägt: Giuliano Pedretti ist farbenblind, das heisst – er hat mir das erklärt – er sieht wohl Farbunterschiede, aber keine Nuancen. Sicher ist das prägnante Hell-Dunkel der Skulpturen, die Konzentration auf diesen Wechsel im Durchbrochenen davon mitbestimmt und zwar positiv. Darum scheint es mir, auch wenn ich den Künstler menschlich begreife, falsch, nicht darauf hinzuweisen, denn alles, was man hat, kann – richtig eingesetzt – Kapital sein.

Zurück zum Maler Pedretti im Geschäft, wo man Farbe, Pinsel und Papier kaufen kann. Er wählt Gouachefarben, weil sie billiger sind als Aquarellfarben, er wählt – zunächst – billiges Papier, weil er der Sache nicht traut. Kaum an der Arbeit, merkt er aber, dass Malen etwas Faszinierendes ist, etwas, bei dem man loslassen, laufen lassen kann. Dass er Landschaften malt, liegt auf der Hand. Er will sie so malen, wie er sie sieht, wenn er mit seinem Bruder und seinen Freunden auf der Hochwildjagd in den Alpen ist – direkt, steil, immer alles schräg. Weil er die Farben nicht mischen kann, erhält die Form dieselbe Bedeutung wie die Farbe. Daraus ergibt sich dieses Direkte, Unmittelbare, auch Kraftvolle seiner Gouachen, deren Themen-bereich er sukzessive ausweitete. Die Malerei bleibt für Giuliano Pedretti aber Experiment – in der Seele ist er Bildhauer. Aber – und das ist das Entscheidende – die Malerei hat ihn in der Bildhauerei weitergebracht. Denn die vielen Schrägen brachten die Idee, seine Figuren aus der Senkrechten zu kippen. Doch so einfach war das nicht – das Schrägstellen allein brachte nicht die erhoffte Steigerung. Erst die knapp vor Abbruch der Uebung über ihn gekommene Erkenntnis, dass es zwei Schrägen brauche, um das Gleichgewicht zu halten, brachte den Aufbruch, brachte Bewegung, Unterwegssein. Nicht mehr nur der Mensch an sich ist thematisiert, sondern sein Weg, sein Unterwegssein und das ist deutlich eine Dimension mehr.

Beim Gespräch hier in der Galerie vor knapp einer Woche hat mir Giuliano Pedretti das Wahrnehmungsphänomen gezeigt, dass wir nun vom selben Standort aus die Figuren auf verschiedene Weise sehen können, je nachdem ob sie von rechts nach links gehen oder von links nach rechts. Und zwar sehen wir sie im ersten Fall von oben nach unten und im zweiten Fall von unten nach oben.  Das Warum konnte er mir nicht erklären – für den Künstler ist das ja auch nicht wichtig, denn ihn interessiert die formale Erweiterung. Und ich – ich kann es auch nicht; ich hatte schon in der Kantonsschule meine liebe Mühe mit der darstellenden Geometrie, geschweige denn heute. Bleiben wir also beim Phänomen, dass diese doppelte Schräge, dem Künstler ein immenses Gestaltungsgefäss geöffnet hat. Der erste, der mit schräg gestellten Figuren arbeitet, ist Giuliano Pedretti allerdings nicht – ich erinnere mich an eine Vernissagerede, die ich vor gut 10 Jahren im Gluri Suter Huus in Wettingen für den damals knapp 30jährigen Tessiner  Bildhauer Ivo Soldini hielt, dessen Spezialität grosse Figuren zwischen Stehen und Liegen waren. Das nur nebenbei.

Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Da folgt noch ein wichtiger Schritt. Vor gut einem Jahr sah Giuliano Pedretti im Halbschlaf auf den Tisch, auf dem einige seiner Figuren standen. Dabei wurde die Waagrechte zur Senkrechten, die Tischplatte zur Wand und die Figuren bewegten sich schwebend im Raum. Das liess sich im Wachzustand nachvollziehen und siehe da, die Konstellation trug.

War das Verschwinden von Körpervolumen der erste Schritt weg von der Materie, die doppelte Schräge der zweite Schritt in Richtung Illusion, so hatte er nun die Eigenständigkeit der Figur in einem nicht unseren Erdgesetzen unterworfenen Raum gefunden. Kein Wunder war und ist er glücklich darüber. Giuliano Pedretti selbst hat mir das Stichwort für einen möglichen Vergleich gegeben – die Schwerelosigkeit, den Mann auf dem Mond. Die Phantasie von einst und die Realität von heute – dasselbe und doch glücklicherweise nicht dasselbe. Für mich jedenfalls sind die neuen  Wandgänger näher bei Albert Weltis „Nebelreitern“ als bei den Astronauten, wobei – und das der Unterschied zu Welti, diese Figuren hier nicht vom Absturz bedroht scheinen, sondern mit Sicherheit durch den „anderen“ Raum gehen. Ich wünsche, Sie können mit ihnen gehen und danke fürs Zuhören.