Intensität und Fülle in der Reduktion – Agnes Martin Kunstmuseum Winterthur 1992

www.annelisezwez.ch   Kunstzeitschrift „artis“ März 1992

Die von langer Hand geplante, kleine, indes sehr kohärente, Ausstellung mit Leinwand- und Papierarbeiten der kanadisch-amerikanischen Malerin Agnes Martin ( geb. 1912 in Saskatchewan) im Kunstmuseum Winterthur ist unabhängig von der Europa-Tournee ihres Werkes ( mit Stationen in Amsterdam, Münster, Wiesbaden und Paris) zustande gekommen. Es ist die erste Museums-Einzelausstellung der in den letzten 15 Jahren zu Weltruf gelangten Künstlerin in der Schweiz. Die 11 grossformatigen Bilder, die 39 kleineren Arbeiten auf Papier sowie ein 30teiliger Graphik-Zykklus sind im wesentlichen Leihgaben aus schweizerischen und deutschen Privatsammlungen. Die Ausstellung mit Werken aus den Jahren 1960 bis 1990 ist Erweiterung und Dokumentation des kürzlich getätigten Ankaufes von „Untitled Nr. 8“, 1988 ( Acryl und Bleistift auf Leinwand, 183 x 183 cm ) durch die Volkart Stiftung zugunsten des Kunstmuseums Winterthur. Es handelt sich dabei um den ersten Ankauf eines repräsentativen Werkes von Agnes Martin für ein Schweizer Museum. In Winterthur ist es Ergänzung des Sammlungs-Schwerpunktes amerikanischer Kunst der 60er und 70er Jahre.Als Besonderheit erschien zur Ausstellung ein Band mit den gesammelten „Schriften“ der Künstlerin, die in eindrücklicher Art und Weise Aufschluss geben über die künstlerischen und die philosophischen Grundlagen ihres Schaffens.

Die in den vier Axial-Räumen des Museums eingerichtete Ausstellung setzt ein mit dem Beginn des heute als gültig erachteten, mit minimalsten Mitteln erarbeiteten Werkes von Agnes Martin. 1957 hatte die seit 1932 in den USA lebende Künstlerin in der Artist’s Community in Coenties Slip, an der Südspitze von Manhattan Wohnsitz genommen, wo zu dieser Zeit auch Ellsworth Kelly, Jasper Johns, Robert Indiana und andere wohnhaft waren. Wichtig wurde der Kontakt zu Ad Reinhardt. Schon 1960 war sie mit einem Bild in einer thematischen Ausstellung zur konkreten Kunst im Helmhaus in Zürich vertreten. Stilistisch war das ebenso falsch wie die langjährige Einordnung der Künstlerin in den Bereich der Minimal Art. Aeusserlich sind die aus Rechtecken verschiedener Richtung und Ausdehnung, verschiedener Dichte und Geschlossenheit geformten Bilder zwar mit den genannten Kunstrichtungen verwandt, doch in ihrer Inhaltlichkeit – und diese ist letztendlich entscheidend – gehört das Werk von Agnes Martin näher zu reduzierten Formen des Abstrakten Expressionismus, näher zu Mark Rothko. „Die Funktion der künstlerischen Arbeit“, so Agnes Martin, „besteht in der Anregung von Empfindungen, der Erneuerung von Erinnerungen an Augenblicke der Vollkommenheit“.

Im ganzen Körper spürbar wird die Intensität und die unbenennbare Fülle der Arbeiten von Agnes Martin insbesondere in der Reihe. Wenn sicht- und fühlbar wird, wie jede noch so kleine Veränderung eines „Gitters“, jedes Ausdehnen, jedes Zusammenziehen, jedes Verkleinern, jedes Vergrössern, jedes Punktieren oder Ausziehen von Linien, jeder Druck des Bleistifts, des Farbstiftes oder der Tusche Ausdruckskraft beinhaltet. „Alles verändert sich und bleibt gleich“ lässt Agnes Martin Gott in einer Parabel sagen .

1967 musste Agnes Martin ihre Wohnung in New York verlassen – viele Werke liess sie zurück. Sie wohnte fortan in New Mexico in bescheidensten Verhältnissen.Sie malte kaum. „In dem grossen Prozess, in der totalen Summe des äusseren Seins aller Lebewesen, ist unsere Arbeit unbedeutend, unendlich klein und unbedeutend. Dies muss begriffen werden.“ Auf Anregung von aussen, kehrte sie 1973 zum Bildnerischen zurück und malte seither ohne Unterbruch. Die Gitterstrukturen reduzieren sich in den 70er Jahren auf horizontale Linien und Streifen, oft nur in Weiss-Grau-Nuancen, oft aber auch in subtilen, scheinbar durch die Fläche hindurch wirkenden Farben. „Als ich aus den Bergen New Mexicos hinausfuhr, sah ich die Ebene, und ich dachte: das ist es – nur die Fläche …..Wenn ich die Horizontalen ziehe, siehst du diese grosse Ebene, und du hast ein Gefühl, wie wenn du dich über die Fläche ausbreiten würdest – Alles kann gemalt werden, ohne dargestellt zu werden.“

Agnes Martin verkörpert eine ideale Vision einer Künstlerin. In einem „Rat an junge Künstler“ schreibt sie: „Das Leben eines Künstlers ist inspiriert, selbstgenügsam und unabhängig ( nicht auf die Gesellschaft bezogen)…..Es setzt sich schmerzlich gegen seine eigene Bedingtheit zur Wehr. Es scheint sich aufzulehnen, doch in Wirklichkeit ist es eine inspirierte Art zu leben.“ Agnes Martin nennt ihr Werk explizit „nicht religiös“ – seine ikonenhafte Ausstrahlung verdankt es indes nichtsdestotrotz seiner geistig-mystischen Attitüde.