Der Impetus der Ich-Erfahrung artis 1993

Gedanken zur weiblichen Erotik in der Kunst

www.annelisezwez.ch     Erschienen 1993 in der Kunstzeitschrift artis, Bern

Als Künstlerinnen in der Folge der 68er Jahre damit begannen, ihren weiblichen Körper, ihre weibliche Sexualität zum Thema ihrer Kunst zu machen, wurde dies vielfach als Protestaktion, als radikaler Ich-Schrei der Frauen wider die Männer inter-pretiert. Das war und ist nicht falsch, aber es ist nicht alles. Gut 20 Jahre später zeigt sich nämlich, dass die Künstlerinnen ihre Sinnlichkeit, ihre erotischen Gefühle immer noch primär über den nackten, weiblichen Körper – den Ich-Körper – zum Ausdruck bringen. Das gefühlsbestimmende, männliche Du bleibt dabei meist unsichtbar oder erscheint in verwandelter Gestalt. Von Annette Barcelo über Klaudia Schifferle bis Hannah Villiger – (fast) alle stellen sie das Stimulans der Körperhaftigkeit weitgehend über die Identifikation mit dem eigenen Geschlecht dar. Ob diese Beziehung des Ich zur Sexualität eine positive oder eine negative ist, spielt für die Erkennung der Struktur keine Rolle. Als Grundgegebenheit bestimmt sie aber eine wichtige und bisher kaum diskutierte Eigenart weiblicher Kunst. Umsomehr als sie stark in Kontrast steht zur Kunst vieler Männer, die ihre Geschlechtlichkeit als Projektion auf das Weibliche – auf das Du – zum Ausdruck bringen und dabei das eigene, gefühlsbestimmende Ich bildnerisch nicht formulieren oder nur zeichenhaft einbringen.

Frauen ohne eigene Sexualität?

Sigmund Freud vertrat die These, dass die männliche Triebhaftig-keit der zentrale Motor männlichen Verhaltens darstelle. Die Frau blieb für ihn indes ein Rätsel. Er konnte den „Einfluss des Penismangel auf die Gestaltung der Weiblichkeit“ nicht erklären. Mit anderen Worten, er sprach ihr eine eigene Sexualität, und damit auch eine eigene Identität, ab. Er macht die Frauen zu einem Konstrukt für die Männer. Das negative Bild, das Freud von der Frau zeichnete, hatte für Jahrzehnte (und vielleicht bis heute) verheerende, psychische Folgen indem es die von der katholischen Kirche seit Jahrhunderten postulierte „Zweitrangigkeit“ der Frau zementierte statt über die Psychoanalyse endlich auflöste. Wie wenig die (männliche) Kunstkritik bis heute über diese Mechanismen wirklich nachgedacht hat, zeigte eine Ausstellung von Werken von Gustav Klimt im Zürcher Kunsthaus. Die Zeichnungen mit onanierenden Frauen als „emanzipatorischen Akt“ Klimts zu bezeichnen (Fritz Billeter, Christian Brandstätter) ist angesichts der zeitlichen und geographischen Nähe von Klimt zu Freud und Wittgenstein geradezu lächerlich. Klimts Zeichnungen sind rein männliche Projektionen, wie das Laura Arici im Zürcher Katalog treffend schreibt. Die rezeptorische Problematik besteht indes darin, dass es mindestens so viele Frauen wie Männer gibt, die für Gustav Klimts Werke schwärmen. Die Männer, weil sie die Jugendstil-Phantasien Klimts mit innerem Prickel nachvollziehen; die Frauen, weil sie die Optik des Künstlers negieren und die spannungsvollen Frauenkörper für sich selbst vereinnahmen und, die Zeichnungen als Wunsch-Ich-Identifikationen nacherleben. Auf der Ebene der Rezeption vollzieht sich also dasselbe Muster von Du-Projektion einerseits, Ich-Erfahrung andererseits wie in der Kunstproduktion. Auch darüber ist bisher kaum nachgedacht worden.

Von der Tradition zum Ich
Diese auch von Frauen oft missverstandene und falsch gedeutete Struktur besteht selbstverständlich nicht erst seit 20 Jahren. Sie in der Kunst über grosse Zeiträume zurück zu beweisen, ist indes nicht einfach, da Kirche und Gesellschaft Sexualität ganz allgemein und die der Frauen im Besonderen mit grössten Tabus belegte und überdies nur wenige Künstlerinnen tätig waren. Vielleicht ist aber die Tatsache, dass Künstlerinnen vergangener Zeiten, und bis ins 20. Jahrhundert hinein, grossmehrheitlich Frauen und sehr oft sich selbst porträtiert haben, ein Indiz in die genannte Richtung. Man denke zum Beispiel an die zahlreichen und überaus zärtlichen Selbstporträts von Angelika Kauffmann oder an die vielen, eleganten Selbst-Darstellungen von Alice Bailly. Nur, so einfach ist die Rechnung nicht, denn die Frage, wie weit Künstlerinnen früher überhaupt Männer malen durften, muss gestellt werden. Und wie weit zum Beispiel eine frühe Zeichnung von Sophie Taeuber aus dem Jahre 1907, die einen sinnlich posierenden, liegenden Akt darstellt, Eigenausdruck ist und wie weit unreflektiert übernommene Tradition der damaligen Akademien, ist schwer zu beurteilen. Eindeutiger ist die Tusch-Zeichnung eines weiblichen Aktes von Alis Guggenheim aus dem Jahre 1936, da die Suche nach erotischer Ausstrahlung als Bildwirkung klar fassbar ist. Es gilt zu beachten, dass sich psychische Strukturen sehr oft unbewusst äussern und damit auf mehreren Bedeutungsebenen Gültigkeit haben können.

Die unbewussten Impulse
Ein zuverlässiger Wegweiser ist darum die „art brut“, die Bilder gebärt, die massgeblich von unbewussten Impulsen gelenkt werden. Geht man dem Thema in den von Michel Thévoz herausgebenen Büchern zur „art brut“ respektive zur „Neuve Invention“ nach, wird schnell klar, dass die eingangs erwähnte These hier positiven Sukkurs erhält, auch wenn die Zahl der Outside-Künstlerinnen vorläufig wesentlich kleiner ist als jene der Künstler. Man kann jedoch feststellen, dass von Aloïse über Ida Buchmann bis Magde Gill und Brigitte Roos in fast allen Werken das Weibliche – wenn auch nicht immer in figürlichem Ausdruck – dominiert. Im Schaffen von Aloïse kann im übrigen ein weiteres weitverbreitetes Moment beobachtet werden: Tritt in ihren Bildern der Mann in Erscheinung, so stets im Verbund mit der Frau. Im Fall von Aloïse ist die dargestellte Mann-Frau-Beziehung eine fiktiv-zärtliche. In einem weiteren Kontext gesehen, kann sie aber durchaus auch kämpferischer oder bedrohlicher Art sein; das entsprechende Spektrum ist weit. Aloïse hat ihre Zeichnungen in den 40er und 50er Jahren geschaffen, in jeder Hinsicht ausserhalb der feministischen Entwicklung der letzten 20 Jahre. Analog muss es auch Werke anderer Künstlerinnen geben, welche die weibliche Erotik als Ich-Erfahrung vor 1970 formuliert haben. Alis Guggenheim ist bereits genannt worden. Erweitert man das bisher weitgehend auf die figürliche Erscheinung beschränkte Blickfeld hin zu symbolischen Darstellungen, so darf hier auch Suzanne Duchamp („Etude pour un et une machine“, 1916), vor allem aber die Amerikanerin Georgia 0’Keeffee genannt werden, deren Darstellungen von geöffneten Blumen und Blüten zweifellos von ihrem sinnlich-weiblichen Empfinden gelenkt sind (z.B. „Black Iris“ von 1926 ). Obwohl erst 1975 entstanden, gehört unter dem Aspekt der Generation das kecke „Ballspiel“ von Ilse Weber (1908-1984) auch hier erwähnt.So man will, kann man noch weitergehen, und zum Beispiel in Werken von konstruktiv arbeitenden Künstlerinnen die Zahl der nach unten weisenden Dreiecke – das wohl archaischste Weiblichkeitszeichen – zählen. Man würde dabei Relevantes entdecken, doch es geht ja hier nicht um eine Aufzählung, sondern um eine Struktur, die letztlich gesamthaft bestimmend ist auch wenn sie nicht überall explizit erscheint.

Körpergefühls-Figurationen
Für mich persönlich war die Ausstellung von Maria Lassnig im Kunstmuseum Luzern im Jahre 1989 von entscheidener Bedeutung. Ihre „Körpergefühls-Figurationen“ aus den frühen 60er Jahren sprechen die Sprache des weiblichen Körpers wie kaum andere Werke zuvor. An der Basis ausgehend vom österreichischen Expressionismus, hat sie in Paris Bilder gemalt, die zunächst nichts anderes zeigen als die Umrisslinien von hockenden respektive liegenden, weiblichen Figuren. Um ihre Brisanz, ihre emotionale Intensität zu spüren, muss sich die Betrachterin in sie hinein begeben – der Raum dazu ist ja durch die Beschränkung der Künstlerin auf Umrisslinien frei – um im Bild sich selbst zu erleben, das Sitzen, das Hocken, das Kauern ebenso wie die erotische Spannung des gedehnten, liegenden Frauen-Körpers. Wenn Maria Lassnig die genannten Werke auch nicht als Selbstporträts definiert hat, so ist die Ich-Nähe doch klar manifest. Die Faszination für die Betrachterinnen ergibt sich aus der Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen, anderen „Ich“. Auch von Meret Oppenheim gibt es eine Bleistift-Zeichnung von 1962 mit dem Titel „Love“, die einen nackten Frauenkörper zeigt, dessen Erregung durch feine Schraffuren, die vom ganzen Körper ausstrahlen, sichtbar gemacht ist. Auch das berühmte, von Meret Oppenheim veranstaltete „Frühlingsfest“ von 1959 – ein Nachtessen, dargeboten auf einer nackten Frau – gehört in diesen Kontext. Hier muss nun allerdings ein Zwischenkapitel eingeschoben werden. Gerade in der Kunst ist die Zahl der lesbisch oder homosexuell empfindenden Frauen respektive Männer relativ gross. Auch Meret Oppenheim gehörte, zumindest teilweise, dazu. Und da wird es schwierig zwischen Projektion und Ich-Erfahrung zu unterscheiden. Es fällt jedoch auf, dass die lesbischen Künstlerinnen in der Regel in Bezug auf ihr sexuelles Empfinden sehr zurückhaltend sind, während die Homosexuellen die Thematik sehr oft und sehr deutlich ausdrücken. Die schönsten Männer-Bilder stammen von Männern selbst. Die Darstellungen bleiben dabei aber Projektionen. Man denke zum Beispiel an Rainer Fetting oder an Mapplethorpe.

Die Fülle der Gegenwart
Erst die Epoche der letzten 20 Jahre, die den Frauen, und damit auch den Künstlerinnen, freiere Entfaltungsmöglichkeiten gebracht hat, bringt indes die Struktur der weiblichen Erotik zur Evidenz. Sie ist weder an Stile noch an bestimmte Techniken gebunden, äussert sich überall, aber in ganz verschiedenen Intensitätsgraden und auch mit ganz verschiedenen künstlerisch-inhaltlichen Zielsetzungen. Die weibliche Erotik in ihrer grundsätzlichen Anlage auf “ Lust nach Sexualität“ zu reduzieren wäre fatal. Hannah Villiger zum Beispiel zeigt in ihren fotografischen „Skulpturen“ unter anderem ihre eigene weibliche Geschlechtlichkeit als Ort der grössten Verletzbarkeit. Auch in anderen Arbeiten hatte sie mit fotografischen Ausschnittvergrösserungen ihres eigenen Körpers die erregende Nähe von Haut und Körperform dargestellt. Klaudia Schifferles zeichnerische Bilder der frühen 80er Jahre haben das Spiel der Frau mit sich selbst in sehr lustbetonter, „frecher“ Art und Weise in den öffentlichen Raum gestellt. Im Selbstporträt „Lichtung“ von 1992 tritt eine andere Klaudia Schifferle in Erscheinung. Mit geschlossenen Augen in einem verschlungenen Dickicht sitzend, horcht sie ganz in sich hinein. Die Offenheit und die farbliche Betonung des weiblichen Geschlechts lassen spüren, was in ihr vorgeht. Man hat dabei den Eindruck, dass die Künstlerin eine positive Beziehung zum eigenen Körper hat. In ihren Skulpturen bleibt die Liebe zur Frau und durch die Frau zum Menschen erhalten, der differenzierende Blick der Künstlerin weitet jedoch das Feld.

Die Beziehung zu Tier- und Pflanzenwelt
Interessant sind nicht nur die Frau-Frau-Darstellungen an sich, sondern auch das Umfeld, in das sich die Künstlerinnen hineinstellen. Schon bei Klaudia Schifferle könnte man die Kreislinien im Hintergrund als Lianen und damit als Naturelemente bezeichnen. Sehr viel betonter erscheint Frau und Natur in Miriam Cahns Werken der frühen 90er Jahre. Miriam Cahn ist in ihren Kohlezeichnungen der frühen 80er Jahre immer von der Bedrohung der Frau, damit auch der Bedrohung der weiblichen Sexualität durch das Patriarchat ausgegangen. Die Dominanz des Eigen-Bildes, das durch die Betonung von Brüsten und Vagina, Vermerke zum Blutungszyklus stets als betont geschlechtliches Wesen erschien, zeigte aber auch hier von Anfang an die Grundstruktur des weiblichen Empfindens. In jüngerer Zeit ist das akzentuiert Kämpferische zurückgetreten zugunsten von empfindungsmässigen, fiktiven Naturszenerien, in denen Frau und Tier als gemeinsam Liebende, aber auch als gemeinsam Bedrohte erscheinen. Wie weit bei Miriam Cahn die Naturkräfte, die Tiere auch Partneraspekte in sich tragen, ist schwierig festzustellen, vielleicht. Das Tier als liebender Partner der Frau hat nichts mit Pornographie zu tun. Das Geweihtier (bei Stéphanie Grob), das wolfsähnliche Tier (bei Annette Barcelo), das Dinosauriertier (bei Simonetta Martini), die alle stets in Gemeinschaft mit dem Weiblichen in Erscheinung treten, verkörpern in je differenzierter Art die Liebe zum Mann ohne Belastung durch gesellschaftlich-partriarchalische Erniedrigungen. Das Thema Frau und Tier könnte beliebig ausgeweitet werden. Man denke zum Beispiel an die Schlangen, Raupen und Schafe bei Meret Oppenheim, an die Affen, Hunde, Katzen etc. bei Suzanne Baumann, an die Pferde bei Esther Altorfer, an die Meerkatzen bei Margrit Jäggli usw.

Die sinnliche Beziehung zum Kind
Ein weiterer, beachtenswerter Aspekt ist die nahtlose Weiterführung sinnlichen Empfindens für den Mann in die Beziehung zum Kind. Eindrücklich demonstriert dies Marlène Dumas, deren Bildmotive sich in den letzten Jahren von Schneewittchen-Geschichten zur Erotik der Schwangerschaft und schliesslich zur sinnlichen Beziehung zum Kind entwickelt haben. Analoges kann zum Beispiel am Werk von Stéphanie Grob und Marianne Flück beobachtet werden. Dies zeigt auf einer weiteren Ebene, dass die Frau Sexualität nicht als Projektion auf den Mann erlebt, sondern ihre Sinnlichkeit als ganzheitliche Erfahrung ihres Körpers erlebt. Es zeigt sich dies ja zum Beispiel auch am Erfolg der traditionellen Frauenzeitschriften – Annabelle, Brigitte u.a. – in denen fast nur schöne Frauen abgebildet sind, und am Misserfolg jener Magazine für Frauen, in denen aufreizende Männerbilder die Erotik der Frau ködern sollten. Auf allen Ebenen ist es lesbar: In einer TV-Unterhaltungssendung wurde eine Untersuchung zum Begriff „schön“ bekanntgegeben: Danach ist für den Mann der Inbegriff von „schön“ die Frau, für die Frau jedoch kommt der Mann erst an 15. Stelle. Eine Psychologin brachte es schliesslich auf den Punkt: „Frauen lesen Liebesromane, die Männer kaufen Pornohefte.“ Zurück zur Kunst: Nicht immer tritt Sinnliches in abbbildhafter Körperlichkeit in Erscheinung. Sehr oft tritt das Weibliche in symbolischer oder in zeichenhafter Form auf. Karin Schaub zum Beispiel bezeichnet ihre viellippigen Kohlköpfe der späten 70er Jahre als Selbstbildnisse. Bekannt ist die Verknüfung von Haus und weiblichem Körper, bei Louise Bourgeois zum Beispiel. Es können aber auch „nur“ Materialien sein; genannt sei die Verwendung von weiblichem Schamhaar in den textilen Arbeiten von Verena Brunner. Häufig ist eine Reduzierung auf Organisches in mehr oder weniger bildhaften Zeichnungen, bei Anna Margrit Annen unter anderem. Vielfach erlaubt die Zeichnung die Nähe zur sinnlichen Befindlichkeit, während die Leinwandbilder derselben Künstlerinnen sehr viel verschlüsselter und komplexer erscheinen ohne indes die innere Struktur zu verleugnen. Als Beispiele solcher Mehrschichtigkeit sei auf das Schaffen von Leiko Ikemura und Ilona Rüegg hingewiesen.

Die Struktur der Identifikation
Es geht hier nicht um ein Erotica-Lexikon, sondern um einen wichtigen Aspekt weiblicher Kunst, der weit über die Darstellung von Sinnlichkeit hinausgeht, sich scheinbar unbemerkt in verschiedenste Ausdrucksformen einschleicht. Gemeint ist damit nicht nur die Köpernähe der weiblichen Kunst, sondern ganz allgemein die Methode, Themen welcher Art auch immer zunächst in den eigenen Körper hineinzunehmen, ihre Beschaffenheit zu erkunden, auch zu hinterfragen, sie auf Aehnlichkeiten oder Kontraste mit der eigenen Befindlichkeit, der eigenen Welthaltung, zu untersuchen und von da aus wieder als künstlerische Aeusserungen zu gebären. Diese Methode der Identifiktation ist weitgehend spezifisch für Künstlerinnen und steht sehr oft in Kontrast zur Projektionsmethode (und -fähigkeit) der Künstler. Mit Qualität hat diese Struktur nichts zu tun. Ihre Kenntnis bietet aber eine Möglichkeit besseren Verständnisses für die Kunst von Frauen und kann dadurch den Abbau der nach wie vor diskriminierenden Beachtung der Künstlerinnen auf dem Kunstmarkt bewirken.
Erstaunlich ist, dass die hier aufgezeigten Mechanismen nicht einmal den Frauen wirklich bekannt sind. Im Buch „Blick-Wechsel“ – „Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kunst und Kunstgeschichte“, das die Vorträge der 4. Kunsthistorikerinnen-Tagung in Berlin ( 1988 ) enthält, wirft die Amerikanerin Caroline Fawkes der Künstlerin Helen Chadwick, die ihre Sexualität über den weiblichen Körper darstellt – „mein Körper trägt seine Sexualität wie eine äolische Harfe, durch welche die Empfindungen treiben und auf der sie spielen“ – vor, „sie erlebe ihre Weiblichkeit im Spiegel männlichen Begehrens“. Dasselbe Phänomen zeigt sich in der zwar oft berechtigten, zur Zeit aber völlig überspitzten Reaktion von Frauen auf sogenannt „sexistische“ Darstellungen. Die Fülle von Beispielen aus der Kunst, welche das weibliche Empfinden gegenüber sich selbst, aufzeigen, geben ein deutlich anderes Bild.

Kopf-Analysen kontra Körper-Schichten
Wie bereits am Beispiel Klimt aufgezeigt, gilt das dargelegte Prinzip sowohl für die Produktion wie die Rezeption von Kunst. Angesichts der Nichtbeachtung des Phänomens durch die Kunstbetrachtung, werden dadurch gewisse Wertungen innerhalb der Kunstgeschichte fraglich. Ein Kunstwerk auf seine Dialogfähigkeit mit den eigenen Körper-Ich-Schichten hin zu befragen, bringt andere Aspekte zutage als eine rein formal-analytisch-beobachtende Sicht. Beide Blickrichtungen haben ihre Berechtigung und Bedeutung. Doch während die Frauen durch die gesellschaftlichen Gegebenheiten von Kindheit an lernen, mit den strukturell eher männlichen Abstraktionen umzugehen, sie auch anzuwenden und umzusetzen, sind umgekehrt die Annäherungen der Männer an die Ebenen des Körper-Gefühls immer noch bescheiden. Unter diesem Ungleichgewicht leiden vor allem die Künstlerinnen. Ein Umbruch ist indes im Gange. Wen wundert’s freilich, dass die ausgesprochen körperbezogenen Arbeiten von Josef Felix Müller der frühen 90er Jahre vor allem von Frauen sehr geschätzt werden? Ein neues Hören auf den Körper und ein waches Durchschauen seiner Strukturen bringt nicht nur empfindungsmässig, sondern auch intellektuell und nicht nur den Kunstschaffenden, sondern auch den Kunst Betrachtenden, neue, bereichernde Erlebnisqualität. Sie weist auf wacher Bewusstseinsstufe hin zu jener androgynen Gesellschaft, von der Meret Oppenheim schon 1975 sprach.

Anmerkung: Dieser Text wurde 1993 verfasst, berücksichtigt dementsprechend die Entwicklung seither nicht.