Bern zeigt Retrospektive Pierre Soulages 1999

Einer der Grossen des französischen Informel

www.annelisezwez.ch  Bis 08.08.1999

Als Geschenk zur bestandenen Matura, 1967, erhielt ich einen Bildband des Genfer Skira-Verlages mit dem Titel «Tendences actuelles» – eine 1963 erstmals erschienene Anthologie der sich nach dem Krieg vor allem in Frankreich und in Amerika entwickelnden «informellen» (das heisst lyrischen oder abstrakt-expressiven) Malerei. Die Skira-Bildbände waren damals die «Rollce Royce» unter den Kunstbüchern.

Unangefochtener Lieblingsmaler wurde aufgrund der Lektüre nicht etwa Jackson Pollock, sondern Pierre Soulages. Die mit breitesten Pinseln und schwarzer Farbe auf die weiss grundierte Leinwand gesetzten Bänder packten mich. Die dunkle Kraft, das weisse, zuweilen auch gelbe Licht, das kontrastreich von hinten nach vorne drang, spannten mir die Bauchmuskeln. Würde eine Begegnung mit den Werken 30 kunstbefrachtete Jahre später dasselbe auslösen? Mit dieser Frage fuhr ich zur Pressekonferenz der Retrospektive Pierre Soulages ins Kunstmuseum Bern.

Erster erlösender Augenschein: Die Bilder von damals sind da, grossformatig, majestätisch, die einen expressiver, die anderen verhaltener im Gestus. Und der Künstler, den ich nie zuvor gesehen hatte, er ist fast wie seine Bilder. Mit seinen 80 Jahren zwar auch ein wenig Erinnerung, doch immer noch ein grossgewachsener, vitaler, schöner, in und für die Kunst (gut) lebender Südfranzose. Dann wurde es (beinahe) dramatisch.

Nicht nur ich outete mich als «Alte Liebe», auch Bund-Kulturredaktor Fred Zaugg kam, sich erinnernd, ins Schwärmen. Ein Kritiker aus der Romandie steigerte: Ein Werk von Pierre Soulages sei der Auslöser für seine Scheidung gewesen. Als es darum gegangen sei, das Bild oder die Frau zu behalten, habe er dem frühen Soulages den Vorzug gegeben. Und der Künstler, selbst seit mehr als 50 Jahren glücklich verheiratet, ergänzt die Anekdoten-Reihe, indem er von der Trauer eines Sammlers erzählt, der von seiner Frau mitsamt einem Werk aus den 50er Jahren verlassen wurde.

Alles unwichtig. Und doch eindrückliches Zeugnis der emotionalen Kraft, welche die Körperlichkeit in vertikalen, horizontalen, diagonalen und kreisenden Duktus umsetzenden Bilder auszulösen vermochten. Das war schon damals so, als Pierre Soulages kurz nach Kriegsende nach Paris kam und im farbenfrohen Konzert der Pioniere des «Informel» den schwarzen Part übernahm. Ein Schwarz, getragen von Licht; Licht, zum Leuchten gebracht durch die Gitter des Schwarz.

In kurzer Zeit wurde Pierre Soulages weltbekannt; seine Werke wurden auf allen fünf Kontinenten in Museums-Einzelausstellungen gezeigt. Die Retrospektive im Kunstmuseum Bern ist die 49ste ihrer Art. Die 50ste wird nächstes Jahr im Museum of Modern Art in New York stattfinden. Die erste umfassende Museumsschau in der Schweiz fand 1960 im Kunsthaus Zürich statt.

Ist Erfolg ein Masstab für Qualität? Lösen die Bilder heute noch dasselbe aus wie damals? Und wie wirken sich die ab 1979 ins Zentrum rückenden, materialbetonten, leicht reliefartigen Schwarz-Bilder auf die Sicht aus? Der deutlich jüngere BZ-Redaktor Konrad Tobler sagte nach dem Presserundgang im Gespräch: «Für mich ist das alles ein bisschen leer». Mir fehlt die Objektivität, die Erinnerung ist nicht löschbar; ich liebe die frühen Bilder von Pierre Soulages noch immer. Wenn auch mit einem Anflug von Wehmut. Denn der geschulte Kunstblick erfordert tatsächlich differenziertes Schauen und Beurteilen.

Pierre Soulages ist der Inbegriff des erfolgsgewohnten, grossen Malerseigneurs französischer Prägung. Vor allem seine jüngeren, pastosen, schwarzen Bilder sind ohne Ecken und Kanten. In der Tiefe des «Schwarzen Lichtes», das im arabischen Raum für die Fülle des Kosmos steht, lotet er durch samtene Bewegung und feine Strukturierung der Oberfläche Helligkeits-Spiegelungen aus. Er verbindet dadurch Bild und Raum. Ein weiches Gefühl das Darinseins entsteht. Das ist nicht wenig, doch reicht ungebrochene «Schönheit» für die heutige Zeit?

Die frühen Soulages haben eine andere Dynamik. Bezogen auf die Nachkriegszeit sind sie Aufbruch, Bilder der Kraft, die Licht neu sehen wollen. Es sind auch die Bilder eines jungen Mannes voller Tatendrang. Sie kommen direkt aus dem Körper; sie sind nicht Abstraktion, sondern ungegenständlicher Ausdruck emotionaler Werte. Das ist neu für die damalige Zeit und das sichert Soulages mit Recht einen Platz in der Kunstgeschichte. Und er hatte, wenn auch spät, in einer Malerkrise den Mut, sein Erfolgsrezept über Bord zu werfen, um Neues zu suchen. Er fand dies auch, aber die unmittelbar existentielle Dimension ging dabei verloren. Die späten Soulages sind schön, gewichtig, aber zeitgeschichtlich nicht mehr relevant.