Wie man Zeitungsleser zu Kunstbetrachtern macht

Kunstprojekt des Bieler Tagblattes und des Journal du Jura: Abschluss und Rückblick

Dass eine Tageszeitung Ort für Experimente mit bildender Kunst sein kann, ist ungewohnt. Das Bieler Tagblatt und das Journal du Jura haben während fünf Monaten (Dezember 99 bis Mai 2000) die Probe aufs Exempel gemacht.

Wenn ein Verleger der bildenden Kunst zugetan ist, wundert es nicht, dass er sich mit Künstlerfreunden trifft, wenn es um den kreativen Akzent der Gestaltung eines Jubiläums geht. Wie kann „150 Jahre Bieler Tagblatt” künstlerisch umgesetzt werden, war die Frage, die sich Marc Gassmann und das Trio Urs Dickerhof, Pietro Travaglini und Martin Ziegelmüller anfangs 1999 bei einem guten Glas Wein stellten. Und die Antwort: Indem man Kunstschaffenden innerhalb eines Themas „carte blanche” für die Gestaltung von farbigen Zeitungs-Doppelseiten gibt, die inmitten von Nachrichten, Reportagen und Kommentaren erscheinen. Gedacht, getan: In der Sondernummer zum 150-Jahr-Jubiläum der W.Gassmann AG (Dezember 1999) wurde das wohl umfangreichste Kunstprojekt, das je eine Schweizer Tageszeitung lanciert hat, mit einem Paukenschlag gestartet. Ab 7. Januar 2000 wechselte die Platzierung der Panorama-Seiten in die BT – und parallel auch der Journal du Jura – Normalausgaben. Bis zum heutigen Datum erschienen im 14-Tage-Rhythmus insgesamt 12 farbige Kunst-Doppelseiten, gestaltet vom Trio Dickerhof/Travaglini/Ziegelmüller (je drei) sowie ihren Nachkommen – den Künstlerinnen Flavia Travaglini respektive Jocelyne Jeandupeux Dickerhof und dem Maler Wolfgang Zät (Ziegelmüller).

Das Konzept des Projektes war von Anfang an mehrschichtig angelegt. Zunächst ging es darum mit dem Thema „Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft”, das Travaglini später in „War Ist Wird” umbenannte, die Zeitspanne des 150-Jahr-Jubiläums in je drei Etappen zu reflektieren. Wie ist der Blick zurück, was prägt das Empfinden der Gegenwart und welches sind die Visionen nach vorne? Zum Zweiten ging es mit drei dazwischengeschobenen Panoramas unter dem Stichwort „Zeit“ das Fortschreiten an sich in Bilder zu fassen und zugleich die Parallele von Zeit und Generationen zu thematisieren. Und drittens sollte mit dem Projekt der Brauch der im Verlagshaus Gassmann hergestellten und gedruckten Lithographien von Künstlern der Region weiterentwickelt werden.

Dass praktisch gleichzeitig die auf jüngste Kunst ausgerichtete Ausstellung „Transfert” (10. Bieler Plastikausstellung) beim Zeitungshaus anklopfte, um über mögliche „Inserts” (eingeschobenen Kunst-Seiten) zu diskutieren, stellte das aus der Tradition gewachsene BT-Jubiläums-Projekt unverhofft in einen virulent zeitgenössischen Kontext. Die Kunst soll nicht im Elfenbeinturm der Insider verharren, sondern den unmittelbaren Kontakt mit den Menschen suchen. Was die jüngsten Kunstschaffenden bewegt, ist für Zeitungsmacher in der News-Verbreitung Normalität. So verbinden sich im Jubiläums-Projekt „War Ist Wird” schliesslich gestalterische und verlegerische Tradition, Aufbruch zu neuen Kunstvermittlungsformen und Zeitungsalltag.

Wie gingen die Kunstschaffenden ans Thema? Wie weit suchten sie die Wechselwirkung mit dem Publikationsort „Zeitung”? Martin Ziegelmüller hob Geschichten aus den Tiefen des Zeitungsarchivs und setzte dieText-Spalten in Bilder mit quakenden Fröschen, nächtlichen Scheinwerfern und apokalyptischen Ruinen. Pietro Travaglini schuf ein Kaleidskop zeichnerischer Miniaturen, die modellhaft die Entwicklung von Technik und Gesellschaft zeigen und zugleich in ornamentalen Natursigneten auf das stets Wiederkehrende verweisen. Urs Dickerhof collagierte Liebliches und Hässliches, Hinterhältiges und Lustvolles und ergänzte das Bildhafte mit wortgetragenen Denkflüssen. Zeitungsgeschichte und Weltgeschehen, das Menschliches und Prophetisches zwischen Hoffnung und Depression spiegeln sich in den neun Panorama-Seiten; gestalterisch anders und inhaltlich doch nicht so unähnlich dessen, was die Zeitung täglich tut. Vergleichbar auch mit der heute den Abschluss des Projektes markierenden Panoramaseite: Einer 12teiligen Gemeinschafts-Lithographie von Travaglini/Dickerhof/Ziegelmüller.

Es verwundert nicht, dass die stilistische Vielfalt der jüngeren Generation noch grösser ist als jene der Väter. Wolfang Zät kontrastiert die textorientierte Zeitung radikal mit nichts als Bild, reproduzierter Malerei, grossformatig, fliessend, farbbetont. Flavia Travaglini setzt dem auf Fotografie ausgerichteten Bildcharakter der Zeitung die Illustration, die Hand-Zeichnung entgegen und nimmt dabei sowohl technisch wie inhaltlich die Schnellebigkeit des Jouranlistenmetiers aufs Korn. Anders Jocelyne Jeandupeux, welche die abbildende Fotografie nutzt, doch in unzählichen Arbeitsgängen so verändert, dass sie vom Abbild zur emotionstragenden Vision wird.

Und die Leserschaft? Bemerkte sie, was sich da in ihrem „Leib-Blatt” abspielte? Erreichte das Projekt das Ziel, durch Irritation den Zeitfluss zu stoppen und einen Moment des Unerwarteten zu vermitteln? Ja und Nein. Schnellblätternde interpretierten das Fremde zuweilen mit nichtidentifzierbarer Werbung. Andere lösten die Seiten aus dem Blatt und legten sie auf die Stapel: „Nicht wegwerfen” oder „Genauer ansehen/lesen”. Die Schnellebigkeit der Zeit, die chronische Reizüberforderung vermochte auch das BT-Kunstprojekt nur partiell zu durchbrechen.