Gisela Kleinlein (D) Museum Allerheiligen Schaffhauen 2000

Den Formen die Grenzen nehmen

www.annelisezwez.ch    Annelise Zwez  in Schaffhauser Nachrichten August 2000

Es ist nicht neu, was Gisela Kleinlein (1955) als Kunstwerke im Museum Allerheiligen zeigt. Die Pioniere der materialbetonten Objektkunst entwickelten ihren Ansätze in den späten 60er Jahren; Louise Bourgeois, Eva Hesse, Bruce Naumann u.a. Aber es ist anders. Nicht Radikalität bestimmt die aus Materialien wie Dachpappe, Silikon, Papier oder Holz wachsenen Formen. Sondern verführerische Subtilität und Präzision. Welche die Augen ebenso reizt wie die Hände. Es ist zwar verboten, den weissen, auf einer Wandkonsole liegenden Körper oder gar die zur Endlosschlaufe genähten Kondome zu berühren. Doch wer sich ganz daran hält, hat nicht mit den Händen gesehen. Hat nicht Optisches und Taktiles zur Kunsterfahrung vereint.

Ein solcher Einstieg in einenText über Gisela Kleinlein wäre vor fünf Jahren noch nicht denkbar gewesen. Denn ihr Schaffen hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Das konstruktiv-geometrische Element, das die Arbeiten der 80er und frühen 90er Jahre aus Stahl, bemaltem Beton, eingefärbtem Holz, Polyester und anderen Werkstoffen mehrheitlich bestimmte, ist zurückgetreten zugunsten einer stärker organischen, körperlichen, naturhaften Formen- und Materialsprache. Ohne dabei freilich das mathematische Prinzip der Reihung, der Vervielfachung und der Überlappung aufzugeben. So verbinden sich in den neuen Arbeiten Wachstum und Struktur.

Und das Spielerische, das ihre Räder, Spiralen und Pendel auszeichnete, machte einer vermehrt empirisch-experimentellen Form- und Materialsuche Platz. Und an die Stelle der Farbe ist die Materialausstrahlung getreten. Allerdings auch hier ohne das Moment des „Malerischen” aufzugeben. Die sich auf dem Boden ausweitende Arbeit mit Hunderten von handgeschnittenen Ringen aus Dachpappe zeigt dieses doppelte Sowohl-als-auch sehr schön.

Da ist zunächst die schwarzbraun-halbweich-teergetränkte Dachpappe. Assoziationen zu ihrer industriellen Funktionalität als Isolationsmaterial bringt wenig. Doch ist da in der materialimmanenten Erdöl-Verknüpfung nicht der Baumstamm, der Jahrring und in ihnen die Natur, die Zeit, ihre Rythmen und Wandlungen? Nennt die Künstlerin ihre Ausstellung darum „Nocturne”? Das „Nächtliche” als Komplexität von Wandlungen jenseits des Greifbaren? „Nocturne” als künstlerisches Prinzip? Barbara Bongartz spricht in ihrem literarischen Essay im Begleitkatalog von Materialien, welche den Formen die Grenzen nehmen. Ein schöner Gedanke, der sich in der Ausstellung auch vom Einzelwerk auf die Gesamtinszenierung übertragen lässt.

Allzuviel Symbolik wäre indes eine einseitige Interpretation der Kunst von Gisela Kleinlein. Die Rhythmen, die sich in den zu drei und vier, einmal gar fünf überlappenden Stapeln von Ringen aus Dachpappe zeigen, sind auch die formbestimmende, abstrakte Organisationsstruktur des dreidimensionalen Bildes, das die Ringe einem malerischen Prinzip gleich auf den Boden ausbreiten (man denke zum Beispiel an die Informel-Bilder von Ernst Wilhelm Nay).

Dennoch ist es hier und bei anderen Arbeiten die Gleichzeitigkeit von Form, Rhythmus, Material und Assoziationsfeldern, welche die Spannung der Arbeiten zwischen Objekt, Skulptur und Malerei ausmacht. Und die Augen und Hände, Fantasie und Analyse zugleich aktiviert und zum Wechselspiel verleitet. Wie neu dies für das Schaffen von Gisela Kleinlein ist, zeigt eine der Wand vorgelagerte Arbeit aus schindelförmigen, rindenartig bearbeiteten und bemalten Holzelementen, die als einziges grösseres Werk in Richtung Geometrie und Architektur zurückweist.

Es muss nicht immer um „die letzten Dinge” gehen. Gerade in den jüngsten Arbeiten, aber auch in den zum Wand-Tableau komponierten Reliefs und Kästen im Vorraum des Museums, spielt Humor, Lust und Sinnlichkeit keine unwesentliche Rolle. Wer hat keinen Witz bereit, wenn er (oder sie) erkennt, dass der endlose Gummi-Schlauch, der sich in ästhetischen Schwüngen auf und ab bewegt, aus einer Vielzahl von zusammengenähten Kondomen besteht. Doch das Leibliche und Gesellschaftliche, das da anklingt ist übersetzt. Es geht in dieser Arbeit weder um Aids, Viagra oder Überbevölkerung. Gisela Kleinlein macht nicht Kunst der Jahrtausendwende, die mit den Dingen und den Praktiken der Realität Kunst schafft. Denn im künstlerischen Formprozess lässt sie die Zuordnungen fallen und schafft Kunst, die übergeordnet verstanden sein will und in traditionellem Sinn Werk-Charakter hat.

So gesehen ist Gisela Kleinlein, obwohl erst 45jährig, bereits eine klassische Künstlerin. Etwas, das auch für andere Kunstschaffende derselben Generation gilt, seien sie nun Maler/-innen oder Objektkünstler/-innen. Das macht ihre Positionierung in einer aktuell ausgesprochen multimedialen Kunstwelt nicht einfach. Doch Trends kommen und gehen und wer weiss, vielleicht setzt sich als Gegenpol zur Immaterialität der aktuellen Kunst bald schon die Verführung mit taktilen Reizen durch, die Vieles versprechen und davon nur ihr künstlich Sein halten. Und da hätte Gisela Kleinlein dann die Nase vorn; eine Arbeit wie die der lange, sandgefüllte, halb auf einem Aluminiumsockel liegende, halb hängende Doppel-Schlauch aus Kunststoffgewebe (Vorraum) hat doch gerade da seine Kraft; Sein und Schein und einen Schuss Erotik obendrein.