Le siècle du corps: 100-Jahr-Trilogie der Fotografie Musée de l’Elysée Lausanne 2000

Der Körper, der sich selbst Thema ist

www.annelisezwez.ch    Annelise Zwez in Aargauer Zeitung vom 17. Feb. 2000

 

Kein anderes Thema hat die Fotografie des 20. Jahrhunderts so geprägt wie der Körper. Eine Ausstellungs-Trilogie im Musée de l’Elysée in Lausanne – dem ältesten Fotomuseum der Schweiz – gibt der Sprache des Körpers im Blick der Kamera vielfältigsten Ausdruck.

Man kann das 20. Jahrhundert auf vielen Ebenen als die Epoche der Bewusstwerdung von Individualität charakterisieren. Die Ausstellung “Le siècle du corps – Photographies 1900 – 2000”, die in Lausanne als Trilogie von Fragment, Form und Fleisch gezeigt wird, macht eindrücklich sichtbar, wie reich die Fotografie diesen Prozess seit 100 Jahren spiegelt. Wie vielleicht gerade die Dominanz des Körperthemas in der Fotografie des Jahrhunderts mit dazu beigetragen hat, dass das Medium seit gut 10 Jahren eine in hohem Masse gesteigerte Beachtung findet.

Einer, der sich schon seit Jahren mit diesem Thema befasst, ist der seit drei Jahren amtierende Direktor des Fotomuseums Lausanne, der Kanadier William Ewing. Er publizierte 1994, 1997 und 1999 umfangreiche Bücher zu verschiedenen Aspekten des Themas, zuletzt “Amour & désir”. Die Lausanner Ausstellung wurde von ihm konzipiert, als Première aber bereits vergangenes Jahr im Kulturzentrum in Lissabon gezeigt; allerdings nicht als Trilogie, sondern in eine einzige Mammutschau mit mehr als 350 Fotografen gepfercht. Was kaum vorstellbar ist angesichts der Fülle, die allein schon der erste Teil umfasst.

Der erste Teil der Trilogie ist – etwas französisch-pathetisch – mit “Le Triomphe du fragment” überschrieben. Ein problematischer Titel, ist doch die Fragmentierung des Körpers durch den ausschnitthaften Blick der Kamera nur ein Ausstellungsaspekt unter vielen. Markant zum Beispiel im Kapitel “Wissenschaft”, welches das Eindringen der Linse in die Schichten des Körpers thematisiert, von Wiliam Morton erster Radiographie eines Foetus von drei Monaten im Jahre 1907 bis zu Dr. Gary Settles Farbenergien eines Sterbenen aus dem Jahr 1985.

Daraus zu schliessen, der Begriff “Fotograf” werde sehr stark ausgeweitet, ist allerdings falsch. Vertreten sind grossmehrheitlich Fotograf/-innen klassischen Zuschnitts vom Dokumentarischen bis zum Visionären. Der Begriff “Fragment” umfasst eher den Fazettenreichtum der Annährungsmöglichkeiten an die Darstellung des Körpers. Nicht weniger als neun Kapitel sind ausgesondert, die ohne chronologische Abfolge Themen wie den “Blick”, den “Schmerz”, das “Begehren”, die “Ikone”, die “Macht” fokussieren. Das tendenziell Ausufernde wird dadurch zusammengehalten, dass die Sprache des Bildes aus dem Körper selbst resultiert. Im Bereich der Macht etwa findet man nicht etwa reihenweise Porträts von Diktatoren, sondern unter anderem eine der frühesten, feministischen Fotos überhaupt: Carolee Schneemann (USA) fotografierte sich selbst 1963 nackt, liegend, mit zwei Plastilin-Schlangen auf dem Körper und dem Kopf in einer Art Schraubzwinge. Daneben auch eine der militanten Aufnahmen der österreichischen Feministin Valie Export, die sich mit offenem Scham-Dreieck und Pistole zeigt (1968). Hier wie dort geht es um Macht als eine neue, ich-bewusste Sicht auf dem weiblichen Körper.

Eindrucksvoll die Körper-Sprache auch im Kapitel “Ausdruck” – unter anderem dargestellt mit einer Aufnahme des einzigen (!) Schweizer Künstlers in der Ausstellung. Gérard Lüthi (geb. 1957) aus Moutier zeigt unter dem Titel “Le temps reconcilié” eine Ausschnittvergrösserung eines etwa dreijährigen, nackten Knaben, der sich an den Beinen seines Grossvaters hält (1989/90). Mit Licht/Schatten-Momenten dramatisiert, wird die glatte, helle Haut des Kindes und die von Adern durchfurchte Haut des Grossvaters zum Bildausdruck.

William Ewing geht die Thematik international an; viele europäisch-amerikanisch bekannte Fotografen und Fotografinnen sind vertreten – etwa Diane Arbus, Cindy Sherman, Umbo, Hans Bellmer, Bruce Nauman, Jack Close, Barbara Kruger, Larry Clark, Nan Goldin usw. Es berührt indes eigenartig, dass der Lausanner Kurator die Schweizer Fotoszene offenbar so schlecht kennt, dass er sie praktisch ausklammert.

Allerdings geht es nicht primär um Namen, manche thematischen Ikone stammt von einem völlig unbekannten Künstler – erwähnt sei zum Beispiel eine Werbeaufnahme für die Bedeutung des Sportes von 1908, die denselben jungen Mann “vorher” und “nachher” zeigt oder – wesentlich emotionaler – das Abbild einer verstorbenen, jungen Frau, deren Körper nach der Autopsie mit einer kreuzförmigen Naht wieder zugenäht wurde.

Erfreulich ist, dass Ewing die Bedeutung der Fotografinnen, analog jener ihrer männlichen Kollegen aufzeigt. Ob er dies bewusst wollte und mit dem fulminanten Einstieg in die Ausstellung darauf anspielt, bleibt indes offen. Da jedenfalls geht man durch einen von zwei vierteiligen Grossformaten gebildeten Korridor, der zur Linken vier Mannequins zeigt, die in selbstbewusstem Schritt neue Mode präsentieren und zur Rechten dieselben vier Frauen, im selben Schritt, diesmal aber nackt. Und der Titel der Arbeit von Helmut Newton von 1981: “Sie kommen…”.

Le siècle du corps, 1. Teil: “Le triomphe du fragment”. Bis 2. April. Ab 13. April, 2. Teil: “Der Triumph der Form” mit Schwergewicht bei der Aktfotografie. Ab 12. Oktober, 3. Teil: “Der Triumph des Fleisches” mit betont zeitgenössischem Akzent. Ein Katalog erscheint im Herbst 2000.