Malerei des 20. Jahrhunderts Aargauer Kunsthaus 2000

Augenweide, Sinnenfreude und Füllhorn

www.annelisezwez. ch   Annelise Zwez September 2000

Sie ist Augenweide, Sinnenfreude und Füllhorn : Das sich über drei Stockwerke ausbreitende „Gedächtnis der Malerei“ im Aargauer Kunsthaus in Aarau. Die Ausstellung hat internationales Gewicht.

Was hat Wassily Kandinksys „Herbstlandschaft“ (mit Berg) mit Ferdinand Hodlers „Niesen vom Heustrich aus“ zu tun? Was Meret Oppenheims „Blut des Gestirns“ mit Georgia O’Keefes „Blue, Black and White Abstraction“? Es sind zwei von unendlich vielen und oft überraschenden Begegnungen zwischen Malerei und Malerei, welche die sich über drei Stockwerke hinziehende Ausstellung zur Malerei des 20. Jahrhunderts im Aargauer Kunsthaus ausbreitet. Die beiden Kuratoren, der Aargauer Museumsdirektor Beat Wismer und die Zürcher Kunsthistorikerin Sibylle Omlin, haben ihren kunsttheoretischen Rucksack für einmal zur Seite gestellt und sind mit den Augen und der Nase durch die Malerei des Jahrhunderts gestreift; sinnenfreudig und lustbetont, zugleich aber auch überlegt. Die Ausstellung ist eine Liebeserklärung an die Malerei – von der Deutschen Katharina Grossen als riesiges, rotes Mal-Feuer auf die Wand im Foyer gesprayt.

Es ist nicht das erste Mal, dass das Aargauer Kunsthaus die Verführung als Leitpferd für eine Ausstellung mit Malerei einsetzt. Schon „Höhe X Breite x Farbe“ votierte 1989 für Kombinationen und Seherlebnisse abseits von Chronologie und Konzepten. Doch die neue Ausgabe ist unendlich viel grösser und überrascht durch eine internationale Breite, die ansonsten nur grosse Häuser zusammenzutragen vermögen. Die Liste der mit eindrücklichen – wenn auch nicht immer den allerwichtigsten – Werken vertretenen Künstler und Künstlerinnen ist beeindruckend: Sie reicht von Matisse über Cézanne bis Mondrian. Von Klee über die Giacomettis bis Pollock und Newman. Von Albers über Reinhardt bis Agnes Martin. Von Rothko über Kline bis Frank Stella. Von Appel und Jorn bis Lassnig und Bacon. Von Guston über Kirkeby bis Baselitz. Von Andy Warhol über Jessica Stockholder bis Urs Frei.

Nicht zuletzt durch die grosse Präsenz von Malerei in Privatsammlungen, durch das Interesse der führenden Galerien am Gespräch über (die immer noch am leichtesten und teueresten verkäufliche) Malerei, gelang es dem Aargauer Kunsthaus eine Vielzahl von Leihgaben aus Europa und den USA zusammenzutragen. Doch nicht allein darum: Durch bedeutende, internationale Ausstellungen wie „Karo Dame“, „Equilibre“ oder „Voglio vedere le mie montagne“ und durch Präsentationen der auf Schweizer Kunst spezialisierten Sammlung im Ausland, gelang es Beat Wismer, dem Aargauer Haus internationale Beachtung zu verschaffen. Was sich nun auszahlt.

Die meisten Maler sind nur mit ein bis zwei Werken vertreten; es geht nicht um Individualität, sondern um das „Gedächtnis der Malerei“. Das Gedankengebäude hinter der Ausstellung ist komplizierter als der Gang durch die Räume selbst. Gedächtnis respektive Erinnerung sei immer mit Wiederholung verbunden, schreiben Wismer und Omlin im 430 Seiten starken Lesebuch zur Ausstellung. Die Malerei sei darum ein sich aus Erinnerung und Wiederholung entwickelnder Prozess, der sich als Farbe und Gestus auf der Bildfläche manifestiere und in der Zeit immer neu überschrieben werde. Insbesondere die Künstler, die im Buch als Autoren auftreten, sehen das oft einfacher. Frank Stella etwa beschreibt sehr schön, wie er seinen Vorgängern zuerst durch Nachahmung auf die Schliche kommen musste, bis er seine eigenen Räume fand. Und beides ist wohl richtig: Das Unbewusste, das immer neues Bewusstsein generiert und das Fassen von Methodischem, um Neues zu entwickeln.

Die als Schauende durch die Räume Schreitenden machen nichts anderes als die Maler/-innen und die Ausstellungsmacher. Sie sehen und erinnern sich und aus der Kombination entsteht ihre (individuelle) Erfahrung. Wer Malerei liebt, wird sie über weite Strecken als überraschend, beglückend, köstlich empfinden. Etwa wenn die monochrom gelben Papiersäulen von Renée Levi plötzlich in die gelben Streifen des Zürcher Konkreten Richard Paul Lohse schlüpfen. Oder sich die Bergformationen von Kandinsky und Hodler plötzlich überlappen. Oder Maria Lassnigs wandernde Köpfe unverhofft in Francis Bacons gewundene Körper rollen. Oder der verhaltene Farbkanon Philip Gustons in Werken von Baselitz wiederauftaucht. Oder Lucio Fontanas Leinwandschnitte in die Vertikalen von Barnett Newman münden. Auch wenn der Funke nicht immer zündet, so ist die Ausstellung doch eine brillante Hommage an die Vielfalt der Malerei des 20. Jahrhunderts. Lautes wechselt mit Leisem, Ausuferndes mit Strukturiertem, Ungegenständliches mit Figürlichem, wobei allerdings das Abstrakte über weite Strecken dominiert.

Dennoch darf man die Gefahren nicht einfach übersehen. Die Ausstellung findet sehr stark auf den Bild-Oberflächen statt. Das Ping-Pong-Spiel bezieht sich primär auf Farben, Formen und Gesten. Der Schmerz, das Suchen, das Wollen, das Scheitern der Künstler und Künstlerinnen ist eingeebnet. Die Bilder werden Teil eines Meeres, in dem Individuelles ertrinkt. Das Sinnliche, Üppige, Schöne, auch das Stille und Ruhige stehen im Vordergrund. Die Kunst als Ganzes ist mehr.