Marianne Grunder Retrospektive Kunsthaus Langenthal 2000

Ikarus‘ Sturz oder Die neue Freiheit

www.annelisezwez.ch   Annelise Zwez in Bieler Tagblatt 11. August 2000

Marianne Grunders vielteilige Skulpturengruppe «Intérieur» ist einer der Höhepunkt der aktuellen Skulpturen-Ausstellungen im CentrePasquArt. Parallel dazu zeigt das Kunsthaus Langenthal nun das Schaffen der 74-jährigen Berner Bildhauerin im Überblick.

Das Überraschende an der Retrospektive des künstlerischen Schaffens von Marianne Grunder im Kunsthaus Langenthal ist die Grösse der Ausstellung, ihre Luftigkeit und ihre Vielfalt. Seit «Ikarus» 1986 in New York zu Boden ging, ist das bildhauerische Schaffen nurmehr ein Teil des künstlerischen Ausdrucks der heute 74-jährigen Berner Künstlerin. Zeichnungen – klein und grossformatig – Papierschnitte, Laserprints von Polaroid-Fotos stehen gleichwertig neben steinernen Skulpturen und Reliefs, Silhouetten aus Gips und Holz, zu Objekten arrangierten Fundstücken.

Irgendwann müsse man, so kommentiert die Künstlerin ihren «Ikarus», das Scheitern des Menschen akzeptieren. Die während Marianne Grunders erstem, längerem New-York-Aufenthalt entstandene Skulptur aus Abfallholz markiert eine Zäsur. Bildhauerisch ist der gebrochene Flügel eine Einzelarbeit, doch die Künstlerin gesellt ihm einen schwarzen, optisch schweren Ball zu (in der heutigen Form eine gedrechselte Kugel). In alle Richtungen rollen will sie ihn in Zukunft, nicht von Höhenflügen träumen. Sie ist 60 Jahre alt zu diesem Zeitpunkt, hat eine hart erkämpfte bildhauerische Karriere hinter sich und eine bedeutende Ausstellung im Kunstmuseum Bern
im Rucksack. Sie hat bewiesen, dass sie das männlich harte Material des Steins, das sie bis heute wie kein anderes liebt, beherrscht. Nun kann sie sich Freiheiten herausnehmen. Und sie hat die Kraft, es zu tun. Als eine, vielleicht nur im Alter mögliche «Leichtigkeit des Seins» vermittelt sie sich in der Ausstellung in Langenthal, selbst im Stein.

In der Salle Poma im CentrePasquArt, wo Marianne Grunder ihre bisher grösste, zusammenhängende Arbeit, das zwischen 1994 und 2000 entstandene «Intérieur», zeigt, ist diese innere Freiheit zu etwas Ganzem verdichtet. In Langenthal hingegen rollt der Ball. Da gibt es – mit wenigen, markanten Ausnahmen – kaum Werke, auf die man sich einzeln konzentrieren mag, immer gehört das nächste auch dazu. Besonders deutlich in den Zeichnungen. Es sind Steinbildhauer-Zeichnungen. Aber weniger in Bezug auf mögliche Aussenformen, als vielmehr innerer Strukturen.

Die vielfach mit breit zeichnender Kohle gezogenen, bänderartigen Lineaturen erinnern zugleich an die mineralischen Adern von Steinen wie an die Spuren, die sich beim Arbeiten mit dem Meissel ergeben und die Marianne Grunder in ihren Steinskulpturen vielfach ganz bewusst belässt. Fächer-, flügel-, rippenartige Rhythmen werden sichtbar, die zugleich – in einem unendlich anderen Tempo – an die Schichtungsprozesse der Erde erinnern.

Es sind keine «fertigen» Zeichnungen, sondern Momente aus einem Prozess – vergleichbar mit den vielfältigen Zuständen einer in langer Arbeit Gestalt annehmenden Skulptur. So sind die Zeichnungen zugleich autonom und stehen doch in Wechselwirkung mit der langjährigen Prägung der Steinbildhauerin. Sie verdeutlichen auch, was der rote Faden ist, der Marianne Grunders Werk durch all seine Verwandlungen hindurch zusammenhält.

Eigentlich zeigt sich das Essentielle schon in der Plastik von 1962, die zurzeit als fotografisches Dokument im Rückblick auf die Bieler Plastikausstellungen im PasquArt zu sehen ist. Es ist der Blick aufs Detail, der Kleines akzentuiert und dann, je nach Format, durch Multiplikation wieder vergrössert. Man könnte auch sagen, es sei der Blick ins Innere von etwas, das anschliessend wieder zur äusseren Form wird.

Damals in den 60er-Jahren betrieb sie das mit höchster Ernsthaftigkeit. Es entstanden Körper zwischen Figur und Geometrie, wie sie typisch für die Zeit waren. Heute geht sie mit ihrer Polaroid-Kamera durch New Yorks Strassen
und sieht lauter «Skulpturen» – kleine Architekturvorsprünge im Licht zum Beispiel. Man kann die Orte nicht lokalisieren – es geht um körperhafte Formen, die sich plötzlich aus der Umgebung lösen und zur «Kunst» werden. In Langenthal zeigt sie solche und andere Aufnahmen als Laserprints – stets in Reihen und oft thematisch gruppiert: «Verwandlung», «Tod» können Titel sein. Sie weisen auf tiefere Schichten im Denken der Künstlerin; nicht zufällig bezieht sie sich immer wieder auf Kafka.

Möglicherweise geht sie aber auch durch ihren Garten in Rubigen und sieht plötzlich einen eigentümlichen Zweig, der durch seine Form zur «Zeichnung», zum «Objekt» wird. In Vitrinen paart sie solche Fundstücke mit skulpturalen Miniaturen. Geradezu symbolisch kommen da ein im Depot entdeckter, stilistisch weit zurückzudatierender «Stierkämpfer» und zwei «Fussballspieler» aus Kastanienzweigen zusammen. Ist nicht auch Marianne Grunder von der Kämpferin zur Spielerin geworden?

In den allerneuesten, Gipsplatten verformenden Arbeiten, kommt die Figur – die als Körper schon immer Bedeutung hatte – neu ins Spiel; als «Mantel»-Skulptur zum Beispiel oder als «Langer Arm». Die intensive
Beschäftigung mit der Zeichnung ist darin spürbar. Noch ist indes unsicher, ob der surreale Aspekt, der anklingt, nicht vom Wesentlichen, der Form und der Kraft, ablenkt. So bleibt die emotionale Beziehung zu dem in Stein gehauenen «Mantel», der näher bei den Arbeiten in Biel ist, vorläufig noch deutlich intensiver.

Der Katalog ist in Biel und Langenthal erhältlich (Fr. 50.-).