Mit 1400 Werken durch die Kunst des 20. Jahrhunderts

Centre Pompidou in Paris nach 27 Monaten Umbauzeit wiedereröffnet. 2000

www.annelisezwez.ch  Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 19. Januar 1999

Paris hat nach 27 Monaten Renovation und Umbau „sein“ Centre Pompidou wieder. 44 Millionen Schweizerfranken kostete die Erneuerung des 1977 eröffneten Röhrenbaus von Renzo Piano. Gut hat der italienische Stararchitekt seine Pläne für das neue Klee-Museum in Bern bereits zum Wohlgefallen aller präsentiert. Denn ob alt oder renoviert &shyp; das den Boom umfunktionierter Industriebauten künstlich vorwegnehmende Centre Pompidou ist auch heute noch ein städtebaulicher Fremdkörper im Zentrum der Stadt. Das freilich vergisst man, sobald man im Innern ist. Riesig und luftig ist das neugestaltete Parterre; es ist funktioneller Knotenpunkt der Vielfalt des Hauses, das &shyp; die Zeichen der Zeit wahrnehmend &shyp; interdisziplinäre Forschungsstätte für Kunst, Architektur, Design, Film und Musik des 20. Jahrhunderts ist.

Die grundlegendste Erneuerung des Centre betrifft das Nationalmuseum für moderne und zeitgenössische Kunst, das MNAM/CCI. Dank der Auslagerung der Verwaltung verfügt es neu über 14’000 m2 Fläche; das sind 4’500 m2 mehr als zuvor. Auf zwei integralen Stockwerken kann so die gesamte Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts in einem einzigen Parcours gezeigt werden. Das Museum sieht sich &shyp; typisch französischen Ambitionen folgend &shyp; damit als europäisches Gegenstück zum amerikanischen Museum of Modern Art in New York. 1’400 kleine und grosse Werke (aus einem Gesamtfundus von 44’000 Arbeiten) spannen den Bogen von Douanier Rousseaus „La guerre“ von 1894 bis Douglas Gordons überraschend subtilem Video Feature des Dirigenten James Colon (1998). Welch ein Jahrhundert!

Schon seit 1992 sucht das 1947 als zeitgeschichtliche Fortsetzung des Louvre gegründete MNAM/CCI die Verbindung von Kunst, Architektur und Design als drei parallele Gestaltungsrichtungen des Jahrhunderts. In der Neukonzeption des Museums durch Werner Spies, den aktuellen Direktor des Centre, ist dieser Strang – noch weitergehend als im MOMA in New York – ab den 30er Jahren als Gleichzeitigkeit konzipiert. Das heisst die Besucher werden im netzartigen Ablauf der Räume stationenweise durch die Entwicklungen in Malerei, Skulptur, Architektur, Möbel- und später auch Gegenstandsdesign geführt. Noch ist das ungewohnt und man empfindet es als Wechselbad. Vielleicht hat Paris auch die richtige Form dafür nicht gefunden. Doch die Ängste der bildenden Künstler, sie könnten dadurch vom Sockel ihrer Ausserordentlichkeit gestossen werden, sind wohl unbegründet – eher werden die Architekten und Designer auf den Piédestal gehoben. Der Markt will nicht Abwertung, sondern Aufwertung!

In gewissem Sinn paradox ist, dass die naheliegendsten Verknüpfungen zwischen Architektur und Kunst, der Bereich des Konstruktiven von der russischen Avantgarde der 10er Jahre über die Konkreten der 30er zur Minimal Art Generation der 60er Jahre, gerade in Frankreich nicht sehr beliebt ist und somit der am schwächsten ausgebildete Strang innerhalb des gezeigten Parcours von Kubismus bis Multimedia. Wie anders wäre hier doch derselbe Ansatz in einem analogen Museum in der Schweiz, sei es in Zürich oder in Genf. Paris reicht, um die Schweizer Konkreten darzustellen, ein einziger Max Bill und für die amerikanische Minimal Art ein einziger Frank Stella.

Nun wären allerdings zwei Schlussfolgerungen falsch, nämlich, dass es die Schweiz in Paris nicht gibt und dass die Optik des Museums einseitig französisch wäre. Gleich zu Beginn wird man fast ein bisschen chauvinistisch, denn den Einstieg in den Zeitenlauf markiert eine wandfüllende, bewegliche Räderskulptur von Jean Tinguely. Und gleich danach steht man vor Ben Vautiers „Kunst-Kiosk“, der gleichsam auf spielerische Weise die Reflektionen zur Kunst des 20. Jahrhunderts spiegelt: „Je signe tout“, „je suis l’art“ steht da etwa in der typischen Ben-Schrift. An der Aussenwand findet man aber auch ein geradezu symbolisches Bekenntnis: „En 1958“, schreibt Ben, „j’ai le choc Duchamp, alors pour moi, la peinture est finie, tout est l’art. Je ne pouvais plus rien jeter, une allumette était aussi belle que la jocande, il fallait donc tout garder“. Zur selben Generation von nachhaltig vertretenen Schweizer Künstlern zählen auch Daniel Spoerri und Niele Toroni.

Zu den am reichsten gezeigten Künstlern in der Ausstellung überhaupt gehört Alberto Giacometti, dessen Werk repräsentativ gezeigt wird, das heisst von der surrealistischen Phase &shyp; ein Chef d’oeuvre unter anderem die wenig bekannte „Table“ von 1933 &shyp; bis zu den langen, dünnen Stelenfiguren und den nervigen Porträts, eines Jean Genet zum Beispiel. Nur am Rand sei in Erinnerung gerufen, dass alle fünf erwähnten Schweizer Künstler ihre Hauptwerke in Frankreich geschaffen haben….der Pariser Blick auf die Schweiz ist somit ein durch und durch französischer.

Dasselbe gilt natürlich auch für Spanien &shyp; wen wundert’s, dass zu den Leitfiguren der Ausstellung die beiden Spanier Pablo Picasso und Juan Mirò gehören. Interessant ist jedoch, dass in diesem einzigartigen Blick zurück auf das Jahrhundert die Bilder Picassos nie langweilig werden, dass sich immer wieder neue Bezüge – auch zur aktuellen Kunst – einstellen, während Miròs luftige Tänze seltsam „ausgeschaut“ wirken. Auch vom grossen Franzosen Henri Matisse haben eigentlich nur die frühen Arbeiten und die späten „Papiers découpés“ noch heute magnetische Kraft.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Ausstellung zu durchwandern – wobei für die „Wanderung“ am besten zwei Tage vorgesehen werden. Entweder man sieht sie als Schule der Stile &shyp; Kubismus, Expressionismus, Futurismus, Konstruktivismus, Surrealismus, Informel, Nouveau Réalisme, Pop Art, Konzept Art, Minimal Art, Land Art usw. &shyp; oder man kennt die Entwicklung in grossen Zügen und sucht nach dem Ueberraschenden, den Highlights, die der Ausstellung ihr ortsspezifisches Gesicht geben. Zweiteres ist ergiebiger und spannender.

Vorerst jedoch ein Wort zur Unterteilung der beiden Stockwerke in einen historischen und einen zeitgenössischen Teil. Die Trennlinie bildet die Zeit um 1960. Zwei Momente charakterisieren den Wechsel. Zum einen kann bis zum Informel von einer mehr oder weniger linearen Abfolge von Stilen gesprochen werden, die, mit Ausnahme von Expressionismus und Konstruktivismus, sehr stark parisbezogen sind. Spätestens um 1960 verliert jedoch die französische Metropole ihre Zentrumsfunktion. Die USA werden, nicht zuletzt dank der europäischen Emigranten, zur führenden Kunst-Nation. Grossmeister Duchamp zum Beispiel hat sein Hauptwerk in Frankreich geschaffen, die vermittelnde Theorie dazu ging aber von New York aus um die Welt. Erst in den 80er Jahren gelingt es Europa – insbesondere Deutschland und Italien – das Sagen zurückzuholen, um es aber gleich wieder an den heute dominanten Internationalismus zu verlieren. Nicht zuletzt dank zahlreicher Neuankäufe unter der Aegide von Werner Spies (er hat in Bern in den 80er Jahren die grossen Max Ernst- und Andy Warhol-Ausstellungen kuratiert) spiegelt dies das Museum in seiner Neukonzeption heute deutlich. Es wiederlegt aber auch die etwas hochnäsige Behauptung, Frankreich habe in der jüngeren Kunst nichts zu bestellen. Als Beispiel sei die neue Installation von Annette Messager aus den Jahren 1971/72 erwähnt, die eindrücklich aufzeigt, dass der feministische Aufbruch der Künstlerinnen zu selbstbewusstem Schaffen auch in Frankreich ihre Pionierinnen hatte. Messagers „Les pensionnaires“ zeigt in einer ebenso poetischen wie sadistischen Arbeit das Innenleben eines Mädchenpensionats anhand von Rollenmustern, typisiert mit den Federkleidern einer Vielzahl von Vögeln.

In der Reflektion fällt eines mehrfach auf: Die Highlights der Ausstellung sind immer wieder Werke mit vielschichtig-erzählerischem Charakter. Es ist als würde die blumige Debattierfreude der Franzosen auch in der bildenden Kunst zum „richtigen“ Kauf führen. Als Beispiel sei ein Hauptwerk Salvador Dalis aus dem Jahre 1931 erwähnt, das als „partielle Halluzination“ eines jungen Don Juan-Pianisten sechs leuchtende Leninköpfe auf den Tasten eines Flügels zeigt, während sich auf dem Notenblatt kleine, schwarze Ameisen tummeln. Typisch auch, dass unter den Amerikanern die zur Monochromie tendierenden, wie etwa Robert Ryman oder Agnes Martin, praktisch fehlen und auch Mark Rothko nicht mit seinen besten Werken auftritt, ein Edward Kienholz mit seinen realistischen Pop Art-Containern von Bars und anderen Lebensräumen aber gewichtigen Raum einnimmt. Highlight der „surrealistischen Pop Art“ ist aber &shyp; im selben Kontext &shyp; ein „Living Room“ der in Europa viel zu wenig bekannten, zweiten Lebensgefährtin von Max Ernst, Dorothea Tanning. In ihrem 1 : 1 eingerichteten „Hotel Zimmer Nr. 202“ von 1970, in dem weibliche Soft Sculpture-Figuren aus den Möbeln wachsen und in die Wände eindringen, kann als ironische Parallele zu den existentiellen Figurenszenen in der Malerei von Francis Bacon gesehen werden.

Der heutigen Bedeutung der Fotografie in der Kunst wird in Paris Rechnung getragen, wenn auch die Integration vorläufig noch etwas gekünstelt wirkt. Dennoch: Die Reihe der unmittelbar und emotional inszenierten Porträts von Diane Airbus, die für viele jüngeren Fotoschaffende (u.a. Nan Goldin) Vorbildcharakter haben, ist ein sehr schönes Dokument aus den 70er Jahren. Die Reihe setzt sich fort mit den bekanntesten Namen wie Jeff Wall, Andreas Gursky, Thomas Ruff usw. Schön käme hier bei Gelegenheit eine Hauptwerk der in Paris wohnhaft gewesenen Schweizer Foto-Kunstschaffenden Hannah Villiger hinzu, doch der Körper inklusive Sexualität ist als Motiv nicht das, was die Franzosen primär mögen; darum werden sie es wohl bleiben lassen.

Und vieles mehr
Der sechste Stock des Centre Pompidou ist Wechselausstellungen vorbehalten. Und was für welchen! Noch bis Ende Februar ist daselbst „La jour de fête“ zu sehen – eine über weite Strecken lustvolle, oft ironisch angeheizte 90er-Jahr-Kunst-Ausstellung, die deutlich macht, dass es auch in Frankreich eine lebendige Multimedia-Szene gibt. Mit dabei Philippe Ramette, dessen Sockel mit leerer Kupfertafel auf der Rondelle vor dem Volkshaus in Biel schon vor einiger Zeit den Startschuss zu „Transfert“, der 10. Bieler Plastikausstellung gab. Und mit dabei auch Philippe Mayaux; unter anderem mit dem Vorhangbild „Non, pas comme ça“, das 1995 der „heissen“ Ausstellung im CAN in Neuenburg den Titel gab. Von ganz besonderer Rafinesse, die humorvolle Video-Multimedia-Arbeit von Pierrick Sorin, welche die Nöte einer Video-Figur zeigt, die mit der Hardware der Realität zu kommunizieren versucht.
Wesentlich anspruchsvoller und umfassender ist die zweite Wechselausstellung: „Le Temps, vite“ ( bis 17. April). In einem 35’000 Jahre umspannenden Bogen wird das Thema der Zeit in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft abgehandelt. Mit grossartigen Objekten, präzisen Werken und einer wissenschaftlichen Sorgfalt, die ihresgleichen sucht. Selbstverständlich spielen auch Biel und Grenchen darin eine Rolle. Im Kapitel „Zeitmessung“ ist die erste elektronische Uhr fürs Handgelenk, die „Accutron“ der Bieler Firma Bulova sehen und dann die flachste Handgelenk-Uhr, von Omega, und natürlich die erste Swatch, hergestellt in der ETA SA in Grenchen. Die Spektrum ist enorm – die Sterne werden befragt, nach der Arbeitszeit, der Freizeit, der Klang-Zeit, der Transport-Zeit gefragt usw. Und das alles, obwohl das Thema nach dem Milleniumswechsel quasi ausgereizt scheint, spannend von A bis Z, industriell ebenso wie künstlerisch, sei es bildend, musikalisch oder literarisch (ein Schauspieler liest Marcel Prousts “ A la recherche du temps perdu“ integral). Spannend ist die Ausstellung übrigens auch für Ausstellungsmacher. Denn mit einem zwar viel zu eng geratenen, aber nichtsdestotrotz raffinierten Zellenbau aus halbtransprentem Kunststoff und einer ausgeklügelten Lichtführung gelingt den Veranstaltern eine Inszenierung, die sowohl die Präsentation von Bilder, Zeichnungen und Objekten ermöglicht wie die Projektion von Videos ohne spezielle „Black Boxes“.

Daten und Fakten
Das Centre Pompidou ist täglich, ausser Dienstag, von 11 bis 21 Uhr geöffnet.
Ein reiches Veranstaltungsangebot mit Musik, Film, Theater, Vorträgen etc. ergänzt die Museumspräsentation.