Der dem Sadismus den Namen gab

Kunsthaus Zürich: Marquis de Sade und die Surrealisten. Bis 03.03.2002

Die Surrealisten feierten Marquis de Sade als freien Geist. Die Sexualpathologen machten ihm zum Vater des Sadismus. Das Kunsthaus Zürich sieht seine Briefe aus dem Kerker als Kunstwerke.

Die Sadologen bekamen weiche Knie als am Vorabend der Vernissage die Post aus der Bibliothèque de l’Arsenal in Paris im Kunsthaus Zürich eintraf: Marquis de Sades Briefe aus der 27-jährigen Kerkerzeit (1777/89, 1793/95, 1801/14). Erstmals können sie die Originale des Verruchten und Verehrten, des tausendfach Zitierten und Uminterpretierten öffentlich ausstellen.

Es sind bis auf den letzten Quadratzentimeter kreuz und quer beschriebene Briefpapiere, oft durch die Zensur unleserlich gemacht oder geschwärzt vom Versuch die unsichtbare Zitronen-Schrift lesbar zu machen. Mikrogramme erotisch-phantastischen Inhalts, lästernd, klagend, mit Onanierlisten, mit Codes zur Verschlüsselung und kabbalistischen Zahlenreihen. Vielfach nur zwischen die Zeilen eingegangener Briefe geschrieben, da ihm die Gefängnisverwaltung Schreibuntensilien verweigerte. Marquis de Sade ist Inbegriff des Bösen, der erotischen Perversion und Gewalt, der Anarchie, der Gotteslästerung im Umfeld der französischen Revolution. Zusammengefasst in dem mit Gravüren illustrierten Roman von „Justine und Juliette“ (1797), eine „Wortorgie, bei der die Sinnlichkeit des Klangs mit dem verdrängten Sinn des Lebens verkuppelt wird“. Obwohl verbrannt, verboten, beschlagnahmt und eingestampft, blieben der Roman und viele andere Schriften und Pamphlete de Sades im Untergrund erhalten und wurden in der Literatur wie der Kunst immer wieder aufgegriffen.

Es waren indes die Surrealisten um André Breton, welche Sade in den 1920er Jahren als revolutionären Geist unbegrenzter Freiheit und absoluter Anarchie laut und deutlich auf ihre Fahne schrieben. „Der Marquis de Sade ist zurückgekehrt mitten in die Eruption des Vulkans, aus dem er kam.“ Dennoch blieben die Schriften Sades bis in die 50er Jahre in vielen Ländern verboten. Es gehört mit zum Verdienst der jungen Zürcher Sadologen Stefan Zweifel und Michael Pfister, die seit 10 Jahren an einer Neuübersetzung arbeiten, das Werk des Pornosophen von seiner Wortwörtlichkeit zu lösen und als persönlich und politisch unter Extrem-Verhältnissen entstandenes phantastisches Konstrukt und somit als Kunst zu betrachten: „Das Geniale an Sade auf das Genitale zu beschränken, hiesse den Marquis am Schwanz aufzuzäumen.“

Auf dieser Basis entstand das von Tobias Bezzola betreute Projekt „Sade – surreal“, ein Crossoverprojekt zwischen Literatur, bildender Kunst und Film, welches das Kunsthaus Zürich im abgedunkelten Hodlersaal und den angrenzenden Räumen zeigt. Die Idee, Zitate und Gravüren von Sade sowie Interpretationen von Breton über Proust bis Appollinaire über eine skulpturale Film-Maschine (Johannes Gfeller) auf ein Licht-Medaillon zu projizieren, macht den Hodlersaal zusammen mit der samtenen Vitrine für die Originale zum Kraftort der Ausstellung. Im Vergleich wirken die Säle mit zeitgleich zu Sade respektive sich auf Sade beziehenden Bilddarstellungen bis und mit Surrealismus über weite Strecken als „Zugemüse“. Dennoch: Weder Sades Texte als Kunst betrachten noch deren einseitig erotomanische Bildinterpretationen abschreiten, befreit die Ausstellung von ihrer starken emotionalen Wirkung. Anders ausgedrückt: Der erste Eindruck fährt, der heutigen Öffentlichkeit von Pornographie zum Trotz, in die eigene Libido, was insbesondere für Frauen aufwühlend sein kann, sind sie doch – man weiss es – über weite Strecken die Subjekte der Begierde respektive der Gewalt. Der Hinweis, dass die Ausstellung nicht jugendfrei sei, ist für einmal von zwingender Richtigkeit.

Erst die zweite Runde nach dem Pausen-Kaffee vermag die mannigfaltigen Zwischentöne, die übertragenen Bedeutungen wirklich aufzuzeigen: Einerseits die Abhängigkeit von Opfer und Henker, die Spiegelbildlichkeit pervertierter Sexualität für äussere Gewalt und Unterdrückung. Andererseits die sprachliche Befreiungskraft in der gewaltigen Kaskade an Wort-Bildern Marquis de Sades, die Anarchie, Gewalt und Sexualität zelebrieren , letztlich aber die eigene Zerstörung meinen. Und darin durch die Bilder hindurch ihre Geschlechtlichkeit verlieren, die expliziten Bekenntnisse Sades zur Freiheit der Frau zumindest wahrnehmbar machen.

Dass das nicht einfach ist, hat seinen Grund einerseits darin, dass Sade nicht nur aufgrund von Schriften und Intrigen, sondern auch real begangener Vergewaltigungen im Gefängnis sass. Das kann man auch mit dem Verweis auf die Allgegenwart der Pornographie im Frankreich des 18. Jahrhunderts nicht einfach vom Tisch wischen. Andererseits ist da die Interpretation Sades durch die Surrealisten, die seine Anti-Thesen als „Lava eines feuerspeienden Vulkans“ nutzten, um die bürgerliche Moral zu schockieren und die eigenen Sexual-Fantasien aufzuladen. So entsteht in der Ausstellung das Paradox, dass die Werke der Surrealisten – gewählt nach dem Kriterium ihrer expliziten Nähe zu Sade – zum Teil qualitativ abfallen und überdies frauenfeindlicher wirken als Sade selbst, weil ihnen die existenzielle Dimension fehlt. Hans Bellmer und Max Ernst seien als Beispiele genannt. Andererseits sind da auch Werke, die bezüglich Umsetzung so reich sind, dass Neues entsteht; bei Pierre Klossowski, bei Salvador Dali, bei Alberto Giacometti zum Beispiel.

Die Ausstellung vermeidet Bezüge zur Gegenwart, verweist einzig mit einer Fotoserie von Jean-Jacques Lebel aus den 60er Jahren auf den Wandel von Surrealismus zu Aktionismus und Performance. Sie vermeidet insbesondere auch Brückenschläge zur politischen Gegenwart – etwa Vergleiche von Sade und Osama bin Laden. Sie stellt sich damit in gewissem Sinn in den Elfenbeinturm, was vielleicht ein wenig einfach ist, doch persönliches Weiterdenken ist selbstverständlich erlaubt.

Der sorgfältig und reich gestaltete, auch unabhängig von der Ausstellung lesbare Buch-Katalog kostet im Museum 59 Franken.