Expo02-Arteplage Murten: „Un ange passe“. 2002

Augenblick und Ewigkeit in sechs Kapiteln

„Un ange passe“ ist eines der erstaunlichsten Projekte der Expo.02. Thematisch, architektonisch, gestalterisch und organisatorisch. Ein Glücksfall und eine Herausforderung. Und keinesfalls einfach.

Die sechs rostfarbenen Kapellen am Ufer des Murtensees, die „Un ange passe“ beherbergen, gehören zu den gestalterisch wichtigen Elementen der Arteplage von Jean Nouvel. Ihre Materialität, ihre Rundformen, ihre Proportionen und der Rhythmus ihrer Platzierung stehen in direkter Wechselwirkung mit den Kanten und Ecken des Monolithen. Sie bilden Akzente an der Grenze von Wasser und Erde und weiten gleichzeitig den Blick zum See, zum Hügelzug des Mont Vully und den Wolken am Himmel. Die Thematik des Projektes zwischen Schöpfung, Wunder und Weltreligionen wird von Architektur und Kulisse getragen, noch bevor es um die gestalterischen Inhalte im einzelnen geht. Das mag mit ein Grund sein, dass die Expo.02-Leitung das Projekt in seiner entscheidenden Phase nicht strich, sondern massgebliche Gelder aus dem expointernen Budget beisteuerte. Konkret: 3.5 Millionen Franken, die bis heute nicht nur Sponsorengelder gedeckt sind.

„Un ange passe“ gilt in Expobeschrieben als Kirchenprojekt und wird organisatorisch vom Verein „Schweizer Kirchen an der Expo 2002“ getragen, dem sowohl die Landeskirchen wie viele freie, christliche Kirchengemeinschaften von den Methodisten bis zur Serbisch-Orthodoxen Kirche angehören. Dieses Zusammengehen ist allein schon erstaunlich. Und im Verbund mit den unkonventionellen, offenen, zeitgenössischen und in keiner Weise missionarischen Inszenierungen der „Sieben Räume des Glaubens“ durch namhafte Künstler/-innen aus der Schweiz und dem internationalen Raum doppelt. Allein, dahinter stehen nicht nur Aufbruch und Wille zur Öffnung, sondern auch handfeste Verhandlungen. Bekanntlich scheiterte der 1996 gegründete Verein mit seiner Projekteingabe für die Expo.01 und musste erkennen, dass es beim Coup der ersten Expo-Leitung die Kirchen mit dem Projekt „Un ange passe“ des Genfer Theologen und Publizisten Gabriel de Montmollin zu verbandeln um Sein oder Nichtsein ging.

Der mutige Schritt beider Seiten – der institutionellen und der frei spirituell denkenden Montmollins – erweist sich im Rückblick als Packen und Verwirklichen einer Chance. Im Verbund mit den Dritten, den Gestaltern der Expo.02. Denn eine Expo-Leitung, die an ein Gesamtbudget für Bau, Entourage und Projektrealisierung von 4.5 Mio Franken einen Beitrag von 3.5 Mio bezahlt, will auch mitreden. Und sie tat dies insbesondere in der Wahl der Künstler/-innen. Wenn man hört, dass im Wahlgremium unter anderem Jacqueline Burckhardt (Präsidentin der Eidgenössischen Kunstkommission) und Juri Steiner (vor der Leitung der Arteplage Jura am Kunsthaus Zürich) mitdachten und –jurierten, wundert es nicht länger, dass es dem Projekt gelang, Kunst und Kirche in einen neuartigen, überraschenden und geglückten, aber keineswegs einfachen und in Kirchenkreisen sichern nicht leicht zu verteidigenden Dialog zu bringen.

Vom ursprünglichen Projekt von Gabriel de Montmollin hielt sich vor allem die Grundthese, wonach die Existenz Gottes ist bevor der Mensch da ist und nach ihr fragt. Vor diesem allumfassenden Satz breiten sich die Themen der sechs Cabanes aus: „Creation“, „Segen“, „Wort“, „Relations“, „Wer bist du für Gott“, „Au-delà“ und „Mystère“. Bespielt von Robert Wilson (New York), Roland Herzog (Zürich), Anton Egloff (Luzern), Susann Walder (Zürich) und Anish Kapoor (New Dehli/ London) sowie dem Umfragebüro Hiestand & Partner („Wer bist du für Gott“).Die fünf Kunstschaffenden zeigen eindrücklich auf, dass die weit verbreitete Ablehnung der Kirche gegenüber der zeitgenössischen Kunst ein Missverständnis ist, dass Spiritualität, Nachdenken über Gott und die Welt, die Schöpfung und das Wunder des Seins wichtige Themen der aktuellen Kunst sind. Wenn auch in einer nicht an religiösen Traditionen, sondern an der Vielfalt der Gegenwartskunst Mass nehmenden Bildsprache.

Der hochkarätigste Namen unter den sechs Beteiligten ist der 61jährige, sowohl auf den Opern- wie den Kunstbühnen der Welt bekannte Robert Wilson. Der zur Zeit am Opernhaus Zürich Wagner Inszenierende ging für seine zwei Kapellen von der in der christlichen Ethik enthaltenen Umkehrung der Werte aus. „Mystère“ ist für ihn dementsprechend nicht etwas Spektakuläres, sondern eine kleine, unscheinbare, graue Figur, die einem Pendel gleich kopfüber im Zentrum des Raumes hängt und als Vision auf eine Geisteswelt hinweist, die andere Werte hochhält als Grösse und Macht.

Eilige werfen ein Blick in den Raum, zucken mit den Achseln und gehen wieder ohne den „Engel“ zu bemerken, der die Zeit anhält und einen Gedanken lang den Alltag aus den Angeln hebt, wie es das französische Sprachbild „Un ange passe“ ausdrückt. Wer verweilt fühlt, vielleicht, Nähe. Für die Cabane „Creation“ am andern Ende der Seepromenade wählte Wilson ein wesentlich lauteres Bild: Eine Gruppe von leuchtend gelb bemalten Holzeseln (von Brienzern geschnitzt!), die – scheinbar – laut schreien. Sie stehen auf einer gläsernen Bühne über dem offenen Wasser und hinter einem Fenster, unzugänglich. Der unscheinbarste Zeuge der Geburt Christi ist in den Mittelpunkt gerückt. Stellvertretend für alles Kreatürliche schreit er, fleht er – um Liebe, um Erlösung, vielleicht.

Die beiden Kapellen verraten den bildenden Künstler, der es von der Bühne her gewohnt ist Themen in Bilder umzusetzen. Der Vergleich mit dem raumgrossen, konkaven Weltspiegel in der Cabane „au-delà“ des in London lebenden Inders Anish Kapoor – auch er ein in den Museen der Welt Gefeierter – zeigt es. Hier wird keine Interpretation gefordert, hier spricht nur das Bild, das Spiegelbild, das die im Raum Befindlichen je nach Standort auf dem Kopf zeigt, verzerrt, unscharf und doch erkennbar – auf der anderen Seite. Eher fühl- als formulierbar ist auch die Wirkung der Installation des Zürcher Künstlers Roland Herzog – seit Jahren ein Geheimtip der jungen Szene. Im Raum sind sechs mal zwei feine, menschliche Arme respektive Hände aus Bronze auf Brusthöhe an der Wand befestigt. Durch ihre Hände rinnt Wasser auf den leicht abschüssigen Boden und fliesst durch ein ornamentales Sternengitter ab. „Segen“ heisst der Ort. Die Assoziation „Brunnen“ entspricht der Inspiration des Künstlers, doch gleichzeitig weist der Naturalismus klar auf den Menschen: Das Wasser, die Lebenskraft, die kostbare, fliesst durch ihn hindurch zu den Sternen. Man kann die Arbeit spirituell, naturwissenschaftlich, politisch interpretieren. Aber am stärksten ist sie ohne Worte.

Erzählerisch, liebevoll, emotional, menschlich hingegen ist die Installation der Zürcher Künstlerin Susanne Walder, die – wie es zu ihrem Werk gehört – mit einer Vielzahl von Gegenständen, Bildern, Gedanken aus aller Welt nach Murten kam und hier unter dem Stichwort „Relations“ eine Art Votiv-Raum einrichtete. Ein Raum voller Schnick-Schnack mit Blick auf eine Weltseele, die sich nicht darum kümmert ob Gott Gott oder Buddha oder Allah heisst. Ihre Kapelle steht stilistisch in Kontrast mit der eher abstrakten, wortbezogenen Installation des Luzerner Bildhauers Anton Egloff, der aus einer Stahlplatte die Worte Wasser, Erde, Licht und Salz stanzte und sie in Schichten türmte. Sich auf das Bibelwort „Du (der Mensch) bist das Salz der Erde“ beziehend, verweisen sie unter Einbezug von Satzzeichen (SMS-Sprache!) auf die Möglichkeiten und die Verantwortung des Menschen. Die Kapelle des langjährigen Leiters der Bildhauerfachklasse an der Schule für Gestaltung in Luzern steht in Wechselwirkung mit der einzigen nicht künstlerisch sondern soziologisch inszenierten Kapelle „Wer bist du für Gott“. Hier trifft in Spruchbändern – vorgängig gesammelten und interaktiv vor Ort eingetippten – das ganze Spektrum an Meinungen und Haltungen gegenüber Kirche und Spiritualität aufeinander.

Die Kapellen folgen keinerlei Ablauf, stehen für sich, können einzeln oder als Spaziergang besucht werden; Zellen des Innehaltens, der Auseinandersetzung – nicht weit weg vom „Garten der Gewalt“ einerseits und der sich unter anderem aus Salzkristallen aufbauenden „Landschaft“ von Jürg Lenzlinger und Gerda Steiner in der „Heimatfabrik“. Schön, dass die Expo Heiteres und Nachdenkliches inhaltsreich zu verbinden weiss.