Die Grenchner Performerin Victorine Müller, 2003

Dem Leben sinnreiche Bilder geben

www.annelisezwez.ch    Erschienen in Bieler Tagblatt, ca. 17. Oktober 2003

Die Bieler Philosophietage zum Thema „Was ist schön?“ und das CentrePasquArt präsentieren am Sonntag, 19. Oktober 2003 die Performance „Gate C“ der Grenchner Künstlerin Victorine Müller. Ein Porträt.

Wo sie denn eigentlich wohne, fragten wir die in den 60er/70er Jahren in Grenchen aufgewachsene Künstlerin Victorine Müller. „Unterwegs“ ist ihre Antwort. Zwar habe sie in Zürich eine Wohnung und liebe Bern, doch dank einem Stipendium sei das Zentrum zur Zeit London. Wenn nicht gerade eine Peformance angesagt ist, in Paris, in Basel, in Köln, in Lausanne, in Hamburg … Victorine Müller gehört, je länger je mehr, zu den umworbensten Performance-Künstlerinnen der Schweiz.

Spricht man in der Szene über Victorine Müller, so sind die Reaktionen immer emotional; es wird nach Worten gesucht, um zu beschreiben, was man bei einer der Performances erlebte, was denn das Besondere, das Spezifische ihrer Bildsprache, ihrer Auftritte, ihrer Inszenierungen sei. Analysen gibt es kaum, stattdessen Wörter wie „so eindrücklich“, „so präzise“, „so dicht“, „so unglaublich“.

Die Künstlerin hilft auch nicht weiter, sie wolle nicht illustrieren, sagt sie, sondern Projektionsflächen schaffen, Bilder, die Vielschichtigkeit in sich tragen. Das Entstehen der Bilder sei dabei an der Basis sehr intuitiv, eine Vorstellung. Im Konkreten gehe es mehr um das Suchen der technischen Umsetzbarkeit als um inhaltliche Analyse, um ein stetes Einfühlen warum, zum Beispiel, ein Material opak oder transparent sein müsse, etwas pinkfarbig und nicht blutrot, oder wie das Licht zu führen sei, um die sinn-reiche Atmosphäre zu finden, die wortlos Mehrwert schaffe.

Etwas präzisieren kann man indes schon. Zentrales Thema der in den letzten knapp zehn Jahren entwickelten Projekte ist das Leben, nicht das gesellschaftliche, sondern das, was Leben ist, im Kern, verbunden mit den Natur-Bedingungen, die daran geknüpft sind, Sauerstoff zum Beispiel. Einmal (1999) liess sie eine Gruppe von Menschen – als Performance, mit Zuschauern – in einem geschlossenen Plastik-Kubus ausharren, um die Wechselwirkung von Sauerstoff, atmen und leben sichtbar zu machen. Bezüglich Sicherheit behütet und umsorgt von der Künstlerin. „Es ging mir nicht nur darum, Grenzen auszuloten“, sagt die Künstlerin, „sondern ebenso darum zu erfahren, was sich im Menschen abspielt in einer solchen Situation“. Trat sie da als „Regisseurin“ auf, ist sie in anderen Projekten selbst die Ausführende. Zum Beispiel indem sie sich, in eine doppelwandige Plastikhaut eingepasst, während einer Stunde von Tausenden von Grillen umzirpen lässt („la peau chantate“, 2001/03). In „Gate C“, der Performance, die am 19. Oktober 2003 im Centre PasquArt Première hat, wird sie während 30 Minuten als pinkfarbene Figur in einem 270 x 100 x 210 Zentimeter grossen, transparenten Fuss stehen, der sich im Bereich der Sohle kaum merklich mit farbigem Wasser füllt.

Die drei Beispiele zeigen, stellvertretend für eine Vielfalt an Projekten, den roten Faden und die Entwicklung auf. Ging es in den Performances der 90er-Jahre primär um visualisierte Bilder von körperlichem Erleben und Erfahren, drängt sich in den letzten Performances eine Metaebene in den Vordergrund, die in einem archetypischeren Sinn auf das Faszinosum Leben in Wechselwirkung mit der Natur hinweist, in „Gate C“ zum Beispiel auf die energetische Membran zwischen Körper und Erde und die Bedeutung von Wasser. Es ist die Weiterentwicklung einer Performance von letzten Sommer als sie sich als „Lebendmaterial“ und unter dem Titel „j’écoute“ in eine Glasvitrine zwischen Erde, Wasser und wachsende Pflanzen legte.

Mit dieser Verbindung von Urzeitlichem und Gegenwärtigem in einer bewusst sinnlichen, von Farbe mitgegprägten Sprache dringt Victorine zu jener eingangs beschriebenen Zone vor, in der Fülle keine Worte findet und wo sich die Künstlerin, von ihrer Arbeit her, ins Thema der diesjährigen Philosophietage „Was ist schön?“ einklinkt.

Performance-Künstlerin wird man nicht von einem Tag auf den andern. Der Weg war bei Victorine Müller sogar ausgesprochen lange. Denn die Schule mit ihrer Ausrichtung auf intellektuelle Fähigkeiten war zwar kein Problem, aber nicht das, was sie suchte. Nur, was suchte sie? Kunst? Das war noch viel zu weit weg. Sie wurde Kindergärtnerin und arbeitete während acht Jahren als solche. Dann brach sie auf, „Gott und die Welt suchend“.11/2 Jahre Weltreise. Und dann war es klar: „Ich will weiter“. An der „F+F Schule für Kunst und Mediendesign“ in Zürich fand sie das Klima und die medialen Lehrangebote, die sie brauchte“. Franticek Klossner, Birgit Kempke und Gerhard Lischka wurden ihre wichtigsten Lehrer.

Reuen sie die Jahre des Umweges? „Nein“, sagt Victorine Müller, mit ganz wenig Verzögerung. „Ich brachte in diese 90er-Jahr-Situation etwas von meiner Generation ein. Ich suchte die Unterseite, nicht die Oberfläche. Zudem wusste ich, zumindest intuitiv, was ich wollte“. Mag sein, dass hier die einmalige Verknüpfung von Performance und Video liegt, die Victorine Müllers Schaffen auszeichnet. Das heisst, sie nutzt die Ästhetik des Videos – zum Teil auch dieselben Farben – bringt den Inhalt aber – komprimiert in ein einziges Bild – physisch zur Aufführung. Die Schwingungen, die sie auslöst, sind nicht virtuell, sondern im Raum, am Ort, fühlbar von Mensch zu Mensch. Es ist ein Erlebnis, Victorine Müller zuzuschauen, mit welcher Konzentration sie bei Solo-Perofrmances auftritt und ausharrt, mit welcher Intensität sie ihre „Schauspieler“ in Performance-Inszenierungen für ihren Auftritt vorbereitet und mit Wärme ins Bild schickt. „Ich bin keine Video-Künstlerin“, sagt sie, betonend, dass die Kräfte zwischen den Medien ihr Ort sind.