Melancholie zwischen Bielersee und Bündner Bergen

Gian Pedretti zum 80sten Geburtstag

Am 19. April 2006 feiert der Maler Gian Pedretti seinen 80sten Geburtstag. Im Engadin. Obwohl das Licht über dem Bielersee den Blick aus dem Atelier prägt, sind im Hintergrund immer die Berge.

Vor fünf Jahren fand in der Salle Poma des Centre PasquArt eine unvergessliche Ausstellung von Werken Gian Pedrettis statt. Ein vibrierendes Panorama schwarz-weisser Landschaften zwischen Licht und Schatten. Keine Flächen, nur Linien und Zwischenräume. Jetzt wären es – man staune – Blumenstillleben. Keine gewöhnlichen natürlich, sondern „Natures mortes“, die blühende, welkende, verdorrte Tulpen und Zweige in weit ausladenden, gelben oder weissen Licht-Räumen zeigen. Melancholie. „Ja, ja“, sagt der Künstler, „ich habe sie gesehen, die grosse Melancholie-Ausstellung in Berlin letztes Jahr. Aber für mich war die Begegnung mit David Caspar Friedrich, Goya, Van Gogh keine traurige Sache, wie das Thema es suggeriert, im Gegenteil, es war freudvolle Archäologie in meinen eigenen Prägungen.“

Die neuen Bilder, das Reisen, das geistige Wachsein – was könnte mehr Beweis dafür sein, dass Gian Pedretti sein Werk mitnichten als geschaffen betrachtet und keinerlei Absicht hat, sich nach 50 Jahren künstlerischer Tätigkeit auszuruhen. Es tut einem zwar weh, dass kein Schweizer Museum die Gelegenheit des 80sten Geburtstages aufgriff und – endlich – eine erste Retrospektive dieses kompakten, „unzeitgemässen“ Werkes zeigt. Gerade jetzt, da die junge Generation die Tradition der gegenständlichen Malerei neu befragt. „Eine Retrospektive? Das Publikum sähe dann einmal die Zusammenhänge, doch….“ Der Künstler zuckt mit den Achseln; er hat die Zusammenhänge im Kopf. Mehr noch, hinten im Atelier an der Wand, steht angelehnt ein Relief, eine mit den Fingern geformte Figuren-Landschaft; in den 1950er-Jahren in Blei gegossen. Damals als er seine Arbeiten in der selbst erbauten Werkstatt in Celerina – da wo er morgen seinen Geburtstag feiert – schuf. Das expressive Relief ist stilistisch zwar weit weg von der Gegenwart, aber blinzeln tut es schon. Und eine stelenartige Frauenfigur aus dem plastischen Frühwerk des Künstlers, die immer im Atelier steht, hat es, vor wenigen Wochen erst, zurück in ein Bild geschafft. Als Betrachterin eines der Blumenmotive. Sie stehe da, sagt Pedretti, damit wir nicht mehr so genau wissen, wer was von wo aus betrachtet. Wahrnehmung – das A und O des Schauens, für Bildbetrachtende ebenso wie für Kunstschaffende. Gian Pedretti ist hierbei ein Meister.

Wer ihm zuhört, wie er vom Morgenlicht spricht, das die Welt täglich neu erschafft, wie er das platte Mittagslicht als unschöpferisch bezeichnet und den Abend mit dem Welken in Verbindung bringt, ist berührt von der komplexen Einfachheit, mit welcher der Künstler den Naturkreislauf ins Licht rückt. Dass das nur ein Mensch kann, der sich von der Hektik unserer Zeit ein Stück weit abschottet, liegt auf der Hand. Nur: So einfach ist es nicht, das Abseits zu ertragen; es heisst auch Einsamkeit. Und manchmal ist es schwierig zu neuen Bildern zu finden. „…was mir zu schaffen macht, ist, mit welcher Kunst und Leidenschaft ich versuche, eine Beschäftigung heraufzubeschwören, um die Zeit totzuschlagen. Ein unüberwindbares Laster, eine Sucht gegen das Nichtstun, eine Nötigung zur Notwendigkeit dieses Tuns“, schreibt Pedretti.

Schreibt? Nur wenige wissen, dass nicht nur Erica Pedretti, sondern auch Ehemann Gian Pedretti schreibt. Im Droschl-Verlag in Graz sind seit 1986 drei kleine Büchlein erschienen. Das Zitat stammt auch „da capo“ von 1997, einer mit Zeichnungen ergänzten Sammlung von fiktiven Briefen an einen unsichtbaren Freund. „Ein Dialog, der ein Monolog ist“, sagt Pedretti. Es sind Wahrnehmungen, die sich nicht als Bilder, sondern als Gedanken verfestigen. „Einfach mal wieder einen Anfang machen, einfach wie die Gemse bei Tagesanbruch, wenn sie auf ihren vier Läufen zierlich und leicht in den Morgen hineinzulaufen beginnt, mit dem Äser die Feuchtigkeit spürt der Gräser, die sie pflückt, ruckweise, seiltanzend auf der Grenzlinie, wo die Sonnenstrahlen die Schatten küssen. … Der Rede nicht wert?“

Pedretti weiss, von was er schreibt – das Bergsteigen, die Hochwildjagd im Engadin waren bis vor ganz kurzem ein Stück seines Lebens. Vereinzelt wurde das tote Tier auch Motiv in der Malerei. Wenn man ein Tier schiesse, so Pedretti, so müsse man es gleichzeitig auf den Altar legen; das habe sich ihm schon als Kind eingeprägt. Immer wieder die Berge und auch die Tradition der Familie – schon sein Vater Turo Pedretti war Maler und sein Bruder Giugliano ist Bildhauer. Auch die Beziehung zum Licht als Essenz der Welt, ist wohl bergbestimmt, nimmt man doch den Kontrast zwischen Licht und Schatten daselbst viel existentieller wahr. Obgleich in den neuen Bildern die Farbe wieder Bedeutung hat, so ist für Gian Pedretti schwarz und weiss, Licht und Schatten doch „das Farbigste was es gibt“.
Wer weiss, vielleicht gibt’s ja eine Ausstellung zum 81. Geburtstag.