Elsie Giauque: Von der Wand in den Raum

Textilkunst (Vortrag 9.7.2006 im Rahmen von Trilogie Textilräume)

Textilräume. Um von der richtigen Voraussetzung auszugehen, müssen wir uns überlegen, wo denn der Anfang ist. Da ich mich in den frühen Hochkulturen Chinas und Aegyptens nicht gut genug auskenne, blicke ich in unserem Kulturraum zurück. Hier gehen die frühesten uns bekannten Webereien auf die Pfahlbauer zurück, am Zürich-, am Bodensee so gut wie im Berner Seeland.

Das heisst, vor mehr als 5000 Jahren wurde bei uns bereits gewoben. Die Pfahlbauer pflanzten Flachs an, bearbeiteten ihn und verwoben ihn auf schon recht grossen Webstühlen. Warum?

Zum Schutz. Textiles ist im Kern immer Schutz. Noch bevor die Weberei Kleid wird, dient sie als Teppich – für Boden und Wände. Das sind die ersten Textilräume. Dicht Gewobenes an der Wand hält ebenso die Kälte im Winter wie die Wärme im Sommer ab und sie gleich Unebenheiten aus. Textiles ist von Anfang an mit Angenehmem verbunden. Mit Textilem kann man nicht töten. Und da es draussen verrotten würde, ist auch untrennbar mit dem Haus verbunden, dem Raum. Die Trilogie „Textilräume“ ist somit von ihrem Thema her nichts Neues.

Es sind Gewebeteile aus der Zeit der Pfahlbauer erhalten – aber nur in kleinsten Fragmenten. Ob sie Textiles bereits verzierten, ornamentierten, ist nicht bekannt. Es ist aber anzunehmen, in Analogie zu den Keramiktöpfen, die uns in grösserer Zahl überliefert sind.

Das Textile ruft nach Schmuck, weil es Angenehmes zu erfüllen hat und wohl schon sehr, sehr früh mit sozialen Strukturen im Austausch stand. Das Textile als Ausdruck von Armut und Reichtum.

Die gesamte Wandteppich-Tradition steht in direkter Linie mit der skizzierten Basis. Immer war sie nicht nur Schmuck, sondern auch Schutz. Ob die Teppiche nun an der Wand hingen oder auf grosse Reisen mitgenommen wurden.

Als Jean Lurçat zu Beginn der 1960er-Jahre die Biennale von Lausanne gründete, ging es ihm ganz klar um eine Erneuerung der Wandteppich-Tradition. An der ersten Biennale waren nur gewobene Arbeiten zum Wettbewerb zugelassen. An der zweiten dann schon Stickereien und fast explosionsartig weitet sich das Spektrum in den folgenden Jahren.

Textiles ist ja nicht nur Gewirktes und Gewobenes. Sondern früh auch schon Gesticktes und seit dem 14. vielleicht auch erst dem 16. Jahrhundert (man streitet sich da) ebenso Gestricktes. Mit verbesserten Färbetechniken tritt die Farbe als immer wesentlicheres Element hinzu. Nicht zu unterschätzen sind auch die Informationen aus anderen Erdteilen – vom Gebrauch des Textilen bei den Indianern oder – sehr wichtig – in den klimatisch rauen Gegenden Asiens.
Mit anderen Worten: In den frühen Jahren der Biennalen von Lausanne stand den Künstlern und Künstlerinnen ein immensens Spektrum an Möglichkeiten zur Verfügung. Die Frage war nur, wer würde sie wie nutzen?

Und warum dies ausgerechnet in den 1960er-Jahren? Da muss ich noch einmal etwas ausholen.

Im späten 19. Jahrhundert wird ein gewisser Wohlstand erstmals auch für eine breitere Mittelschicht Realität. Man baut Terrassen, da man nun Zeit hat, die Musse zu pflegen. Man hat Häuser, die man heizen kann und man hat bald einmal elektrisches Licht, um den Tag in die Nacht zu erweitern. Man hat neue Zeit. Unter anderem um sich dem Kunsthandwerk zu widmen. Mit verbesserter Bildung wird die Zahl der Frauen, die sich in einer Vielfalt textiler Techniken auskennen, immer grösser. Das Textile hat eine breite Basis, die breit interessiert, weil viele mitreden können. Dass es grossmehrheitlich Frauen sind, sei hier für einmal nicht negativ erwähnt.

Dass das Bauhaus seine Idee ganzheitlichen, künstlerisch gestalteten Wohnens entwickeln konnte, brauchte es die skizzierte Basis, um erfolgreich sein zu können. Der textile Raum erhält hier eine neue Dimension – diejenige des Gestalteten. Das heisst nicht, dass der alte Schutzgedanke nun gänzlich aufgelöst wäre – eine Bettdecke schützt auch heute noch das Bett und ein Teppich den Boden usw. Aber es findet eine Durchmischung von Funktion und künstlerischer, das heisst auf sich selbst bezogener, Gestaltung statt.

Elsi Giauque, auf die sich mein Vortrag nun mehr und mehr fokussieren wird, erlebte diese Entwicklung hautnah. Das heisst, als sie ab 1918 an der Kunstgewerbeschule Zürich war, brachen die neuen Ideen eben auf.

Johanna Morel von Schulthess schreibt in ihrer ausgezeichneten Monographie zu Leben und Werk von Elsi Giauque zu den Anfängen von EG an der Kunstgewerbeschule in Zürich: „Die um 1920 entstandenen dynamischen Stickornamente verweisen auf den unkonventionellen Unterrichtsstil jener Schule: Obwohl der Krieg immer noch andauerte, herrschte an der Schule unter Alfred Altherr (1875-1945) eine Aufbruchsstimmung, die geprägt war durch Befreiung von alten Vorbildern und Offenheit für Neues. Alfred Altherr war aktiver Mitbegründer des 1913 ins Leben gerufenen Werkbundes (SWB), der sich 1918 in einer umfassenden Schau auf dem Gelände der Tonhalle in Zürich vorstellte. In den um einen Innenhof gruppierten Ausstellungsbauten wurden Werke aus den Bereichen Architektur, Malerei und Bildhauerei gezeigt. In komplett eingerichteten Musterwohnungen waren Möbel, Textilien, Kunsthandwerk, Fotografien und industriell angefertigte Gebrauchsartikel zu sehen, die den Idealen des SWB – man könnte den Bund als eine Art Schweizer Bauhaus bezeichnen – entsprachen. Auch ein Marionettentheater war in die Ausstellung integriert.

Zurück zum Werkbund, denn da sind bereits zwei Begriffe, die für Elsi Giauques spätes Schaffen mit textilen Materialien prägend sind und sein werden: Die Architektur und das Theater. Textiles, Architektonisches und Theatralisches werden sie später zur grossen Erneuererin der Textilkunst in der Schweiz machen. Sie ist 1967 die erste – und das ist nun nicht einfach ein PR-Superlativ – die erste, die an der 3. Biennale in Lausanne ihr Wettbewerbsprojekt mit drei Dimensionen angibt: 380 x 37 x 37 cm. Es handelt sich um eine 1964 (also schon drei Jahre vorher) geschaffene „Transparente Säule“ in Haut-lisse Spanntechnik, die den schönen Titel „Colonne en couleurs qui chantent“ trägt. Aber, so weit sind wir ja eigentlich noch nicht.

Denn auch Elsi Giauque kann sich nicht einfach aus ihrer Zeit herauskatapultieren. 1924/25 bezieht Elsi Giauque mit ihrem Mann Fernand ein altes Rebgut oberhalb von Ligerz, die sogenannte „Festi“. Bauhaus-Ideen gemäss fabrizieren sie die Möbel und die Textilien selbst und gestalten die Räume als Ganzheiten. Bis in die 1950er-Jahre bewegt sich das textile Werk von Elsi Giauque im Zweidimensionalen, wobei neben Teppichen vor allem Stoffe im Vordergrund stehen, seien sie gewoben oder bedruckt. Es gäbe da viel zu erzählen, aber das ist nicht unser Thema heute.

Nur eine Arbeit aus den 1940er-Jahren greife ich heraus, weil sie etwas Typisches aufzeigt. Es handelt sich um einen Wandteppich mit Maisblättern. Zur Festi gehörte damals ziemlich viel Land, das während der sogenannten „Anbauschlacht“ während des 2. Weltkrieges als Landwirtschaftsland genutzt werden musste. Unter anderem wurde Mais angepflanzt. Wie mir Käthi Wenger, die ab 1946 auf der Festi tätig ist – wir kommen noch auf sie zurück – erzählte, stammen die Maisblätter des Wandteppichs von diesem Feld. Das heisst, Elsi Giauque machte einen ganz entscheidenden Schritt – lange vor der Arte Povera und lange vor der Pop Art. Sie trennte – ich würde sagen typisch Frau – die Kunst nicht vom Alltag. Die Maisblätter, die im Gelände ihres Ateliers und ihrer Wohnstätte vorhanden sind, werden in die „hohe“ Kunst integriert. Das ist revolutionär.

Auch im zweiten Werk, das ich hier erwähne, spielen die Festi und das Leben eine zentrale Rolle. 1950 erhält Elsi Giauque von Freunden, die in Biel eine Papeterie und Kunst-Handlung betreiben, eine Schachtel mit Holzkeilen, wie sie für das Spannen von Leinwänden verwendet werden. Flugs setzt das ihre Phantasie in Gang und sie entwirft eine Art frei im Raum schwebender „Tapisserie“ und nennt sie „Transparenz“, ein Begriff, der zentral ist für das Gesamtwerk von Elsi Giauque. Ein Begriff, der immer Raum benennt. Das Werk „Transparenz“ entsteht quasi avant la lettre, das heisst die Fortsetzung findet eigentlich erst in den 1960er-Jahren statt. Ob sich Elsi Giauque der Weitsichtigkeit ihres Werkes bewusst war oder nicht, ist unbekannt. Wahrscheinlich nein, weil sie es nicht konzeptuell, sondern aus dem Vorhandenen – den Keilen – und dem ihr im Atelier zur Verfügung stehenden spontan entwarf und es in den Garten hängte, um die „Transparenz“ sichtbar zu machen. Ein Garten, der dies durch seinen Weit-Blick quasi suggeriert.

Es ist Erika Billeter, welche die Bedeutung der Arbeit erkennt. Elsi Giauque, die ja auch als Lehrerin der Textilklasse an der Kunstgewerbeschule Zürich tätig ist, ist gut befreundet mit der Direktorin des Museums Bellerive. Und Erika Billeter schreibt 1970 sicher nicht Neues, wenn sie formuliert: „Eine Weberei solchen Stils zu machen, war mehr als avantgardistisch – es war eine echte Tat. Denn mit dieser Arbeit hat sie etwas vorweggenommen, das 20 Jahre später als die Revolution der Textilkunst angesehen wurde. Sie hatte mit diesem durchsichtigen Gewebe den Begriff des Wandteppichs in seinem traditionellen Sinn in Frage gestellt und den Gobelin enttrohnt.“

Ich habe schon einmal den Begriff „Architektur“ erwähnt. Die Fortsetzung des Raumaspektes im Werk von Elsi Giauque hat viel damit zu tun. Ab 1956 wohnt Tochter Pia mit ihrem Mann – einem Architekten – auf der Festi. Zeitgenössische Architektur wird Thema am Tisch. In Zürich lebt Elsi Giauque ihre Partnerschaft mit dem Fotografen Hans Finsler, der unter anderem bekannt ist als Architekturfotograf. 1965 baut Flurin Andry die Festi um, das heisst er ergänzt den alten Teil mit einem modernen, das kubisch-geometrische der 1960er-Jahre betonenden Anbau.
Dass Elsi Giauque als erste zu einer klar raumbetonten, architektonischen Textil-Skulptur findet, hat zweifellos seine Wurzeln in dieser Konstellation.

1961 entsteht die kleine „Prototypsäule“.Sie ist mit ihrem Holzrahmen noch „etwas schwerfällig“, wie Johanna Morel von Schulthess richtig schreibt. In der Zukunft werden darum Metallrahmen verwendet – welche Flurin Andry für die Schwiegermutter zeichnet und der Schlosser im Dorf Ligerz für die Künstlerin herstellt. Es entstehen in der Folge eine Vielzahl von Säulen, die im Raum hängen und in sich Räume verschiedenster Proportionen und Volumen umschreiben. Nicht nur die textile Skulptur, sondern auch die angewandte Spann- und Wickeltechnik zeigt, wie fundamental sich Elsi Giauque von der traditionellen Textilkunst gelöst hat und wie frei sie nun damit umgeht.

Ich habe viel früher in diesem Votrag einmal die Frage gestellt. Warum das alles gerade in den 1960er-Jahren. Repetieren wir: 1962 findet die erste Textilbiennale in Lausanne statt. Sie akzeptiert nur Gewobenes. 1965 kommt Gesticktes hinzu. Elsi Giauque zeigt eine zweidimensionale Arbeit, die den Anforderungen entspricht, in ihrer klar geometrischen Bildsprache und im Wechsel von positiv-negativ und negativ-positiv indirekt Räumliches thematisiert.

Schauen wir, um das Ganze etwas einzuordnen, was denn sonst noch an dieser Biennale hängt. Vorweg: Sehr vieles, das Malerei in Gewebe übersetzt. Das heisst in Ateliers im Auftrag von Malern Gewobenes. Zum Beispiel – und ich wähle das natürlich ganz bewusst – dieser Teppich mit dem Titel „Markab“ von Victor Vasarely, im Format 260 x 376 Zentimeter. Gewoben von den Tabard Frères et Soeurs in Aubusson. Ich sage bewusst gewählt, weil die Op-Art Elsi Giauque faszinierte und sie wohl anhand dieses Werkes sah, dass sie textil interpretierbar ist. 1968 schafft sie ihre Art von textiler Op-Art: „Trois aspect“, ein Gobelin in den Massen 146 x 186 x 30 cm. Klar, dass sie die Op-Art beeindruckte, weil sie stets ein utopisch-räumliches Moment miteinschliesst und ebenso den Faktor Bewegung. Elsi Giauque hat nie im engeren Sinn kinetische Werke geschaffen, aber die frei hängenden Säulen im Raum bewegten sich oft leise und waren dahin gehend angelegt, dass man sie umrundet und damit im Betrachten Bewegung erzeugt. Die Formen der Architektur denken dies immer mit.

Zurück zur Biennale von 1965 – was zeigt Magdalena Abakanowicz, die berühmte Polin, die, wie Elsi Giauque, zu den Meistausstellenden im Palais de Rumine gehört? Auch sie bleibt 1965 mit „Desdemona“ noch bei zwei Dimensionen, deutet aber ebenfalls Räumlichkeit an, wenn auch nicht architektonische, sondern körperliche. Wenn wir nun die Wege der Textilkunst in den Raum untersuchen, so gilt es genau diese beiden Aspekte zu beachten. Das Räumlich-Körperliche, sich in den Raum ausdehnende und das selbst Raum umschreibende.

Beide Richtungen haben ihre Parallelen in anderen Medien der Kunst. Zum einen erfährt die geomtrische Kunst in den 1960er-Jahren in der Schweiz eine enorme Breitenwirkung. Um Missverständnissen vorzubeugen: Elsi Giauque arbeitet seit den 1920er-Jahren geometrisch! mit Linolschnitt, 1927 (auch als Druck auf Baumwollsatin). Zum anderen machen sich in den 1960er-Jahren die ersten jungen Frauen auf den Weg zu ihrer eigenen – von Sigmund Freud noch als inexistent bezeichneten – Körperlichkeit.

Ich muss noch einmal nachhaken: Warum gerade in den 1960er-Jahren? Die Biennalen in Lausanne können sich nur darum so erfolgreich entwickeln, weil sie einem Bedürfnis entsprechen, weil für textile Werke ein Markt besteht. Und dieses Bedürfnis heisst Architektur, heisst Kunst am Bau. Die Bedeutung des Beton, die Bedeutung des Kubisch-Geometrischen in der Architektur ruft nach einer zweiten Ebene, welche die klare Formensprache und das nüchterne Material bricht und in einen kontrapunktischen Dialog bringt. Gerade in der Schweiz boomt der Wandteppich-Markt in den 1960er-Jahren. Und er ist hier – im Gegensatz zu anderen Ländern – ganz stark eine Domäne der Frauen. Über die Wechselwirkung der Dominanz der Frauen in der textilen Kunst in der Schweiz und der Ausgrenzung derselben aus der männliche dominierten, sogenannt „freien“ Kunst habe ich schon des öftern gesprochen. Es ist hier nicht Thema.

Es äussert sich aber auch in den Beteiligungen an der Biennale in Lausanne. 1965 ist die Schweizer Beteiligung quasi politisch korrekt: Zwei Männer und zwei Frauen. Der Unterschied: Die Männer lassen weben, die Frauen sind selbst an der Arbeit. Bereits 1967 sind es dann von der hohen Zahl von sieben Beteiligungen fünf Frauen und zwei Männer. Mit demselben Unterschied wie 1965: Die Frauen sitzen selbst am Webstuhl oder arbeiten – wie im Fall von Elsi Giauque – eng mit ihren Mitarbeiterinnen zusammen. Das ist nicht nur statistische Spielerei, was ich hier erzähle, sondern eine Basis für die Entwicklung der textilen Kunst. Denn nur wer kreativ und direkt mit dem Material in Kontakt steht, kann experimentell zu neuen Lösungen kommen. Und die stehen an!

1969 zeigt Elsi Giauque erstmals eine Installation mit ihren „éléments virtuels spatials“ einer anderen Arbeit in Lausanne wird so sehr der Raum als luftiges Volumen thematisiert. Elsi Giauque hat mehrfach mit ähnlichen Elementen gearbeitet – es gibt mehrere Konstellationen, die dann auch Titel wie „chute de couleurs“ tragen. Mit geometrischen, zum Teil auch geometrisch-symbolischen Zeichen lädt sie die Transparenz auf, schafft Bezüge zur Wand, zur Architektur und schafft daraus ein begehbares Ganzes. Eine Installation mit einer Vielzahl dieser Elemente wird einen wichtigen Aspekt der Herbstausstellung in Ligerz 2006 darstellen. Wiederum hat diese Arbeit Pioniercharakter und ist in ihrer Art einmalig an der Biennale.
Es gibt, dem Katalog nach zu schliessen, zwei weitere Arbeiten, die klar räumlich konzipiert sind. Die eine ist von einem zweiten Schweizer, von Arthur Jobin, geb. 1927 in Yverdon. Allerdings erinnern mich die von seiner Frau gewobenen „Fahnen“ etwas zu sehr an die Expo 64 in Lausanne. Und auch die Arbeit von Jean Potts und Judith Riley – zwei jungen Engländerinnen – beschreibt Raum nicht in derselben Intensität wie die Arbeit von Elsi Giauque.

Was heisst das nun: Elsi Giauque schafft Arbeiten, die Raum thematisieren, die aber auch Raum für sich beanspruchen. Nicht Wand-Dekoration, sondern Raum-Installation sind im Sinne von hier bin ich und hier bleibe ich. Realistischerweise heisst das „bleiben“ letztlich dann meist eine Kiste in einem Depot, aber vom Anspruch her ist die Formulierung klar und sie erinnert mich zeitbezogen eigentlich an Äusserungen der Minimal Art – auch ihrer französischen Spielart – die klar Raum oder Fläche beansprucht. Interessant ist auch der Vergleich mit der Sommerausstellung „Raumfolge“ in Uster, insbesondere dem Kubus von Theresa Rothenbühler . Was ist der Unterschied? Elsi Giauque will Transparenz sichtbar machen, braucht dazu aber 1969 noch Referenzformen und –zeichen. Damit legt sie Bedeutung, Inhalt in die Transparenz des Raumes, während bei Theresa Rothenbühler einzig das Licht Akteurin ist, um den transparenten Raum zu dynamisieren. Ihre Arbeit ist Raum selbst, während Elsi Giauques Arbeit auf das Wechselspiel von Architektur und Kunst ausgerichtet ist. Man könnte sagen dass Elsi Giauques Raum abstrakt ist und Theresa Rothenbühlers ungegenständlich. Man könnte hier viele andere Arbeiten anführen, aber dann müssten wir den ganzen Tag einsetzen.

Mir geht es hier mehr noch darum, den bereits angelegten Faden des doppelten Vorstossens in den Raum zu thematisieren.

Ich mache hier kurz eine Klammer: Was hat die Biennale von Lausanne für einen Stellenwert, dass man sie hier als Massstab nehmen kann. Es gelingt der Biennale – unter anderem aus den bereits angeführten Gründen – sehr schnell, die wichtigste Plattform für textiles Schaffen zu werden. Nicht zuletzt weil die Ausstellung jeweils mehrere internationale Stationen bespielt und die Organisation von Anfang international angelegt ist. Ein bisschen erinnert mich die Struktur an die Biennale Venedig mit ihren Länderpavillons. So delegierten anfänglich die einzelnen Länder ihre Vertretungen in Lausanne, was dann aber bald einmal aufgegeben wird zugunsten eines offenen Wettbewerbes. Bereits 1969 sind es 500 Dossiers, die von der Jury bewertet werden müssen. Später werden es dann bis 1000 Dossiers sein. Ein Detail: 1969 besteht die Jury noch ausschliesslich aus Männern!

Ich habe es bereits einmal erwähnt, das Vorstossen in den Raum entwickelt sich einerseits körperlich, andererseits architektonisch. Für die Architektur steht Elsi Giauque, für die Körperlichkeit ganz stark Magdalena Abakanowicz. 1969 ist sie nicht an der Biennale, zeigt aber in der eng mit der Biennale liierten Galerie Alice Pauli eine Einzelausstellung, wo unter anderem der Abakan gezeigt wird, der seinen Weg in der Folge nach Biel findet und daselbst während Jahren im Kongresshaus hängt. Hier wird deutlich wie Raum und Körper das Thema sind. 1971 zeigt sich die Biennale von Lausanne wie ein Feuerwerk, das aufzeigt, dass nun in alle Richtungen experimentiert wird. Interessant, dass es da zwei Arbeiten gibt, die deutlich an die Op-Art-Arbeit EG’s von 1968 erinnern.

Vertreten sind aber auch die Schweizerinnen Françoise Grossen, Beatrix Sitter-Liver (mit einer herausragenden, kanzelartigen Raum-Skulptur) und weitere. Elsi Giauque bleibt ihrer geometrischen Linie, ihrem Bezug zur Architektur und zum Theater treu. Und übersetzt diese Haltung auch in Kunst am Bau-Arbeiten ( zum Beispiel der Freizeitanlage Zürich Seebach 1971). Auffallend ist immer wieder, dass Elsi Giauque mit wenigen anderen Teilnehmerinnen eine bis gar zwei Generationen älter ist. Sie wurde nach ihrer Pensionierung im Kontext des Aufbruchs der Frauen zu eigenem Ausdruck quasi zur jungen Künstlerin (ein Gender-Phänomen, das es mehrfach gibt ). Eine weitere Künstlerin von EG’s Generation ist unter anderem die bekannte amerikanische Textil-Künstlerin Claire Zeisler (gestorben 1991).

Man kann sagen, dass die Biennale von 1971 künstlerisch ein Höhepunkt ist. 1973/75 erweitert sich zwar das Spektrum noch einmal , die Rezeption steht nun auf dem Höhepunkt, aber vollendet ist die Ausweitung des Textilen vom Wandteppich zur textilenSkulptur bereits 1971. Die Biennale ist zu Beginn der 1970er-Jahre auch dahingehend auf dem Höhepunkt, dass alles, was Rang und Namen hat, mit dabei ist, mit dabei sein will. Zu erwähnen ist zum Beispiel die zahlenmässig stark erhöhte Präsenz japanischer Kunstschaffender.
Eine Künstlerin, die nach wie vor Massstäbe setzt, ist Magdalena Abakanowicz mit den Werken von 1973 und 1975. Sie bespielt Räume und setzt nun auch jene figürlichen Akzente, die ihr Werk in Zukunft bestimmen. Figürliche Akzente ganz anderer Art tauchen 1975 auch bei EG auf, in Les cinq fantômes, einer Arbeit, die sich seit 1980 im Regionalspital in Sion befindet. Gesamthaft kann man sagen, unserem Thema der „Textilräume“ bleibt niemand so nahe wie Elsi Giauque, die konsequent an der Verquickung von Architektur und Raum und Textil arbeitet. Bis zu ihrem letzten grossen Chef d’oeuvre – dem goldenen Raum – von 1982/83, einige Jahre vor ihrem Tod.

Und Seither?

Die Biennalen drehen ihre Runden bis sie sich zu Tode laufen. Die Diskriminierung der Textilkunst, insbesondere bei uns, führe dazu, dass die Besten sich mehr und mehr anderen Materialien zuwenden und in der Kunst mit textilen Materialien keine neuen Impulse mehr kommen. Bis… Ja bis das Textile wiederentdeckt wird und heute, wie die „Raumfolge“ in der Villa am Aabach in Uster eindrücklich zeigt, in der sogenannt freien Kunst in vielfältigster Form neu präsent ist , aber auch da, wo sich Design und Kunst treffen. Diesen Sommer zum Beispiel in „tuchinform“ in Winterthur, wo Franziska Born ausstellt und mit Fenster-Rouleaus das uralte Thema des Schutzes (vor fremden Blicken) wieder aktuell wird und den Bogen zum Beginn meines Vortrages schliesst.