Nicht alle Ideen der 68er waren naiv

Porträt des Bieler Künstlers Ruedy Schwyn. November 2006.

Keinen anderen Künstler kennt man in der Region Biel so gut wie ihn. Ruedy Schwyn ist (fast) immer mit dabei, wenn es um Kultur geht. Um engagierte Kultur wohlverstanden, um Kultur, die mehr will als schönen Schein.

„An der Basis bin ich bildender Künstler“, sagt er, und erinnert sich daran, wie er als Kind mit seinem Vater – Pfarrer Ernst Schwyn – um 1960 eine Kandinsky-Ausstellung in Bern besuchte und das Gefühl hatte, da kenne – und male – einer die Geheimnisse des Lebens. Doch an die Öffentlichkeit trat der junge Sonderschul-Lehrer zunächst als Bassist, Solo-Gitarrist und Sänger des Rockjazz-Trios „Ignis“ und später als Liedermacher von „Näbuhorn“ (1975-1985). „Unglaublich, mit welch rudimentären Kenntnissen und Mitteln wir damals am Gurtenfestival auftraten“, sagt Ruedy Schwyn aus heutiger Sicht. „Wichtig war, dass wir über Lieder unsere Sorge um die Welt ausdrücken konnten.“ (Nach der Veröffentlichung der Thesen des „Club of Rome“ war in den 1970er-Jahren die Zerstörung der Umwelt Gesellschaftsthema Nummer eins.)

Für Ruedy Schwyn waren soziales und ökologisches Engagement nicht nur hohle Worte. Nach dem 68er-Motto: nicht nur diskutieren, sondern handeln, reiste er schon 1977/78 mit seiner Partnerin Rosmarie nach Peru, um daselbst während zweier Jahre gemeinsam angespartes Geld in ein landwirtschaftlich und medizinisch ausgerichtetes Selbsthilfe-Projekt zu investieren.

„Für mich ist es eigentlich egal, in welcher Form, in welchem Stil, in welchem Medium sich ein Künstler ausdrückt, zentral ist das sicht- respektive hörbar Machen der künstlerischen Vision“, sagt Schwyn und meint zum heutigen Vorwurf, die 68er seien alle naive Utopisten gewesen, es möge sein, dass man geträumt habe, aber viele Themen seien heute so aktuell wie damals. Ruedy Schwyn ist dem kritischen Denken der Zeit treu geblieben, aber nicht schwarz-weiss, sondern mit vielen feinen Zwischentönen und einer künstlerischen Sprache, die Feinfühligkeit und Verletzlich-keit so ernst nimmt wie Fakten und Beobachtungen. „Das Banale mit Liebe aufladen“ steht in weissen Lettern an der Wand seines Ateliers am Egliweg in Nidau.

In den 1980er-Jahren wendet sich Ruedy Schwyn klar der bildenden Kunst zu, die ihn als eine Art unterirdischer Fluss immer schon begleitet hat. Aber: Mit einer Ausdrucksweise, die sich mehr an Harald Szeemanns „When attitudes become form“, mehr an Joseph Beuys orientiert denn an formal-stilistischen Kritierien, fällt er in Biel durch. Was soll ein Erdhaufen, der schreit? Die Bieler Künstlergesellschaft (GSMBA) jedenfalls will ihn (noch) nicht und manche Weihnachtsausstellungs-Jury lehnt seine Werke ab; er sei ein Chaot, hiess es. Ab 1889 sucht er in multimedialen Projekten die Gesamtheit seiner Erfahrungen einzubringen, kombiniert Bildnerisches, Performatives und Installatives, oft in Zusammenarbeit mit Musikern.

Mit Balts Nill (dem späteren Schlagzeuger von „Stiller Has“) zum Beispiel inszeniert er im Turbinensaal der Dampfzentrale in Bern den „Schneck“. Eingedenk all dessen, was die Schnecke mit ihrem spiralförmigen Haus und dem weichen Schleimkörper einerseits, der Kraftwerksraum andererseits an Symbolik in sich tragen, schreitet der Künstler über einen Teppich leerer Schneckenhäuschen, die, von Musik dramatisiert, hart und splittrig und kantig zerbersten. Dass es von dieser Performance zur „Berglandschaft“ aus Rasierklingen, die er dieser Tage für die Ausstellung im Centre PasquArt schuf, eine innere Verbindung gibt, wird im Gespräch plötzlich offensichtlich und zeigt beispielhaft, wie Ruedy Schwyns disparates Werk einen klaren, roten Faden aufweist – sofern man nicht auf Visuelles fixiert ist, sondern mitdenkt. „Der Körper ist der Tempel des Geistes“ steht als Leitmotiv im ersten Raum der Ausstellung im PasquArt.

Es ist dieses Multimediale, das sich denkend in alle Sparten einbringt, die es Ruedy Schwyn spielend erlaubt, vom Bildnerischen im engeren Sinn zum Bühnenbild für Bieler Tänzerinnen oder Erika Pedrettis „Philemon und Baukis“ zu wechseln, von da in die Schule für Gestaltung (Schwyn ist Lehrer am Vorkurs) zu eilen und schliesslich wieder ins Atelier, um das unter der Haut Vibrierende in Farbe, in Linien, in Objekte zu bündeln. Wenn es dann zu viel ist (und das ist es nicht selten), packt Schwyn seine Sachen und fährt nach Südspanien – dahin, wo es zu gewissen Zeiten so etwas wie eine Bieler Kolonie gab und die Fotografin Jeanne Chevalier noch heute lebt. Die Erde öffne sich da geologisch und zeige an der felsigen Oberfläche ihre fragile Beschaffenheit, sagt Schwyn.

In Land-Art-Projekten sucht er sich seit den späten 1980er-Jahren in Verbindung mit der Erde zu bringen, sie zu spüren und sich dabei selbst zu erfahren. Seit langem schon hat Schwyns bildnerisches Schaffen viel mit Oberfläche, mit „Haut“ zu tun, mit den sicht- und unsichtbaren Spuren (Narben), die das Leben in und an unserem Körper (aber auch dem Erd-Körper) hinterlässt als wäre er ein Spiegel unserer emotionalen Biographie. Nicht erzählend, sondern allegorisch und übersetzt in Abstraktion erscheint sie in seinem Werk. Der Titel der bisher wichtigsten Ausstellung des in der Region bestbekannten, aber national bisher kaum wahrgenommenen Künstlers, „Walk in a human landscape“, die im November/Dezember 2006 im Centre PasquArt in Biel stattfindet, erläutert sich auf dieser Basis wie von selbst.