Sandra Böschenstein: Neue Zeichnungen

www.annelisezwez.ch   Annelise Zwez in Kunstbulletin Oktober 2006

 

Zeichnung Ausstellung Marlène Frei 2006
Zeichnung Ausstellung Marlène Frei 2006

Für Sandra Böschenstein (geb. 1967) haben zeichnen und klettern Gemeinsames.

Beide fordern eine Konzentration, die keinerlei Ablenkung zulässt. Das eine übt Böschenstein in den Alpen aus, das andere ist als Resultat in den Zeichnungen enthalten, die sie zur Zeit bei Marlène Frei in Zürich zeigt.

 

Was haben ein Tisch und ein Steinbock miteinander zu tun? So die Frage an der Basis einer der grossformatigen Graphitzeichnungen von Sandra Böschenstein. Es sind beides Vierbeiner. Der Tisch ist zudem ein Ort der Reflektion…zum Beispiel über Steinböcke in den Alpen. Das Tier interessiert sich naturgegeben nicht für Tischarbeit, sondern die Erkundung des Raumes. Und schon nimmt das Stück seinen Lauf. Zeichnerisch auf das Notwendige reduziert entwickelt es sich. Weder Physik noch Logik grenzen die Künstlerin ein – kein Problem für einen Steinbock, rücklings aus einer Scheinwerfer-Lukarne zu schauen. Man kann es beim „Lesen“ der Zeichnung bewenden lassen und schmunzeln; spannender ist es mit zu denken, dass die Zeichnung selbst das ist, was an den Tischen im Bild entsteht, der Steinbock, den die Künstlerin oft unter Extrembedingungen hat klettern sehen, ein Stück ihrer selbst und der aus konzentriertem Alleinsein wachsende (Tag)-Traum das Medium, der das Spiel ohne Grenzen ermöglicht.

Im Lauf von rund 10 Jahren ausschliesslich zeichnerischer Arbeit hat sich die Zürcher Künstlerin ein stupendes Vokabular von Möglichkeiten und Situationen angeeignet, das sie nun freier denn je inszeniert. Früher erschienen Fragen und zeichnerische Antworten oft als Kombination von Wort und Bild – man erinnere sich des Zyklus’ „Das Mögliche ist“, den sie 2003 im Museum Allerheiligen in Schaffhausen zeigte. Auch die jüngsten, während eines einjährigen Aufenthaltes in Berlin entstandenen Zeichnungen haben noch „Labor“-Charakter, aber die Worte sind reduziert, zum Beispiel auf “ Wenn Augen weil Tau“.

Die Augen, die nur sehen wenn sie feucht sind, deuten eine Art Prämisse an, welche der jüngsten Zeichen-Serie zugrunde liegt. Ballonartige Augenkörper, mit Leinöl lichtdurchlässig „koloriert“, spielen darin eine zentrale Rolle. Sie deuten auf die Gleichzeitigkeit von Auge, Sehen und (eigenem) Globus und mit der Charakterisierung „meine schlafenden Augen beaufsichtigen lassen“ wiederum auf den Akt des Zeichnens, der visuelle Wahrnehmung in Denken und Denken in Zeichnen umsetzt. Dieser konzeptuelle Ansatz wird durch die Exaktheit des Zeichenstils verstärkt und zugleich durch die Surrealität der Geschehnisse gebrochen.

Zu beobachten ist ferner eine Tendenz zu mehr Sinnlichkeit, durch das Leinöl auch

zu mehr Materialitätsbewusstsein. Beides Momente die im Frühwerk der Künstlerin wichtig waren, dann weggeschoben wurden und sich nun wieder melden. Waren es früher Figuren, die agierten, sind es jetzt Frauen und Männer, die träumen, schlafen, schauen, erfahren. Und die Bildräume sind vielfach mit transparenten „Vorhängen“ in eine Atmosphäre versetzt, welche die „nackten“ Versuchsanordnungen um eine körperliche Wahrnehmungsebene erweitert.

Sandra Böschensteins ebenso poetisches, wie raffiniertes und mehrdeutiges zeichnerisches Schaffen ist ausgesprochen eigenständig, steht aber dennoch in der Tradition zeichnerischer Werke oder Werkgruppen wie sie in der Schweiz seit den 1960er/70er-Jahren in besonderer Zahl entstanden sind.

Bis 18. Oktober 2006