Alice Guggenheim (1896-1958)

Text Saur Lexikon Leipzig 2009

Autorenversion des Textes für das im Saur-Verlag in Leipzig erscheinende „Allgemeinen Künstler-Lexikons“, erschienen im Band „G“ ca. Ende 2009

Künstlername: Alice Guggenheim

Sortiernahme. Alice Guggenheim

And. N-Komb.: Alis Guggenheim

Cf-Künstler: Olivia Heussler, Fotografin (Enkelin von Alice Guggenheim)

Geschlecht: w

Bildkünstl. Beruf: Bildhauerin, Malerin

Staat (aktuell): Schweiz

GEO-Nachweis: Schweiz

Geburtsdatum: 8. März 1896

Todesdatum: 2. September 1958

Geburtsort: Lengnau

Letzte Erw.: 2009

Tätigkeitsort: Zürich, Paris, Muzzano

 

Alice (Alis) Guggenheim, Schweizer Plastikerin, Malerin. * 8. März 1896 in Zürich. + 2. September 1958 in Zürich. Wächst mit  sechs Geschwistern  in ärmlichen, traditionell jüdischen Verhältnissen in Lengnau (AG) auf. Vater Moses Guggenheim ist Viehhändler. 1910 zieht die Familie nach Zürich. Das Stadtleben ist ein Kulturschock. Von 1914-1925 schreibt sie reiche Tagebücher. Nach einer Lehre als Modistin eröffnet sie 1916 einen Hut-Salon. 1915 verliebt sich der russische Jus-Student Mischa Berson in die 19-Jährige und führt sie in die revolutionären Zürcher Zirkel ein. Das sozialistische Gedankengut wird für G lebenslang ein unantastbares Ideal sein.

Obwohl Berson verheiratet und Vater ist, reist sie 1919 mit ihm nach Moskau, um am Aufbau der neuen, russischen Gesellschaft mitzuwirken. Schwierigsten Lebensbedingungen und einer Distanzierung von Berson zum Trotz, nimmt sie ihre Schwangerschaft an, kehrt aber 1920 mit Töchterchen Ruth nach Zürich zurück. Sie übernimmt ihren Modesalon wieder und öffnet ihre kleine Wohnung für politisch-intellektuelle Diskussionen.  Bereits in Moskau war ihr „Kunst“ zur Vision geworden, nun modelliert sie allabendlich, belegt Kurse, kommt aber zum Schluss, sie müsse das „von innen heraus bilden können“. Ihr zentrales Interesse gilt der Figur, dem Menschen; in der Kunst wie im Leben. Von der „Moderne“ ist lebenslang nie die Rede.

1924/25 arbeitet sie einige Monate im Atelier von Karl Geiser. Obwohl die existenzielle Situation als Allein-Mutter, Kommunistin, Jüdin ist schwierig ist, verkauft sie 1925 ihren Salon, wird „ausübende“ Künstlerin und nennt sich fortan Alis.  Bewegt sich in traditionellen Zürcher Bildhauer-Kreisen. 1926 erste Ausstellungsbeteiligung. Da lebensgrosse Figuren unverkäuflich sind, schafft sie kleine Porträts, Büsten, Skulpturen im Geist der Zeit, die sie in Arbeiterkreisen verkauft. 1927 kleines Stipendium der jüdischen Gemeinde. 1928 modelliert sie die lebensgrosse „Frau I“. Die Jury der „Nationalen“ lehnt sie ab, sie wird aber an der SAFFA (Schweiz. Ausstellung für Frauenarbeit) gezeigt und danach in Bronze gegossen. So entgeht sie späterer Zerstörungswut von G und ist bis heute erhalten (Besitz der Stadt Zürich).

Das pionierhafte weibliche Selbstverständnis, das die „Frau I“ auszeichnet, wird erst viel später erkannt. G’s Wohnung ist in den 1930er-Jahren kommunistischer Treffpunkt, während dem 2. Weltkrieg Zufluchts-Ort für Emigranten. Wichtig ist die Bekanntschaft mit Max Raphael, der ihr 1932 im  Zürcher Tages-Anzeiger ein anerkennendes Porträt widmet. 1932-35 Studienaufenthalt in Paris und neuer Freundeskreis. Lernt Aristide Maillol kennen. Die Zeichnung gewinnt an Bedeutung; charakteristisch ist die plastische Form und die Anteilnahme an der Befindlichkeit der vielfach weiblichen Figuren. 1942 Umzug nach Muzzano (TI). Wird Malerin. Es entstehen Tessiner Landschaften, die nicht Weite, sondern Nähe suchen, Bäume, Rebberge, Mauern und Häuser als bild-architektonische Momente betonen.

Schreibt 1944 ausführlichen Lebenslauf (teilpubliziert in Kat. Aargauer Kunsthaus 1992). Reisen nach Italien und Frankreich. Malt die Hafen-Bilder von Camogli (1950/53). Bemalt neu auch (Gebrauchs)-Keramiken, die durch ihre Form eine kompositorische Herausforderung bilden. Wird in die GSMBK aufgenommen. Ab 1950 schafft G einen bewusst naiv-erzählerischen Zyklus mit Darstellungen zu den jüdischen Traditionen ihrer Kindheit. Dieser und weitere Werke werden 1954 in der Städt. Galerie im Strauhof in Zürich, 1955 im Kunstmuseum Bern gezeigt. G erhält 1954 den Kunstpreis des Schweiz. Israelitischen Gemeindebundes. Die Rezeption verkürzt sich zu Unrecht auf die „jüdische Malerin“. Dennoch kann G nun mehr Werke verkaufen denn je in ihrem Leben zuvor. 1958 erkrankt sie und stirbt nach wenigen Monaten. Ruth Heussler-Guggenheim (heute Enkelin Olivia Heussler) verwaltet den Nachlass. Die Retrospektive 1992 im Aargauer Kunsthaus in Aarau (96 Werke) zeichnet ein Gesamtkunstwerk von G als politisch engagierte, künstlerisch tätige Frau. Der schriftliche Nachlass (Tagebücher, Aufzeichnungen, Briefe) geht danach ans Sozialarchiv der Stadt Zürich; Dokumente zur Kunst verwahrt das Schweiz. Institut für Kunstwissenschaft.

 

Werke des Künstlers mit Standortnamen: AARAU Aargauer Kunsthaus. BASEL Jüdisches Museum der Schweiz. BERN Bundeskunstsammlung. ZÜRICH Städtische und Kantonale Sammlung.

Ausstellungen

E: 1954 ZürichStädt. Gal. zum Strauhof; 1993 Antiquariat P. Petrej; 1996 Stadthaus; 2006 Galerie Baviera. 1992 Aarau Aargauer Kunsthaus

G: 1926 ZürichKunsthaus; 1928 Bern SAFFA; 1955 Kunstmuseum 1998 Muzzano Centro communale 

Bibliographie:

Eigenpublikationen: Keine

Veröffentlichungen:

Wyss Johann Jakob: „Schweizer Künstlerinnen“, Sep. Druck aus „Schweizer Echo“ Nr. 9/11, Olten: Walter AG, 1928, S. 25-27.

Raphael Max: „Blick in Zürcher Ateliers“, in Tages-Anzeiger, Zürich 23. 11.1932.

Gasser Manuel: „Alis Guggenheim“, in Weltwoche, Zürich, 12.11.1954.

Hilde Wenzel: „Der Künstlerin Alice Guggenheim zum Gedenken“, Neue Bündner Zeitung, Chur, 1959

Beat Wismer/Paul-André Jaccard, Sammlungskatalog Aargauer Kunsthaus, Aarau, Band 2, Schweiz. Institut für Kunstwissenschaft, 1983, S. 174.

Angela Thomas: „Mit unverstelltem Blick, Bericht zu drei Künstlerinnen: Anna Baummann-Kienast, Alis Guggenheim, Sophie Taeuber-Arp“, Benteli-Verlag Bern, 1991, S. 83-111.

Hans Heinz Holz, Susanne Gisel-Pfankuch, Urs Hobi et al.: „Als ob ich selber nackt in Schnee und Regen stehe…“, Monographie Alis Guggenheim, Verlag Lars Müller, Baden, 1992.

Annelise Zwez: „Das muss ich von innen heraus bilden können“, Aargauer Tagblatt, 20. 10. 1992.

Niklaus Oberholzer: „Nackt in Regen und Schnee stehen“, Luzerner Zeitung, 24.10.1992.

Fritz Billeter: „Gross gewagt – und verloren“, züri-tip, 1. 10. 1993

„Alis Guggenheim“ WOZ (Wochenzeitung), Zürich, 15. 10. 1998 (aw).

Sibylle Omlin:  „ Frau“ in Regen und Schnee, Plastik von Alis Guggenheim im Zürcher Zweierpark, Neue Zürcher Zeitung, 19. Nov. 1999.

Monica Müller: „Die nackten Schönheiten unter uns“,  Tages-Anzeiger, Zürich, 31.1.2009

                                                                                                                                Annelise Zwez