VR-Ansprache für Barbara Heé Hans-Trudel-Haus Baden 2009

Auf den Spuren der Ausstrahlung

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Baden, 15. Januar 2009

Sehr geehrte Damen und Herren
Liebe Barbara

Es ist morgens 8.20 Uhr. Barbara Heé hat ihren siebenjährigen Sohn in die Schule gebracht. Auch ihr Lebenspartner ist bereits unterwegs. Sie ist allein in der grosszügig angelegten Altbau-Wohnung an der Freiestrasse in Zürich. Zeit für Flausen hat sie keine. Denn die tägliche Zielsetzung lautet: In den Stunden bis Mittag mindestens einen Zeichenblock füllen. Er hat die Grösse wie Sie es in den Zeichnungen an der Wand sehen. Er hat 13 Blatt. „Nichts Hochkarätiges, ich habe ihn mal in einer Papeterie im Engadin entdeckt und seine „gewobene“ Struktur und die Grösse haben mir gefallen; seither bestelle ich da immer neue und trenne die Blätter voneinander, sodass ich sie einzeln zur Verfügung habe “, sagt die Künstlerin.

Sie legt ein Blatt vor sich – mal am Zeichentisch, mal am Boden oder am niedrigen Tisch vor dem Sofa, je nach Tag, Lust und Laune. Keine Musik. Stille. Es gilt, sich möglichst schnell fallen zu lassen, die Konzentration zu finden, die sie mit dem „kreativen Fluss“, wie es nennt, in Verbindung bringt. Sie krümmt die Finger der linken Hand, vielleicht nur leicht, sodass sie jederzeit spielen können, vielleicht schliesst sie die Hand aber auch zur Faust. Sie ist dann fast wie eine Skulptur.

In der rechten Hand hat sie einen Pinsel, er hat nur wenige Haare – auch hier sagt die Künstlerin „nichts Spezielles, die übrigen sind ihm einfach ausgegangen, aber das ist gut so.“ Der Pinsel ist getränkt mit einer lichtechten, Indigo-Aquarellfarbe, oder auch einer braun-roten. Ich weiss nicht, ob die Künstlerin jetzt die Augen schliesst, aber ich stelle es mir so vor, vielleicht schaut sie auch mit einem Auge nach innen und mit dem anderen nach aussen. Beide Hände sind jetzt mit ihren zugeordneten Hirnhälften – links mit rechts und rechts mit links – verbunden. Die linke Hand beginnt sich zu drehen und wenden, die Finger spielen auf einem imaginären Klavier; die rechte Hand umfährt die linke, hält fest, was da geschieht, vielleicht schnell, vielleicht auch langsam, sodass der Pinsel mehr oder weniger intensive Spuren auf dem Papier hinterlässt. Möglich, dass er bereits wieder Farb-Nachschub braucht, um Intensität zu erzeugen, vielleicht ist seine Arbeit aber auch schon nach relativ kurzer Zeit beendet.  Voraussagen kann die Künstlerin das nicht, will sie auch nicht, denn „nur wenn ich den Anfang finde, kann etwas entstehen. Es geht nicht um Können, sondern um Werden.“

Sie nimmt das nächste Blatt, die Choreographie ist für diesen Morgen wahrscheinlich mehr oder weniger festgelegt, das heisst, die Hand bewegt sich für das zweite, dritte, vierte… Blatt ähnlich und auch die rechte hat sich auf  ein Programm eingelassen. Aber ähnlich wie bei der Tänzerin oder der Klavierspielerin, ist jede Wiederholung  anders, wenig anders, aber möglicherweise entscheidend anders.

Die Produktion des Vormittags wird gebündelt und beiseite gelegt. Irgendwann in der folgenden Zeit, „wenn ich mich sehr sicher fühle“, wird das Bündel hervornehmen, die Blätter ausbreiten und eine Triage vornehmen. Gelungen, nicht gelungen – fast wie einst beim Margrittchenblätter zupfen „ er liebt mich, er liebt mich nicht“ . Manchmal  hilft Sohn Philipp dabei. „Ich bin jedes Mal verblüfft, wie sicher Kinder spüren, wo etwas stimmt, und wo nicht.“

Was stimmt oder stimmt nicht?  Für diese Antwort sind Sie als Besucher der Ausstellung von Barbara Heé gefordert. Sie stehen jetzt vor den Blättern. Vielleicht kann man die Frage klarer stellen. Nicht „was stimmt“, sondern „was klingt“, wo ist ein Rhythmus, eine Vibration, eine Verdichtung, ein Ablauf „im Fluss“ oder vielleicht auch „bei sich selbst“. Wo gelang es der Künstlerin, sich auszuschalten und doch ganz präsent zu sein.  – Jetzt habe ich gerade einen Satz gesagt, denn ich auch schon geschrieben habe, im Zusammenhang mit Emma Kunz, der Pendlerin. Auch sie musste sich beim Pendeln in diesen Zustand bringen, wo sie keine Befehle gab aber gleichzeitig alle Impulse, die kamen, auf ihre Hand übertrug. Das nur so als Ausflug oder, wenn Sie wollen, mehr.

Barbara Heé hat schon vor sechs Jahren hier im Hans-Trudel-Haus ausgestellt. Damals stand ein „Teppich“ aus 99 sich leicht voneinander unterscheidenden Tonkuben im Zentrum. Jeden hatte die Künstlerin mit ihren Händen unendlich viele Male gewälzt. Auch Landschafts-Fotografien und Zeichnungen waren zu sehen. „Ein beeindruckender Drei-Klang“, schrieb ich damals in der Zeitung.

Die „Skulptur“ trat  danach in den Hintergrund, zumindest was die Erscheinungsform von greifbarer Materie im realen Raum anbetrifft. In den letzten grösseren Ausstellungen stand die Fotografie im Zentrum. Während acht Jahren hat Barbara Heé immer wieder den praktisch selben Blick auf den Bergzug, welcher den Silsersee im Engadin säumt,  fotografiert. Im Spätherbst, wenn erst wenig Schnee lag oder im Frühling, wenn der meiste Schnee bereits geschmolzen war. An Tagen, da der See still war und sich der Bergkamm im Wasser spiegelte. Mal holte sie sich ihn mit dem Zoom in die Nähe, mal schaute sie respektive die Kamera aus grösstmöglicher Distanz. Immer formten sich dieselben Muster, verdoppelte sich oben und unten, Materie und Spiegelung. Hundertfach hat sie dasselbe Motiv aufgenommen und dann auf die feinsten Differenzen hin durchschaut und die Variationen zur Gruppe formiert.  Dasselbe ist nie dasselbe, nur sehen wir das meist nicht.

Seit 2006 arbeitet Barbara Heé am Zyklus von Zeichnungen,  von denen wir hier 51 in strenger Ordnung aufgehängt sehen. Seit 2006 macht die Künstlerin immer dasselbe. Sie sitzt vor dem Papier, tränkt den Pinsel, wartet darauf, was die linke Hand ihr an diesem Tag sagt und hält es mit der rechten fest. „Wenn ich verkrampft bin, wechsle ich auch mal die Seiten, dann spielt die rechte Hand und die linke hält den Pinsel, aber das ist eher selten“. 

Während Jahren an jedem Arbeitstag dasselbe machen – wenn wir das irgendwo hören, ist unsere Assoziation wahrscheinlich „Fliessbandarbeit“; aber das ist hier definitiv die falsche Fährte. Denn der Reichtum der Ausstellung  von Barbara Heé belehrt uns nicht nur eines anderen, sondern geradezu des Gegenteils. Das Verharren, das immer wieder Ausloten, das noch einmal Hinhören, das noch feiner Registrieren zeigt uns in der Vielfalt die Komplexität, die Feinnervigkeit, die in den Strukturen all unseren Tuns, Denkens, Fühlens steckt. Zu jeder Zeit.

Dass es  Barbara Heé gelingen kann, uns dies zu zeigen, hängt nicht zuletzt mit dem Motiv zusammen. Mit der Hand. Haben die Hände zur Zeit der Skulpturen die Materie unablässig geformt, so sind sie in den Zeichnungen selbst Thema.  Sie bearbeiten hier nicht Greifbares, sondern formen, wenden, drehen, umspielen gewissermassen  Luft- oder Hohlkörper. Essentiell sind aber nicht die inneren Formen, die dabei entstehen, sondern die Bewegungen, welche sie zeichnen.  Aber die Hand ist sowohl in den Skulpturen wie in den Zeichnungen das Entscheidende, sie ist die Mittlerin.

Unsere Hände sind so wichtig wie unsere Augen, die einen schauen, die anderen tun und beide im Doppelpack. Während aber die Augen gekoppelt sind – wir können nicht mit einem Auge dies und mit dem anderen etwas anderes sehen,  sind die Hände, je nach Training, fähig, zwei verschiedene Dinge zu tun. Ich habe Barbara Heé gefragt, ob es eine Abhängigkeit gebe, zwischen der Geschwindigkeit, mit welcher sie die linke Hand bewegt und der Pinsel in der rechten zeichnet.  Und war nicht verwundert als sie das verneinte. Einer Pianistin gleich können Langsamkeit und Schnelligkeit  mehr oder weniger unabhängig voneinander agieren, was die zeichnerischen Möglichkeiten selbstverständlich potenziert. Wir sehen es in allen Stockwerken.

Zuweilen sagt man, die Zeichnung sei eine mindere Gattung, quasi eine Vorbereitung auf etwas Grösseres. Die Ausstellung von Barbara Heé belehrt uns eines besseren. Doppelt. Zum einen gibt es kein anderes Medium, das so direkt mit den Impulsen des Gehirns verbunden ist, wie die Zeichnung – die Hand ist gleichsam Seismograph dessen, was unsere Gehirn wahrnimmt, umformt und aussendet. Wenn im Weiteren die  Hand darüber hinaus zum Motiv wird, werden die Blätter zum Thema ihrer selbst. Das heisst, die Zeichnungen von Barbara Heé thematisieren, dass sie Seismographen energetischer Impulse sind und sind es gleichzeitig. Thema und Medium sind ein und dasselbe. Gerade das ist das Faszinierende an dieser Werkgruppe und nur die Zeichnung – das liegt nun auf der Hand – kann das verbildlichen und demzufolge kann sie auch keine Vorbereitung auf etwas sogenannt „Grösseres“ sein.

Aber, und auch das sehen wir in der Ausstellung, es gibt immer wieder neue Facetten, das Thema der Hand als Energie übertragendes Medium bildnerisch umzusetzen. In alten Stockwerken finden wir Spots auf eine neue Werkgruppe, die sich seit einiger Zeit anbahnt. Eine farbige, malerische. Die Wälzkörper, die vor sechs Jahren hier waren und aktuell in einem grossen Metall-Gestell in der Wohnung von Barbara Heé feinsäuberlich aufgereiht sind, kommen in einer neuen Funktion zum Zug. Sie, welche die Energie der Hände quasi materiell in sich tragen, werden nun zum Mal-Mittel, das heisst die Künstlerin nimmt sie, färbt sie ein und wälzt sie erneut. Diesmal aber nicht im Hinblick auf Form, sondern auf Abdruck, auf Sichtbar-machung dessen, was sie in sich tragen.

Gut möglich, dass es die Fotografie ist, welche die Künstlerin zu diesem Schritt bewog, denn auch die Fotografien sind in gewissem Sinn visuelle Abdrucke von in der Materie verdichteter Energie. Einmal mehr gelingt Barbara Heé mit dieser neuen Facette somit eine Folgerichtigkeit innerhalb ihres konzentrierten Werkes, die verblüfft und in ihrer inneren Logik berührt. Schauen Sie und lassen Sie sich ihrerseits berühren!

Ich danke fürs Zuhören.