Ruth Burri Retrospektive Siselen 2011

Als die Brüste laufen lernten

www.annelisezwez.ch       Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 28. September 2011

Die Künstlerin Ruth Burri gehört zu den Pionierinnen der sich vor 50 Jahren emanzipierenden Kunst von Frauen. In der Galerie von Regina Larsson in Siselen ist eine Retrospektive zu sehen.

Es ist vermutlich die erste, so konsequent als Retrospektive angelegte Ausstellung, die Regina Larsson in ihrer Galerie in Siselen  für das in 50 Jahren entstandene Schaffen der Berner Künstlerin Ruth Burri (geb. 1935) eingerichtet hat.  Sie zeigt zum einen die Pionierrolle, die dem Frühwerk in Bezug auf die Befreiung der Kunst von Frauen  aus ihren Rollen-Schemen zukommt. Die Sexualität darf sich darin erstmals auch als lustvolle weibliche Fantasie zeigen. Zum andern birgt die Ausstellung eine erstaunliche, stilistische  Einheit; die Formen von einst sind auch in neuen Werken immer noch da.

1958 folgte die jungverheiratete Frau ihrem Mann nach São Paulo in Brasilien. „Unsere Situation war alles andere als einfach“, erinnern sich die beiden. Er war beruflich unterwegs und sie allein zuhause. Schon nach wenigen Jahren ist die Familie fünfköpfig. Langweilig ist es immer noch. Da beginnt Ruth Burri mit Ton zu experimentieren.

„Eigentlich war es ein Spielen mit den Kindern“, sagt sie.  Und: „Die Kinder waren besser als ich“. Dann findet sie den Weg an die lokale Kunstschule und beginnt insbesondere zu radieren. Die frühen Skulpturen blieben bei der Rückkehr in Brasilien, aber die Grafiken kamen mit. Sie zeigen, wie an Beispielen zu sehen ist, teppichartig verwobene Köpfe und Körper, die sich zeichenhaft auf dem Blatt ausbreiten und den Blick ins Körperinnere offen preis geben. Verhaltene Einflüsse der präkolumbianischen und der farbenfrohen indianisch-christlichen Kunst sind sichtbar.

1968 kommen die Burris zurück in die Schweiz, zunächst nach Lausanne (bis 1972), dann in den Raum Bern. Erstaunlicherweise  sind die Arbeiten Ruth Burris hier nicht fremd. Über die zweite, die sinnlichere Hochblüte von Surrealismus und Fantastik hat man in den 1960er-Jahren auch hier eine künstlerische Sprache entwickelt, die Traditionen mit exotischen Formen sprengte. Im Vergleich zu Blättern von Lilly Keller aus derselben Zeit (sie waren kürzlich in Grenchen zu sehen), arbeitet Ruth Burri unverfrorener, direkter, körperbetonter, vor allem in den nun aufkommenden Skulpturen aus Holz, Gips, später auch Polyester und Blech. Ihre Brüste in Form von „Bauchläden“ sind frech und köstlich und damals sehr gewagt.

Ruth Burris Werk findet im Bern der 1970er- und vor allem auch 1980er-Jahre ein gutes Echo, was ihre Figuren im eigentlichen Sinn des Wortes beflügelt. Oft sind Arme und Flügel  kaum zu unterscheiden. Sie malt nun auch,  nähert sich darin der Abstraktion, doch mit wenigen Ausnahmen lässt die Ausstellung in Siselen immer wieder die Skulpturen, die Reliefs, die offenen und geschlossenen Kästen in den Vordergrund rücken. Ruth Burris Stärke ist die überraschende Art wie sie Figürliches tanzen  und sie von der neuen Freiheit der Nach-68er-Jahre singen lässt.

Von institutioneller Seite – etwa der Kunsthalle oder dem Museum –  kommt kein Echo. Ruth Burri kämpft nicht darum, Karriere-Ehrgeiz fehlt ihr, wie vielen Frauen ihrer Generation. Auch eine künstlerische Entwicklung  hin zu neuen Themen ist nicht im engeren Sinn festzustellen. Und weil das, was zuvor weiblichen Zündstoff barg, nicht mehr provoziert, verblasst Ruth Burris Stern in den 1990er-Jahren ein wenig, obwohl die Künstlerin – das zeigt Siselen deutlich – unermüdlich weiter arbeitet und innerhalb ihres Vokabulars auch gestalterisch immer sicherer wird.

Ganz erstaunlich ist zum Beispiel eine Serie von sieben grossformatigen Reliefs von 2011, die auf der malerischen Ebene allesamt Frauen in gestreiften Kleidern zeigen, die Brüste als runde Kugeln vor sich tragen, auf Bauchhöhe eine eigenartige Wölbung zeigen, die nicht auf Schwangerschaft verweist und als Kopf ein bemaltes Holz aufgenagelt haben.  Ruth Burri mag sie nicht interpretieren – das mehr als 1000 Arbeiten umfassende Werk der 76-Jährige fusst bis heute auf dem Glauben an die Kreativität des Intuitiven, das keine Worte will.

 

Ruth Burri – Retrospektive. Bilder und Objekte. Galerie 25 Regina Larsson (Käsereiweg 1), Siselen. Bis 30. Oktober 2011. Fr/Sa/So 14 – 19 Uhr.

 

Bilder: azw
 

Ruth Burri

Geboren am 17. Januar 1935 in Bern.

Schulen und Lehrerinnen-Seminar in Bern.

1958 – 1968 in Brasilien; Kurse in der Fundação Armando Alvares Penteado in São Paulo.

1968 – 1972 im Raum Lausanne; seither in Worb respektive Seftigen.

Mitglied von Visarte Schweiz und der Schweizerischen Gesellschaft Bildender Künstlerinnen (SGBK).

Radierungen bei Hansjörg Brunner. Lithographien bei Nik Hausmann.

Ab 1973 Zahlreiche Einzel- und Gruppen-Ausstellungen, vor allem in der Schweiz, insbesondere im Kanton Bern.