Schweizer Kunst – vom Auf und Ab eines Labels

Gedanken nach (fast) 40 Jahren Schreiben über Kunst

 

www.annelisezwez.ch     Annelise Zwez in „Schweizer Kunst“, Zeitschrift der Visarte Schweiz

 

Als die Kunsthistorikerin Marie-Louise Lienhard in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre aus New York nach Zürich zurückkehrte und als erste ständige Direktorin die Leitung des Zürcher „Helmhaus“ übernahm, wunderte man sich in der Szene. Wie kann man nur aus New York nach Zürich zurückkehren, den „Diskurs in der Enge“ freiwillig wieder aufnehmen! Den Verwunderten pflegte Marie-Louise Lienhard sinngemäss zu antworten: Auch in New York kochen die Künstler nur mit Wasser. Und: Alle Künstler und Künstlerinnen sind irgendwo lokale Kunstschaffende. Sie startete dementsprechend ihre Ära mit einer Ausstellung eines wichtigen Zürcher Künstlers, mit dem konstruktiv arbeitenden Florian Grahnwehr. Dass der 68-jährige Raum-Plastiker (und Lebenspartner der Kunstkritikerin Ludmila Vachtova) heute fast nur im Umfeld des „Haus konstruktiv“ wahrgenommen wird, ist nicht untypisch für die Situation eines Schweizer Künstlers seiner Generation.

Marie-Louise Lienhards Aussage ist heute so richtig wie damals, nur würde sich wahrscheinlich kein Direktor einer grösseren öffentlichen Institution heute damit aus dem Fenster lehnen. Auch Lienhard äusserte sich im Kontext der Zeit, ja sogar bereits mit ihrer Erinnerung an die 1970er-Jahre, das heisst vor ihrem familiär begründeten Umzug in die USA. Im Umfeld der 1968er-Jahre hatte sich in der Schweiz  Erstaunliches vollzogen: Die bisher enorm regional rezipierte und vielerorten erst wenige Jahre zuvor zur Ungegenständlichkeit vorgedrungene Kunst in der Schweiz wurde im Sog einer explodierenden Zahl von Kunstschaffenden und wie Pilze aus dem Boden schiessenden Galerien landauf, landab plötzlich als nationale Plattform der Kreativität wahrgenommen. Man begann über „rote Fäden“ quer durchs Land nachzudenken, die Zeitungen suchten über Kunst Schreibende, um dieses neue Interesse an der bildenden Kunst in die Blätter zu bringen.

Erstaunlicherweise waren es nicht Zürich oder Basel, welche tonangebend waren. Hier war der Nachholbedarf nicht so gross und entsprechend bildete sich da auch keine Sprengkraft. Es waren unter anderem die Innerschweiz und im Dialog mit ihr auch der Aargau sowie Bern und Genf, die plötzlich ins Blickfeld rückten. Insbesondere von Luzern aus entstand so etwas wie die Vorstellung von „Schweizer Kunst“, eine Kunst „mit Eigensinn“, die in erzählerischer Manier Mythologisches und persönliche Befindlichkeit in erstaunlicher Unabhängigkeit zu internationalen Trends in Zeichnungen, aber auch Bildern und Skulpturen visualisierte. Ihr Exeget war in erster Linie Theo Kneubühler. Ihr Aussteller jedoch ist primär Jean-Christoph Ammann (zu dieser Zeit Direktor des Kunstmuseums Luzern). Ammann war ein enger Freund von Harald Szeemann, der seinerseits wichtige

Aspekte dieser regionalen und auch in Bern manifesten Bewegung in die „Documenta 72

“ einfliessen liess. Nicht zuletzt dadurch wird auch das Ausland auf die „Schweizer Kunst“ aufmerksam, was eine Fülle von Ausstellungen mit „Junger Schweizer Kunst“ zur Folge hat. Erstmals sind auch Künstlerinnen mit dabei – wenige erst, aber immerhin – unter ihnen Marianne Eigenheer und als Doyenne Ilse Weber, die Mutter von Marie-Louise-Lienhard.

 

Die Euphorie – ja man kann das so sagen – lockt auch die Sammler aus dem Busch. In den 1970er-Jahren schreibt nicht nur Heiny Widmer, Direktor des Aargauer Kunsthauses, die Ausrichtung „seines“ Hauses als Zentrum für Schweizer Kunst fest, der Hype ist auch Initialzündung für zahlreiche bis heute wichtige Privatsammlungen. Als herausragendes Beispiel sei jene von Peter Bosshard genannt, die heute ihren Sitz im „KunstZeugHaus“ in Rapperswil hat und als eine der wenigen an ihrem Profil „Kunst aus der Schweiz“ festgehalten hat. Jenen, die da heute „Enge“ wittern, sei gesagt, dass derselbe Peter Bosshard auch federführend war bei der Gründung der Kunsthalle Zürich (1987) mit ihrem Auftrag wichtige internationale Positionen in der Schweiz zu zeigen. Das heisst, das eine ist nicht anders als das andere, es steht in einem kontinuierlichen Austausch und beeinflusst sich gegenseitig.

1981 veranstaltet Martin Kunz im Kunstmuseum Luzern eine zwar umstrittene, aber dennoch bis heute wichtige Ausstellung: „CH 70-80“. Diese versucht, dieses Aufblühen der Kunst in der Schweiz in seinen verschiedenen Facetten zu greifen und auch auf die Väter und Mütter hinzuweisen sowie die Anfänge der noch sehr neuen Richtung der „Neuen Medien“ zu skizzieren. Mit einem Künstlerspektrum, das von John Armleder (Genf), Chérif und Silvie Défraoui (Genf) und Markus Raetz (Bern) über Martin Disler (Olten), Heiner Kielholz (Aarau) und Claude Sandoz (Luzern) bis Urs Lüthi (Zürich) und Niele Toroni (Paris) reicht, beschränkt er sich nicht auf die Innerschweiz, sondern auf einen Aufbruch in grösserem Kontext.

Auffallend ist dabei das vollständige Fehlen von Ostschweizer Kunstschaffenden, was indirekt auf die Bedeutung der Rezeption künstlerischer Strömungen in einer Region hinweist. Der Grund dafür ist, dass das  Kunstmuseum St. Gallen ist  von 1970 bis 1987 geschlossen ist, was zur Folge hat, dass nach Empfinden vieler Deutschschweizer Kunstfreunde die Schweizer Kunstszene in dieser Zeit in Winterthur aufhört. Entsprechend schwer haben es Ostschweizer Künstlerinnen und Künstler sich überregional Gehör zu verschaffen. Das ändert sich erst mit den neuen Kunst-Räumen in der Kartause Ittingen (ab 1983), der Wiedereröffnung des Kunstmuseums St. Gallen 1987 und der Renovation des Kunsthauses in Chur Ende der 1980er-Jahre; auch dies ist ein Ausdruck des Booms der Schweizer Kunst in dieser Zeit.

Mit der von Toni Stooss und Ursula Perucchi kuratierten  Ausstellung „Stiller Nachmittag“ im Kunsthaus Zürich feiert die „Schweizer Kunst“ als überaus positiv besetzter und mit Stolz eingesetzter Begriff 1987 seinen Höhepunkt. Prominent vertreten sind unter anderem Fischli/Weiss, Martin Disler, Miriam Cahn,  Anselm Stalder, Josef Felix Müller, Carmen Perrin, Klaudia Schifferle, Christoph Rütimann, Hannah Villiger, Eric Lanz. Die stattliche Zahl von Künstlerinnen zeigt indirekt auf, dass es den Frauen in den 1980er-Jahren gelungen ist, den Aufwind der „Schweizer Kunst“ zu nutzen.

Ab Mitte der 1990er-Jahren vollzieht sich ein Wandel.  Parallel zur Elektronisierung der Welt treten die „Neuen  Medien“ (die technischen Medien) ihren Siegeszug an und mit der wachsenden Leichtigkeit sie digital in alle Ecken der Welt zu senden, greifen sie sich ihren Welt-Raum. Die Kunst wird grenzenlos. Die Kunstschaffenden werden mehr und mehr zu Nomaden. Dass der Begriff „Schweizer Kunst“ hier weniger und weniger passt, liegt auf der Hand.

Allerdings ist der Wandel zumindest zum Teil rein psychologischer  Natur. Es ist ganz klar, dass die Entwicklung der Kunst zu allen Zeiten eine internationale war. So gehörte es für die Künstler des 18. Jahrhunderts geradezu zum guten Ton, mindestens einmal nach Rom gepilgert zu sein. Die Bündnerin Angelika Kaufmann ist ein Paradebeispiel für die Internationalität des 18. Jahrhunderts. Und welch enormen Einfluss hatte der französische Impressionismus auf die Kunstschaffenden in der Schweiz! Wenn ab den 1970er-Jahren plötzlich der Begriff „Schweizer Kunst“ auftaucht, so hat das nichts mit einer Retrohaltung zu tun, auch da nicht, wo Schweizer Geschichte zum Kunstthema wird wie zum Beispiel 1981 das „Stanser Verkommnis“, das 30 Schweizer Künstler zu einer der ersten grossen Freilichtausstellungen in und um Sachseln versammelt. Es ist vielmehr so, dass sich in der Schweiz in dieser Zeit die Bedeutung der zeitgenössischen Kunst als nationale Plattform einer kritischen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft durchsetzt, im Kunstmarkt einen Wert erhält, ähnlich wie die Schweizer Uhr.

So sind es denn in den 1990er-Jahren auch nicht nur die Neuen Medien, die zu einem Wandel in der Beziehung zum Begriff „Schweizer Kunst“ beitragen, sondern auch der auf ganze Generationen wie ein Schock wirkende Zerfall der Identifizierung mit dem eigenen Land, das Gefühl jahrzehntelang angelogen geworden zu sein bezüglich der Haltung der Schweiz im 2. Weltkrieg. „Schweizer Kunst“ hat plötzlich einen braunen Beigeschmack. Weg damit! Obwohl sich an der Haltung der hier arbeitenden Künstlerinnen und Künstler nichts geändert hat, obwohl Schweizer Kunstschaffende im Ausland weiterhin und sogar in stetig steigendem Mass auf Anerkennung stossen. Dies umsomehr als die Lifestyle-Welle der 1990er-Jahre den – mit wenigen Ausnahmen – tendenziell apolitischen Haltung der Schweizer Kunstschaffenden entgegenkommt. Man denke somit nicht an Thomas Hirschhorn, sondern an Fischli/Weiss, an Roman Signer, an Pipilotti Rist, Ugo Rondinone, Sylvie Fleurie, Olaf Breuning und andere mehr.

Dass sich mit der Abwertung des Begriffs schleichend eine Abwertung des von Schweizer Künstlern und Künstlerinnen im Inland produzierten Kunstschaffens einhergeht, ist indes fatal. „Shifting Identities“ – die Nach-Nachfolge-Ausstellung des „Stillen Nachmittags“ zeigt die Mühe des Landes mit der eigenen Kunst beispielhaft auf. Mirjam Varadinis zeigt (mehrheitlich) Schweizer Kunstschaffende, betont aber zugleich, dass sie natürlich nicht nur Schweizer seien….. Internationale Vernetzung ist heute selbstverständlich, aber wieso muss der Schweizer Anteil daran geradezu ein „Schimpfwort“ sein? Wieso wird die unglaubliche Dichte an Museen, Kunsthallen, Kunsträumen, Off-Spaces, Galerien nicht als weltweites Ereignis gefeiert? Wieso sind die vermutlich nirgendwo sonst so multikulturell angelegten lokalen Kunstszenen, welche die Lebendigkeit des Schweizer Kunstbetriebs mit in Gang halten, a priori „provinziell“?

Ein Faktor in dieser einmal mehr psychologischen Situation ist nicht zuletzt die steigende Zahl von Kuratoren und Kuratorinnen, die sich „ihre“ Kunst nach ihrem Gusto kreieren… und sich dabei selbstverständlich auf „globalisiertem“ Niveau bewegen, sprich: nur gnadenhalber einige Schweizer Künstler oder in der Schweiz tätige Künstlerinnen mit einbeziehen oder es geradezu als „Preis“ kennzeichnen, wenn sie bei einer internationalen Themenausstellung auch einer Künstlerin aus der Region eine Chance geben…

Gut gibt es Ausnahmen, welche die Regel bestätigen. Denn die tendenzielle Ausgrenzung der Schweizer Kunstschaffenden in ihrem eigenen Land, hat nicht zuletzt zur Folge, dass sich ein Graben zwischen den hier mit grossem  künstlerischem und kulturpolitischem Engagement tätigen Kunstschaffenden und dem, was in öffentlichen Institutionen gezeigt wird, auftut. Ohne zu bedenken, dass vielfach sie es sind, die das Gespräch mit der Bevölkerung führen, die in ihre Ateliers einladen, in Diskussionen Red und Antwort stehen und so die Brücke zur zeitgenössischen Kunst schlagen. Dies ist umso wichtiger, als das globale Netzwerk „Kunst“  zur Zeit bis zu einem gewissen Grad ein Selbstläufer ist, das heisst, die Vernetzten drehen sich weltweit um sich selbst und realisieren nicht, dass ihnen die Basis entgleitet.

Der Grund, dass die zeitgenössische Kunst in einer breiteren Bevölkerung an Bedeutung verloren hat, dass sie sich mehr und mehr in Insiderkreisen abspielt und nicht zuletzt deswegen von den Medien mehr und mehr an den Rand gedrängt wird, liegt zum Teil genau in diesem Verlust.

Noch einmal: Gut gibt es Ausnahmen. Eine davon ist das Förderprogramm „Binding Sélection d’Artistes“, das Monographien zu Schweizer Kunstschaffenden verbunden mit einem Beitrag an eine Übersichtsausstellung in einem Schweizer Museum unterstützt. Dass diese Beiträge sowohl den Kunstschaffenden wie den fast durchwegs mit finanziellen Problemen kämpfen-den Museen nützt, macht es zu einem Win-Win-Programm, das für die „Schweizer Kunst“ von grosser Bedeutung ist. Denn es sei die Behauptung gewagt, dass dieses grosszügige Programm wesentlich dazu beigetragen hat, dass wichtige Einzelausstellungen wie jene von Valérie Favre in Luzern, Corsin Fontana in Chur, Max Matter in Solothurn, Hannes Brunner in Biel, Lisa Hoever in Winterthur, Ulrich Meister in Schaffhausen, Alex Hanimann in Aarau, Alain Huck in Vevey, Silvie Défraoui in St. Gallen usw. überhaupt realisiert wurden.

Summa summarum: „Schweizer Kunst“  ist die auf der Basis internationaler Strömungen in der Schweiz entstehende Kunst. Sie durch aktive Förderung und Präsentation sichtbar zu machen und in eine Balance mit internationalen Ausstellungen zu stellen, ist nicht nur für die in der Schweiz tätigen Kunstschaffenden selbst wichtig, sondern für das kulturpolitische Klima in der Schweiz insgesamt von eminenter Bedeutung.

 

Bildlegenden:

Marianne Eigenheer – Katalog „Schweiz 70-80“, Kunstmuseum Luzern. Bild: azw

Blick in die Sammlung von Peter Bosshard im KunstZeugHaus in Rapperswil. Bild: zvg

Claudia Schifferle, Lithographie, 1984. Bild: azw

Hannes Brunner in der Ausstellung im Centre Pasquart in Biel, 2009. Bild: azw