Markus Müller Ausstellungsraum asieben Rombach 2013

Die Parameter als Wundertüte

Annelise Zwez

 

Sehr geehrte Damen und Herren, Lieber Markus

Je älter man wird, desto eher verschweigt man sein Alter respektive Einordnungen, die rechnerisch allzu leicht umzusetzen sind. Markus Müller und ich selbst gehören klar in diese Kategorie. Doch macht das Rechnen hier Sinn. Denn es ist schiergar unglaublich: Vor bald einmal 40 Jahren, 1974, habe ich ein erstes Porträt Markus Müller geschrieben; für den Aargauer Kurier, in dem ich wöchentlich zwei Kulturseiten zur Verfügung hatte.

Das Erstaunliche ist aber beileibe nicht der Zeithorizont, sondern dass alles, was mir Markus Müller damals sagte und ich getreulich nacherzählte, aus heutiger Sicht so „logisch“ erscheint. Markus Müller hat in den 50 Jahren seiner künstlerischen Tätigkeit ein Werk ohne Brüche verwirklicht. Nicht im Stil von Niele Toroni, der seit den späten 60er-Jahren Abdrücke von Pinsel Nr. 60 multipliziert, aber konzeptuell, das heisst thematisch und in gewissem Sinn methodisch. Bis zurück in die Pop Art-Zeit ging es immer um Menschen und Dinge respektive die Aussen- und Innenformen, die sie in den Luftraum „brennen“. Um Hüllen.

Der AHV-Generation noch immer in Erinnerung sind die Girls, die sich an der Weihnachtsausstellung 1972/73 zu bestimmten Zeiten in Bikinis in einer grossen Plastikhülle räkelten. Das Problem war indes, dass man aufgrund des knisternden Motivs den konzeptuellen Hintergrund – die Verdrängung von Luft durch feste Körper und dies in einem definierten Luft-Raum – nicht eigentlich zur Kenntnis nehmen wollte, auch wenn der Künstler durchaus davon sprach. Der soziale Aspekt des Motivs war einfach zu verführerisch. Ich muss gestehen, dass ich auch von der Crémeschnitten-Serie, die Markus Müller 1981 in einer von mir selbst kuratierten Ausstellung in der Stadtbibliothek Lenzburg zeigte, vor allem die Anekdote in Erinnerung habe, wonach er die crèmige Schnitte nach dem Fotografieren im Zeichensaal der Bezirksschule Lenzburg genüsslich aufgegessen habe, da er sie ja für die Entwicklung der Theorie dazu, nämlich die bildnerische Auflösung der Präsenz des Objektes im Raum, nicht mehr benötigte.

So schlich sich in die oberflächliche Rezeption seines Werkes früh eine Art Missverständnis ein. Vielleicht gehört dazu, dass die Erscheinung des Künstlers auch einfach nicht einem Menschen entsprach, der am liebsten nur Luft wäre.

„Es kann schon sein, dass ich alles, was ich in dieser Ausstellung zeige, darum gemacht habe, weil dieses Ablenkmanöver hier nicht mehr möglich ist“, sagte mir Markus Müller vor wenigen Tagen.

Dies wird umso deutlicher, wenn wir die Chronologie der Werke hier im Raum betrachten. Nach Schema X gehen wir davon aus, dass für ein Werk zunächst Skizzen entstehen, vielleicht sogar Pläne, und dann die Ausführung erfolgt. Das ist hier nicht der Fall. Abgesehen von den Girlanden, welche die Verbindungslinie bis in die späten 1970er-Jahre nach- respektive rückzeichnet, ist der primäre Blickfang das Konvolut der sechs grossformatigen Ölbilder auf Leinwand, die im Zentrum hier einen komplexen, von der Grösse der Bilder her definierten Innen-Raum umschreiben. Sie entstanden bereits 1996 bis -98, während die Arbeiten auf Papier hauptsächlich zwischen 2006 und 2013 entstanden.

Damals, das heisst 1996, entstand das erste der grossen Bilder, die „Wolke“, gefolgt von „Der Schwimmer“ und dann 1997 „Das Kleid“ und „Schlafen“ und zuletzt „Tanzen“ und „Träumen/Das Leben“.

Seinem immer wieder erstaunlich zurückhaltenden Naturel entsprechend, zeigte Markus Müller 1997 in der „Neuen Galerie“ von Carlo Mettauer nicht diese neuesten Arbeiten, sondern alles zum Thema der Girlande, die in ihrem Inneren einen Körper-Luftraum hat, der den Massen des Künstlers entspricht. „Was würde, wenn ich ein Loch aus Luft wäre“ betitelte ich damals meinen Text in der Aargauer Zeitung. Das Neue war nicht der ausgesparte Raum, sondern das Wörtchen „ich“. Erstmals beobachtete, hinterfragte er nicht Andere und Anderes, sondern sich selbst. Das ist kunstgeschichtlich nichts Aussergewöhnliches; Bruce Naumann hat seine Masse schon um 1968 zum „Meterstab“ gemacht. Aber für Markus Müller ist es ein Schritt und ich behaupte, dass bei aller Konzeptualität der Methode, diese Ausstellung nur darum so spannend ist, weil sie ebenso abstrakt wie persönlich ist. Im Sinne von: Letztlich bin immer ich selbst der Parameter meiner eigenen Werke.

Doch mit den Bildern kommt eine Dimension hinzu. Sie kennen vermutlich die Anekdote: Die ausgeschnittene „Höhle“ liegt in Form von Papierstreifen auf dem Leuchtpult und irritiert den Künstler. Er überträgt die Masse – seine Masse – in einen einfachen Raster auf eine blau grundierte Leinwand und malt die durchlässige, mehrschichtige Struktur als schwebende, weisse Wolke. Markus Müller wäre nicht Markus Müller, wenn er nicht sogleich fragen würde: „Was ist eine Idee“, „woher kommt sie“, „wie entsteht sie“? – Im Moment damals war allerdings eher die Faszination malerischer Möglichkeiten die Triebfeder. Denn nur kurze Zeit später experimentiert er weiter, befragt nun nicht mehr die Form, sondern die Umrisslinien und legt einen Farbkreis an. Dass das zweite Bild „Der Schwimmer“ heisst, ist dabei eine intuitive Setzung. Das Bild erinnerte ihn an eine Tiefsee-Situation.  Es folgt dann eine Umsetzung in eine Art Frequenz entlang von Form und Farbe: „Das Kleid“. Anders als in der Abfolge der Hängung ändert er dann den Blick, schaut von einer anderen Seite und überträgt diese Masse auf die Leinwand. Es entsteht eine neue, kompaktere aber immer noch mehrschichtige Form, die er „schlafen“ nennt. Die Beruhigung sollte aber nicht das Ende sein, denn vereinzelt und ausgestülpt und in einen neuen Farbkreis gestellt, begann im Jahr darauf alles zu „tanzen“, um in einer monumentalen, die Fakten mit malerischen Fiktionen erweiternden Form zu beschliessen: „Träumen/das Leben“.

Da war er nun, der Zyklus und was jetzt? Unklar. War die Veränderung des Mediums die Weiterführung? War ein bild-immanenter Raster eine weitere Dimension?  2000 entstanden die grossformatigen Serigrafien, gedruckt von Meister Axel Friedrich, nach Fotos von den Bildern.  So spannend sie sind – weiter führte der Weg da nicht. Ruhepause.

Dann – bei den Vorbereitungen für einen längeren Aufenthalt auf dem Wohnboot der Familie in Holland – die Idee, handliche Hefte mitzunehmen, um daselbst die ihm immer noch unklare und auch unausgeschöpfte Idee der Bilder voranzutreiben. Doch im Boot unterwegs zu arbeiten, war eine Illusion. „Ich bin halt einfach kein ‚Landschäfteler’“,  sagt er. Das an sich ist nicht der Rede wert, wohl aber, dass Markus Müller für sein Werk einen „geschützten“ Raum braucht. „In meinem früheren Atelier waren immer die Vorhänge gezogen und jetzt bin in einem unterirdischen Raum praktisch ohne Tageslicht.“ Das sagt mehr als Worte, dass die Werke von Markus Müller ein inneres Universum bilden, das sich nur in einem vom Aussen abgeschirmten „Hohlraum“ manifestieren kann. Und es sagt auch, dass der Kick langsam aber stetig weiter zu gehen, aus einer Neugierde wächst, die nicht einfach „Variationen“ kreieren, sondern dem Schöpferischen an sich, Gott und der Welt, Ausdruck geben will. Und dass der „Hunger“ weiter einzudringen letztlich das „Staunen“ über die Dimensionen, die sich da zeigen, zum Inhalt hat.  Last but not least gehört aber ebenso dazu, dass das Theoretische immer auch im Individuellen, im Existenziellen wurzelt. Konkret: Wenn da plötzlich von „Herz“ die Rede ist, dann sind da nicht nur die Masse des „Ich“ relevant, sondern auch die ganz persönlichen Erfahrungen mit Herz, mit Leben und Tod.

Doch eigentlich habe ich jetzt vorgegriffen. Zwar zeigt sich das eben Postulierte im Gesamtwerk, aber ganz besonders sicht- und fühlbar ist es in dem, was in den bis heute drei Heften und den daraus resultierenden, kleineren und grösseren Arbeiten auf Papier entstanden ist. Quasi als Rückwärtslauf auf der Basis der experimentell gefundenen Ausgangsbilder von 1996-98.

Es ist eine ausgezeichnete Idee, uns über digitale Animationen an diesem Prozess teilhaben zu lassen. Ich muss dennoch gestehen, dass ich darin manches sehe, aber trotzdem nicht im Detail verstehe, was Markus Müller da kehrt und wendet, dreht und wölbt, streckt und teilt, flach und übereinander legt. Oder, wie er es einmal so schön formuliert, „Von der Sohle bis zum Scheitel auf den Rücken gelegt“ hat. Aber ich nehme wahr wie sein Verändern der Parameter bei gleichbleibenden Grundmassen Weite, Schönheit auch – Schönheit in einem erkenntnisträchtigen Sinn – entstehen lässt.

Meinen Mangel an mathematischer  Bild-Vorstellungskraft, versuche ich zum Schluss in eine Tugend zu verwandeln, indem ich den Künstler selbst frage:

 

Im kleinen Hinweis auf die Ausstellung, der dieser Tage in der AZ erschien, ist in Bezug auf Deine Arbeitsweise von „spielerisch“ die Rede. „Spielerisch“ ist ein ambivalentes Wort. „Spielst Du tatsächlich, wenn Du ein neues Kapitel schreibst?“

 

Agnes Martin sagte einmal, sie male nur, um im entscheidenden Moment einer Bildfindung die emotionale Kraft eines Augenblicks von Glück zu spüren. Was geschieht bei Dir, wenn Du in der Anwendung eines gesetzten Parameters plötzlich merkst, dass es funktioniert und etwas Neues entsteht?

 

Zuletzt noch Vom Inneren zum Äusseren: Du zeigst Deine Arbeiten nur sehr selten. Wenn in der Kunstszene von Markus Müller gesprochen wird, dann bist meist nicht Du gemeint, sondern Dein 42jähriger Basler Namensvetter, der als Bildhauer mit trashigen Materialien arbeitet und diese mittels barocker Illusionsmethoden in einen hybriden Zustand versetzt. Du bist Dir dessen bewusst, aber ich spüre da trotzdem ein bisschen ein Flattern. Wie siehst Du Deine Beziehung zum Kunstbetrieb?

 

Du warst selbstverständlich in der grossen „Ziegelrain“-Ausstellung im Aargauer Kunsthaus mit dabei. Aber die grosse Retrospektive hat noch niemand ausgerichtet. Und auch eine Monographie gibt es noch nicht. Wäre jetzt der Zeitpunkt gekommen?