Ursula Hirsch „Die Brunnenfigur“ Kantonsschule Enge Zürich 5_2013

Wie das Wasser sich dreht und der Mensch tanzt

Text publiziert in Heft Nr. 1  „Die Brunnenfigur“  (Nr. 2 „Le pain urbain – Maturité“, Nr. 3 „Parabel Hypberbel – Energie“, Nr. 4 „Wand“)

www.annelisezwez.ch

 

 

„Die Brunnenfigur“ ist eine frühe Arbeit von Ursula Hirsch; eine wichtige, eine Weg weisende, eine bis heute Mass gebende.

Die Weichen dazu wurden in Holland gestellt, während ihres Studiums an der Staatlichen Kunstakademie in Enschede. 1982 hatten sich für die 30-jährige Zürcher Kreativ-Frau unverhofft Türen geöffnet und ihr die Möglichkeit des erträumten, aber zunächst vereitelten Kunststudiums gegeben. Der Traum war nicht naiv, er fusste auf frühen Einblicken am Vorkurs der Kunstgewerbeschule Zürich (1968/69) und später aus eigenem Ansporn vertieften Interessen an Materialien, an Design, an Mode, an Architektur.

Zum Thema Licht wollte sie arbeiten. Weil Licht und Lampen zusammengehören, schrieb sich Hirsch zunächst im Bereich Architektur ein und entwarf Lampen, respektive Licht-Raum-Installationen, die sie auch selbst ausführte. Die Abteilung galt als ernsthaft arbeitende – das war ihr wichtig. Zielgerichtet wollte sie tätig sein, damals schon und heute ebenso.

Man traf sie auch oft im Lesesaal. Dass sie sich Bücher zu James Turell aus der Bibliothek holte, ist klar, aber auch die Traktate von Wittgenstein verinnerlichte sie und vieles mehr von Mondrian über De Stijl und Rietveld bis… zu Markus Raetz zum Beispiel. Die „Wilden“, die draussen in der Kunstwelt ihr Wesen trieben, interessierten sie wenig. Und doch will sie mit den funktionalen Parametern ihrer Ausbildung brechen, eigene Visionen zwischen Licht und Schatten, innen und aussen konstruieren. Geradezu schicksalshaft ist da die Begegnung mit Zoltin Peeter (geb. 1942), Dozent an der Kunstabteilung der Akademie, denn er verbindet in seinen vielfach zeichnerischen Schwarz-Weiss-Arbeiten Konstruktives und frei Fliessendes, Verdichtetes und sich vage Formendes, Ying und Yang.

Hirsch wechselt zu Peeters an die Kunstabteilung. Diese schliesst sie 1985 mit dem Diplom ab.

Das Element, welches die sich ergänzenden Aspekte von statischer und fliessender Form vereinigt, ist ihrer Meinung nach das Wasser; im urbanen Raum zum Beispiel der Brunnen. Bereits 1984 – also noch während des Studiums –  entsteht eine erste skulpturale Brunnen-Installation („De Fontain“). Das Material ist Holz, teilweise mit blauem Packpapier umspannt, die Masse mit 175 x 280 x 140 cm raumgreifend. Es geht, das zeigt das Material, nicht um Wasser in einem real-alltäglichen Sinn, sondern um das Prinzip Wasser, das ein- und ausfliesst, letztendlich in einem Kontinuum kommt und geht, ebenso Wasser wie menschliche Existenz meint. In der Umsetzung wählt die Künstlerin eine einfache, formbetonte, zeichenhafte Sprache aus Elementen wie See, Fluss, Röhren. Durch ihre freie Positionierung im offenen Raum evozieren die einzelnen Teile immaterielle Verbindungen, welche die symbolische Ebene der Arbeit visualisieren und energetisch respektive emotional erlebbar machen.

 

Noch ein weiteres zukunftsweisendes Charakteristikum bringt Ursula Hirsch 1985 zurück nach Zürich: Das menschliche Mass. Der Körper als Massstab kann in der Kunstgeschichte bis zu Leonardo Da Vincis berühmtem Lebensrad zurück verfolgt werden. Aber mit den 1968er-Jahren, mit Bruce Naumann, wird mehr und mehr der eigene Körper die Mass-Referenz. Ursula Hirschs frühe Arbeit mit dem Titel „Licht-Mens-Schaduw“ (Licht-Mensch-Schatten) steht zwischen den beiden Ansätzen. Die drei flach an der Wand hängenden Elemente aus Aluminium respektive Holz respektive mit Bitumen getränktem Stoff an Stahlstangen machen mit minimaler Körper-Zeichenhaftigkeit Aussen- und Innenformen sichtbar. Dass die Höhe von 180 Zentimeter der Grösse der Künstlerin entspricht, ist hier  ein eher pragmatischer, denn Ich-Bewusstsein ausdrückender Entscheid. Beachtenswert ist indes, dass bereits 1983 die verwendeten Materialien ein wichtiger Teil der Aussage beinhalten. Hier das Licht reflektierende Aluminium, das organische gewachsene Holz und die dunklen, mit Teer, das heisst einem Erd-Öl-Derivat bemalten Stoffbahnen. Und zur Bedeutung des Materials kommt immer auch das Zeigen der Verarbeitung dazu, hier das Nieten, das Schrauben, das mit Stahlstangen im Lot halten.

 

In Zürich bietet sich für Ursula Hirsch eine neue Situation. Es gilt, die von der in den Niederlanden gepflegten erzählerischen Minimal Art beeinflusste Sprache noch stärker von den Zürcher Konkreten und ihren Nachfolgern abzugrenzen. Die „Brunnenfigur“ mit ihrem zeichnerischen Ansatz, ihrer Leichtigkeit und ihrer Kombination von Konstruktion und organischen Zeichen ist die erste grössere Antwort darauf.

Die 1980er-Jahre sind in der Schweizer Kunstgeschichte – das heisst etwas verspätet im Vergleich mit den USA, Österreich und Deutschland – die Jahre des Aufbruchs der Künstlerinnen zu ihrer eigenen, körper- und ich-bewussten Kunst. Man denke an Heidi Bucher, Miriam Cahn, Monika Dillier, Marianne Eigenheer, Agnes Barmettler, Rosina Kuhn u.v.a.m. Ursula Hirsch in diesen Gender-Kontext stellen zu wollen, ist verfehlt, aber gewisse Zeit-Phänomene sind auch an der Brunnenfigur ablesbar. Man betrachte hiezu die hier abgebildete

Schlüssel-Skizze.

Sie zeigt als zentrales Moment eine auswärts gedrehte, breitbeinig skizzierte Figur mit deutlich sichtbaren Flüssigkeitsströmen in ihrem Innern und einem „Verdauungs-Zentrum“ in der Mitte. Die Arme sind überlang und diagonal angelegt. Kopf und Blick sind zur linken Hand gerichtet, die einem kleinen Teller gleich einfliessendes Wasser aufnimmt, das die rechte nach dem Kreislauf durch den Körper wieder abgibt.

Die Figur wirkt beschwingt, ja fast gar tänzerisch. Von Ferne werden wir an die Künstlerinnen erinnert, die in den 1920er-Jahren im Banne von Rudolf von Laban standen. Künstlerinnen? – Ja, denn obwohl die Figur keine eindeutigen Geschlechtsmerkmale aufweist, wirkt sie weiblich, ist sie eine Ich-Figur, eine Spiegelung der Lebensempfindung der Künstlerin selbst. Man kann noch weiter  gehen, denn das Thema der „Verdauung“ ist ein wichtiges Moment in der Kunst der Frauen der 1980er- und 90er-Jahre und oft bis heute.  Einen Gedanken, ein Gefühl in sich hineinnehmen, im Körper erkunden, drehen und wenden und schliesslich wieder zum Aus-Druck bringen ist ein Muster, das von Maria Lassnig bis Pipilotti Rist tausend Formen hat; auch unerwartete.

Schnell geht Ursula Hirsch in der Werkentwicklung wieder auf Distanz. Das unmittelbar Emotionale, Persönliche ist für sie wie ein rohes Ei; verletzlich, gefährdet, schutz-bedürftig.

Auf demselben Blatt – fast kann man es nicht glauben – erscheint bereits die bis auf einige wenige Details gültige Fassung der „Brunnenfigur“.

Dabei ist die Umwandlung nicht einfach eine kubistische Zerlegung, sondern eine ebenso spontane wie sichere Neuformulierung mit konstruktiven Mitteln. Ein Wurf; gelingt es Ursula Hirsch doch die Leichtigkeit und das Bewegungsmoment der figürlichen Skizze in die zeichnerisch-skulpturale Konstruktion mitzunehmen. Noch ist das Erzählerische, das Figürliche stärker betont als in der Endfassung und die zunächst mit „Balance“ bezeichneten Strahlen lassen noch die Assoziation „Kleid“ zu, doch in der Substanz ist die Arbeit formuliert. Die Balance der linearen, bandartigen und  flächigen Teile überzeugt durch ein feines, sensibles Austarieren unterschiedlicher Gewichte.

Interessant ist, dass Hirsch die Strahlen letztlich von einem 4er-Rhythmus (total 16) in einen 3er-Rhythmus (total 9) wandelt und so dem Festgefügten der Zahl Vier, die Dynamik der Zahl 3 vorzieht, was inhaltlich durchaus Sinn macht.  Es geht nicht um einen funktionalen Brunnen, nie wird da effektiv  H2O fliessen, sondern es geht um eine Figur, um den Menschen, dessen Körper mit einem Wasseranteil von 80% in sich Brunnen ist; organisch ebenso wie spirituell.  Diese Bildhaftigkeit betont die Künstlerin, indem sie die eigentliche Figur an der Rück-Wand mit drei symbolischen Wasser-Zeichen umspielt: Spirale, Schleife und Schlinge; Zeichen die sie in der Rückkehrzeit 1985 zeichnerisch entwickelt  und noch im selben Jahr in eine vergleichbare Wandinstallation mit Metall-, Holz- und Gummi-Formen einbringt.

Ursula Hirsch kommt aus einem Elternhaus, in dem Handwerk eine grosse Bedeutung hatte. Ihr Vater war Schmiedmeister bei den Schweizerischen Bundesbahnen. Als Kind liebte sie es, den Vater in die feurige Werkstatt zu begleiten und seinen Erklärungen zuzuhören. Später ist es das Umfeld Architektur, das Diskussionen um Formen, Materialien, Verarbeitung vorantreibt. Lachend erzählt sie, dass sie als junge Frau mit einem Freund den Armchair red and blue von Gerrit Rietveld  von einer Fotografie in einer Zeitschrift her in Pläne umgesetzt und in Holz konstruiert habe. Er sei zwar etwas zu gross geraten, aber es habe Spass gemacht.

Überdies lebt Hirsch seit 1982 mit einem Architekten in Partnerschaft.

So erstaunt es nicht, dass die Künstlerin nach den Skizzen zur Brunnenfigur sogleich zielsicher an die technische Umsetzung geht. Die Eigenschaften von Aluminium, Schwarzstahl  und Chromstahl abwägend, fertigen Mitarbeiter der Firma Sanichrom (inzwischen erloschen) unter den wachsamen Augen der Künstlerin die einzelnen Teile, nieten und schweissen sie im Sinne der erstellten Pläne. Das Praktische  im Auge behaltend legt sie die Konstruktion 7-teilig an, um sie leichter transportieren zu können. Das Zusammensetzen sei allerdings ziemlich „tricky“, sagt sie.

Und die Kosten? Die Rechnung der Firma beläuft sich auf 5’800 Franken. Das ist viel Geld für eine junge Künstlerin! War sie denn so überzeugt, die Arbeit später auch verkaufen zu können? „Damals glaubte ich eben noch daran ‚Weltmeisterin’ zu werden“, sagt Hirsch mit einem Augenzwinkern. Gemeinsam mit ihrem Partner hätten sie das Geld irgendwie aufgebracht; dies aber schon mit schlaflosen Nächten! Solche begleiteten sie übrigens bis heute, sagt sie, nun deutlich leiser und wehmütiger.

Der Glaube war indes so stark, dass sie das Dossier dazu ohne Zögern für das „Eidgenössische Kunststipendium“ einreicht; zusammen mit Bewerbungen von 373 weiteren Schweizer Künstlerinnen und Künstler. Mit 94 anderen Teilnehmern wird sie von der Jury eingeladen, ihr Werk im Aargauer Kunsthaus in Aarau zu präsentieren. Und siehe da, der Aufwand hat sich gelohnt. Ursula Hirsch erhält eines der 29 Eidgenössischen Kunststipendien von 1986 (heute Swiss Art Awards) in der erklecklichen Höhen von 16 000 Franken. Und damit nicht genug: Cäsar Menz vom Bundesamt für Kultur organisiert unter dem Titel „Junge Kunst aus der Schweiz“ in der Orangerie in der Karlsaue Kassel eine Austellung; mit dabei auch die „Brunnenfigur“. Danach geht die Arbeit zurück ins Atelier (damals ein 20 m2 grosser Kellerraum).

Doch schon für die Züspa-Ausstellung 1986/87 kommt sie wieder in den Lieferwagen. In der damals drei Messehallen umfassenden Mammut-Schau der Zürcher Künstlerschaft, wird die Arbeit von der Kunstkommission des Kantons Zürich entdeckt und für 12’000 Franken (abzüglich der Provision der Stadt Zürich 9’600 Franken)  angekauft und danach im Foyer der Mensa des Gymnasiums Enge platziert.

Offenbar hat Ursula Hirsch mit der „Brunnenfigur“ einen Nerv der Zeit getroffen. Schaut man ins Umfeld dieser Zeit so kann man 1986 bereits einen gewissen Überdruss an der gestischen Malerei der 1980er-Jahre feststellen und ein Wiederbeachten von kontrollierten, durchdachten – auch konzeptionellen – Arbeiten. Bald wird man in Genf von „Neo-Geo“ sprechen. 

Gleichzeitig hat die Zeichnung in der Schweiz einen hohen Stellenwert – gerade auch bei Künstlerinnen. Überdies erobert sich die Dreidimensionalität an der Grenze zum Objekt nach der Malerei-Euphorie der vorangegangenen Jahre Beachtung zurück. Da ist die zugleich zeichnerisch- konstruktive wie auch sehr persönliche Arbeit von Ursula Hirsch zur richtigen Zeit am richtigen Ort.  Eingebunden in ein formales und inhaltliches Assoziationsfeld mit zeitgleichen  (Schweizer) Arbeiten von Carmen Perrin, Rosmarie Vogt , Andrea Wolfensberger, Anna B. Wiesendanger, Anna Maria Bauer und vielen mehr.*

 

Im Laufe der Zeit ist immer wieder über den Standort der „Brunnenfigur“ in einer Nische unter einer Treppe diskutiert worden. Doch die Platzierung ist adäquat, denn die Intimität des Körperlichen, die in der Skulptur enthalten ist, eignet sich nicht für allzu viel Öffentlichkeit, fühlt sich in einer unbeachteteren Umgebung wohler. Und, nebenbei bemerkt, war die Figur da auch immer vor Zerstörung geschützt! Sodass sie jetzt – 25 Jahre später – mit Gewinn renoviert und mit dem Surplus subtiler Farbigkeit in die Jetztzeit transferiert werden konnte, ohne auch nur einen Hauch ihrer Frische verloren zu haben.

Ursula Hirsch bleibt nicht im gefundenen Stil verhaftet, sondern weitet das Thema des Körpers im Raum in zwei Richtungen aus, einer eher materiell betonten und einer das Licht der frühen Studiumsarbeiten integrierenden. 1988 entsteht unter anderem die 7-teilige „Rote Installation“, in welcher Körper-Haltungen in geometrisch-konstruktive Skulpturen eingeschrieben sind und auch erstmals die Farbe Rot ins Szene setzen. Die Krönung  der Entwicklung in den 1980er-Jahren bildet wohl der „Narziss“, der in souverän-reduzierter Form den Menschen im Spannungsfeld von Erscheinung und Spiegelung, von äusserer Realität und immateriellem Licht zeigt. Innerhalb der legendären „Eisen 89“ in Dietikon – einer Übersichtsausstellung zur Eisenplastik in der Schweiz – ist der „Narziss“ auf der Limmat (s.S….) eines der Highlights unter den zeitgenössischen Positionen.

Das Thema des Wassers taucht im selben Jahr auch in sehr handfester Form wieder auf: In den beiden Metall-Kanälen, welche die Vereinigung zweier Wasserläufe in der für die Freilichtausstellung von Môtiers genutzten Landschaft sichtbar machen (s. Bild und Beschreibung Seite….) Die Arbeit dockt auf der symbolischen Ebene an die Brunnenfigur an, erprobt das Ein- und Aus-fliessen jedoch an der unberechenbaren Situation der freien Natur und stellt im Vergleich des Körper-Innern und des Natur-Äusseren nicht zuletzt die Frage nach Parallelen und Unterschieden von Mikro- und Makrokosmos.

 

 

 

 

*Angemerkt sei, dass sich bei den Auszeichnungen von 1986 auch zahlreiche auch die Neuen Medien ihren Platz zu erobern beginnen, insbesondere die Fotografie. Entwicklungen sind indes nie linear, sondern wachsen zugleich aus Weiterentwicklungen wie aus seitwärts Eindrängendem.