Abdankung Inga Vatter-Jensen

Förderte und bewahrte Kunst von Frauen

www.annelisezwez.ch

Abdankungsrede für Inga Vatter-Jensen (23. September 1940 – 2. August 2014)

Gehalten am 11. August 2014 in der Nydeggkirche in Bern

Liebe Anwesende

Trauer versammelt uns hier und heute. Doch wenn ich in mich hineinhorche, so ist diese Trauer angefüllt mit Dankbarkeit, mit Bewunderung. Inga Vatter war eine grossartige Frau, die –eingebettet in die Zeit- und Gesellschaftsgeschichte ihrer Generation –Vorbild war für viele; Frauen, Künstlerinnen insbesondere.

Im Leben von Inga gibt es eine deutliche Zäsur. Sie ist lokalisierbar rund um 1968 –damals übersiedelte Inga zusammen mit Bernhard Vatter nach Bern und fand hier ihr Wirkungsfeld. Wer Schicksale gerne aus Zahlen herausliest, findet dieses positive 1968 unschwer in ihrem Geburtsdatum. –1968: Eine magische Zahl, mit der wir unendlich viel verbinden, meist mehr als effektiv war. Aufbruch, Selbstverwirklichung, Emanzipation, gar eine neue Gesellschaftsordnung. Für Inga kamen das Persönliche und das Allgemeine zusammen; das war ihr Glück. Man soll allerdings nicht meinen und soll im Kopf behalten, dass es in einem Leben wohl ein „vorher“ und ein „nachher“ geben kann, die beiden aber nichtsdestotrotz eine Einheit bilden. Was Inga in Ihrer Jugend während und nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland erlebte ist nicht ausradiert später, sondern als Erfahrung auf allen Ebenen – ebenso existentiellen wie pragmatischen, persönlichen wie beruflichen – präsent. Inga wäre nicht Inga gewesen, wenn sie nicht die frühen Jahre sogeprägt hätten.

Zunächst ist das noch nicht augenfällig. Sie hatte sich in den 1960er-Jahren eine Know-How-Basis im Bereich textiler Techniken angeeignet; insbesondere dem Weben. Und nun fällt ihr zu, dass sie einen Architekten heiratet – und niemand hat die Textilkunst in den 1960er/1970er –auch noch 1980er-Jahren – so gefördert wie die Architekten. Denn sie bauten nun mit Beton sahen sich mit kalten, grauen Wänden konfrontiert. Also schlugen sie den Kunst-am-Bau-Konsortien die Integration von textilen Wandbehängen in „ihre“ Gemeindehäuser, Schulhäuser, Spitäler etc. vor. Inga Vatter war somit mit dem richtigen Know-How zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Und es beginnt für Inga – eingebettet in die neue und bald einmal um die Söhne Manuel und Adrian erweiterte Familie  in Bern – eine erfolgreiche Zeit als Textilkunst-Schaffende. Sie spielte mit dem vereinfachten Formenalphabeth der Pop-Art und der konstruktiven Kunst, setzte kräftige Farben in klaren Formen zueinander, betonte das Lineare, Fliessende, zuweilen auch das Naturnahe, ja gar das Erzählerische. Sie liebte das Luftige, setzte Durchbrüche, liess Fäden im Wind flattern. Sie verliess mit ihren Arbeiten die Wand, eroberte den Raum, setzte Säulen ins Licht. Und dies alles in direktem Dialog mit der Textil-Kunst ihrer Zeit, die in den Biennalen von Lausanne jeweils ihren Höhepunkt fanden und die Schweiz zu einer Hochburg der textilen Kunst machten.

Es war kein bewusster, aber ein kluger Schachzug von Inga Vatter, dass sie sich als „Fremde“, die in Bern keineswegs nur mit offenen Armen empfangen wurde, zuerst mit einem real geschaffenen Werk integrierte und nicht von Anfang an mit dem, was dann später mit Virulenz kommt, nämlich ihrem Organisationstalent, ihrer Fähigkeit ganz andere als nur textile Fäden zu vernetzen.

Die Textilkunst ist – anders als in Japan zum Beispiel –hierzulande ganz primär eine Frauengeschichte und eine bezüglich Anerkennung durch die männliche Kunstszene keineswegs rühmliche. So bestand für Inga eine innere Logik, dass sie sich auf dem Weg zu ihrer zweiten Profession im Rahmen der Schweizerischen Künstlerinnen-Gesellschaft –damals noch die GSMBK – zu engagieren begann. Ihr Einsatz war vom Bewusstsein, dass es da eine diskriminierende Wertung gibt, mitgeprägt und kämpferisch unterlegt, aber eine Feministin war Inga nie –sie kämpfte auf sachlicher Ebene um Gleichberechtigung, war nie eine Forscherin in Begriffen von Weiblichkeit. Sie argumentierte mit den „Waffen“ der Männer und dies mit Erfolg. Was nicht heisst, dass ihr nicht manchmal auch von Frauenseite her ein rauer Wind entgegenblies.

1985 ist ein wichtiges Jahr für Inga. Zum einen ist sie in Bern jetzt etabliert, ist Präsidentin der Sektion Bern der Schweizerischen Künstlerinnengesellschaft, ist eine anerkannte Textilkünstlerin und – ich glaube persönlich, dass das ganz wichtig war, sie kann eine Ausstellung in der Gotischen Halle im Bomann-Museum in Celle einrichten, der Stadt, in der sie geboren wurde und ihre Jugend erlebte. Das heisst, sie schliesst einen Kreis, nimmt das „vorher“ das sie in den ersten Berner Jahren zurückdrängte –wieder in sich auf, realisiert, dass es eine Chance ist, zwei Kulturen in sich zu vereinen. Und sie macht das in gewissem Sinn zu ihrer zentralen Aufgabe in den kommenden Jahren.

Inga war immer eine wache Beobachterin ihrer eigenen Zeit – sie wurde Textilkünstlerin als dies sinnvoll war, sie wurde kulturpolitisch aktiv als die Künstlerinnen sie brauchten und die Entwicklung der Gesellschaft neue Ansätze erlaubte. Und sie begann international zu wirken als es  für jede Künstlervita unabdingbar wurde, auch im Ausland auszustellen.

Gleichzeitig realisierte sie, dass die Textilkunst Ende der 1980er-Jahre ihre besten Zeiten überschritten hatte. Und so ist denn das harte Verdikt ihres Arztes, nicht mehr tagelang am Webstuhl zu sitzen, ein Signal, das letztlich in die ausgiebige, lange, engagierte Zeit von Inga Vatter als vielseitige Organisatorin, Kuratorin, Verlegerin, Nachlassverwalterin mündet.

Als Basis dient ihr dazu nun nicht mehr das Präsidium der Berner Künstlerinnengesellschaft – nein, sie wirkt nun als Präsidentin der GSMBK Schweiz. Was hat sie nicht alles lanciert und realisiert in dieser Zeit! Mir persönlich ist natürlich das erfolgreiche Symposium „Schweizer KünstlerInnen an der Jahrtausendwende“ in der Kartause Ittingen in Erinnerung, da Inga mich mit der künstlerischen Leitung betraut hatte.

Ich habe mir früher schon, und jetzt in den letzten Tagen, den Tagen des Verweilens in Wehmut und Erinnerung, doppelt, überlegt, woher Inga denn dieses Geschick, dieses Wollen, diese Kraft, dieses hartnäckige Verfolgen einer Idee auch – woher sie das nahm. Gelernt hat sie es in keiner Schule Inga war ganz primär eine Self-made-Frau, was nicht untypisch ist für ihre, meine, unsere Frauengeneration. Gelernt hat sie es wohl bei ihrer Mutter und ihren Grosseltern; in der schwierigen deutschen Nachkriegszeit, die wir Schweizer und Schweizerinnen uns gar nicht vorstellen können. Wenn die Kinder Hunger hatten, musste ein Weg gefunden werden und sie fanden ihn. Und weil der Mensch nicht vom Brot allein lebt, zeichnete die Mutter des Nachts Märchen für ihre Kinder. 

Ingas Leben ist nicht direkt vergleichbar mit jenen ihrer Mutter oder gar ihrer Grosseltern, aber diese rücken im Angesicht des Todes ihres Kindes, ihres Grosskindes nahe heute und wir sehen wie ihre Unermüdlichkeit, ihr Wille, ihr Einstecken von Niederlagen, ihr Weitermachen, ihr Kämpfen auch im Leben von Inga Früchte getragen hat. Wir wissen plötzlich – ich weiss ich mache jetzt einen vielleicht unerlaubten Schlenker –dass der unglaubliche Lebenswille, das Überwinden gesundheitlicher Höchsthürden über lange Jahre hinweg, dass das alles gar nicht so disparat ist, das eine vielmehr im andern enthalten ist. Wir ziehen den Hut vor Dir, Inga!

Doch zurück – ich war beim Verbinden von Kulturen, in der Erkenntnis, dass „ihre“ Schweizer Künstlerinnen davon profitieren sollten, stecken geblieben. Sie organisierte nun also erste internationale Ausstellungen, die über Norddeutschland, Litauen bis nach Petersburg führten oder auch ins tschechische „Plsen“. Was für Mammut-Aufgaben! Denn Inga hat sich nie mit einem riesigen Mitarbeiter-Stab umgeben, sie hatte nie ein Museum oder eine andere Institution hinter sich, sie selbst war die Organisation! Welch eine Improvisationsgabe sie da entwickeln musste, wenn dies oder jenes oder alles nicht klappte! 

Aber: Es gelang ihr mehr und mehr, sich Respekt zu verschaffen, die notwendigen Gelder bei den Institutionen zu erwirken. Das heisst etwas! An den Gast-Orten – ich selbst erinnere mich an die Vernissage im Museum in Pilsen – wird ihr hohe Anerkennung und Wertschätzung zuteil; zu Recht. Und Inga freut sich darüber. Es ist der Lohn für die ehrenamtliche Arbeit. Und doch sei nicht verhehlt: Nicht alle standen hinter ihr –das tat manchmal weh. Die wachsende Zahl von Kunsthistorikerinnen in der Schweiz vertrat nicht immer dieselbe Meinung. Die Generationen und die Genderfrage rieben sich aneinander.

Also war die Zeit für ein neues Kapitel gekommen: Und wieder ist Inga Vatter die erste, die es merkt. Als ich kürzlich an der Generalversammlung der Gesellschaft zur Nachlassverwaltung Schweizerischer bildender Künstlerinnen, die Inga noch selbst leitete, ein paar Worte sprach, sagte ich unter anderem, nicht Inga habe die Notwendigkeit einer Institution für das Bewahren von Künstlerinnen-Nachlässen in die Welt gesetzt, sondern die Künstlerinnen selbst, die ihr – weil sie sie kannten, weil sie sie schätzten, weil sie ihr vertrauten – schlicht und einfach ihre Nachlässe vermachten. Also war da ein Bedürfnis, eine Notwendigkeit, eine Aufgabe. Und Inga packte sie –einmal mehr. 

Ich habe dann auch ein bisschen aus dem Nähkästchen geplaudert und verraten wie es  im Keller der Seminarstrasse, dem ersten Standort der neugegründeten Gesellschaft, aussah, wie ich da fernab von musealen Archivierungsvorschriften im Rahmen von Projekten arbeiten durfte und dies auch genoss. Und wie daraus ein Geist entstand, der Weiteres möglich machte. Weiteres war notwendig, Inga erkannte es und zog es doch noch lange vor, die Layouts der Bücher, welche sie herausgab, mit Schere, Papier und Bleistift auf dem langen Tisch in ihrer Wohnung hin und her zu schieben und mit Klebestift festzuhalten. Nein, den Computer wollte sie nicht mehr in ihr Leben integrieren. Jüngere Generationen sollten das. Und so wurde Inga in den letzten Jahren so etwas wie Senior-President der Gesellschaft –immer noch unbestritten die Leitfigur, immer noch Galeristin des „Schaufensters“ zur Welt an der Breitenrainstrasse – aber erkennend, dass es jetzt darum geht, das „Kind“ erwachsen werden zu lassen.

Ihr Tod ist eine Zäsur. Es gilt heute Abschied zu nehmen und „Dankeschön“ zu sagen, Inga zu gedenken, die Trauer mit Freude zu durchmischen, dass wir alle, die wir hier sind, an diesem erfüllten Leben in irgendeiner Form teilhaben durften, dass die Erinnerung an all ihr Wirken auch ein Teil unserer eigenen Biographie ist.