2017 von Annelise Zwez auf Facebook veröffentlichte Kommentare zu Kunst und Literatur

  1. Januar 2017 Markus Werner „Bis Bald“

Wenn ich bedenke, dass meine Tochter 2016 rund 70 Bücher gelesen hat („fast ein wenig zu viel“, sagte sie an Weihnachten), bin ich ein Waisenkind. Aber dann und wann schaffe auch ich es. Eben fertig gelesen: „Bis Bald“ von Markus Werner, 1992 erstmals erschienen, nach seinem Tod 2016 neu aufgelegt (Fischer). Es ist die Geschichte eines nicht sehr leidenschaftlichen Schweizer Denkmalpflegers namens Lorenz Hatt, der nach einem resp. zwei Herzinfarkten auf ein Spenderherz wartet. Weil er als (Wieder)-Single viel allein ist, erzählt er einem fiktiven Freund in Neuseeland wie es um ihn steht, was er dazu denkt, wie er den Alltag des Wartens bewältigt. Was das Buch auszeichnet, ist die Mischung zwischen Analyse (seiner selbst und anderen), Nüchternheit und selten eingestander Sehnsucht nach Beziehung. Keine hochtrabende Philosophie zu Leben und Tod. So nahe am Menschen, dass man mitten drin ist, mitfühlt – Freundschaft entwickelt und schliesslich das Gefühl hat, man selbst sei dieser fiktive Freund. Schön, warm, erinnerungswürdig. Das Ende ein Happy End? – Für mich ja, aber da denken andere vielleicht anders.

Januar 2017 „Flare“ Photoforum Pasquart Biel Dieser Tage ist das erste „Flare“ – das neue, ambitionierte Magazin des Photoforum Pasquart in Biel erschienen. Es will

Print und World Wide Web, Ort und Welt, off- und online vernetzen; lokal, national, global. Gratulation und Good Luck! – Ich fühle mich geehrt, dass ich in dieser ersten Ausgabe mit dabei sein darf – als Bielerin, nicht etwa als Fotografin! – Mein Bild unter „Menschen erzählen von ihren wichtigen Bildern“ ist fast eine System-Aufstellung. Mit analytischem Geist und präzisem Know-How erspürte und komponierte die in den USA lebende Deutsch-Polin Elisabeth Smolarz meine biographischen Prägungen bei einem Besuch in Twann. Die Bandbreite der erzählenden Dinge geht dabei von einem Silex-Dolch aus der hauseigenen Pfahlbausammlung über ein Buch zu Emma Kunz (mit einem Text von azw drin) bis zu einem Kärtchen meiner Enkelin, auf dem steht „Für mein bestes Grossmami“. Erfahren tun dies freilich nur meine Facebook-FreundInnen heute – ansonsten gilt die „Magie der Fotografie“. Gut so und noch einmal Dank an Elisabeth Smolarz  www.smolarz.com

 

  1. Januar 2017 Ian McEwan „Nussschale“

Ian McEwan kann mit „Nussschale“ (2016) nicht an seine ganz grossen Erfolge wie „Abbitte“ oder „Saturday“ anknüpfen. Die Idee einen Krimi aus der Warte eines Ungeborenen zu schreiben, ist literarisch durchaus originell, gibt auch wirklich eine köstliche Perspektive. Der

Beischlaf aus der Wahrnehmung eines in der Enge Bedrängten, die Lust auf Burgunder-Wein via Plazenta usw. Letztlich unterscheidet sich das, was der demnächst geburtsreife Foetus aufgrund dessen was er aus dem Bauch der Mutter respektive über Radiosendungen hört oder an Geräuschen erkennt, zu wenig von dem was ein College-Student zu „Gott und der Welt“ weiss. Das Hypothetische seiner Beschreibungen und Wahrnehmungen ist zwar angetönt, aber zu wenig genial, surreal, schräg herausgeschält. Es müsste doch auch Fehlüberlegungen geben! Auch der Plot des Krimi (die Mutter und ihr Geliebter beschliessen, den Vater des Kindes, der zugleich der Bruder des Vaters ist, zu vergiften) ist nicht wirklich umwerfend.
Im Literaturclub von SRF wurde das Buch kontrovers diskutiert. Begeisterung kontra Langeweile. In den Feuilletons hingegen überwiegen positive Rezensionen. Im Spiegel zum Beispiel schrieb Marcus Müntefering:
„McEwans Geschichte, und das ist ihre größte Stärke, funktioniert auf vielen Ebenen: als bitter-ironischer Kommentar zum desolaten Zustand der Welt, als wahnwitziges literarisches Experiment – und als zeitgenössischer Roman noir.“
Die überall bemühte Nähe zu Hamlet („Brudermord“ und die Namensähnlichkeit von Claude und Trudy zu Claudius und Gertrude bei Shakespeare) spiegelt Insider-Wissen, ist aber nicht zwingend.

 

 

Februar 2017: Ferdinand Gehr Kunstmuseum Olten

Das Kunstmuseum Olten zeigt Ferdinand Gehr (1896-1996) – Bauen an der Kunst (eigentlich: Malen in der Kirche). Keiner hat so viele Fresken realisiert und dies nicht ohne Gegenwind! Eine „grosse Kiste“! Kompliment den Kuratorinnen. Der Publikums-Erfolg ist der verdiente Lohn. Aber: Die Ausstellung ist Dokumentation. Umso wichtiger ist der Einbezug einzelner ganz auf sich selbst konzentrierter Bildwerke. Zum Beispiel die grossartige „Madonna mit Kind“, die der 20jährige Gehr 1926 gemalt hat – ganz der neuen Autonomie der Farbe – eine rote Aureole! – und der Vereinfachung der Form verpflichtet. Sie ist bis ins hohe Alter die Basis seines Schaffens. – Einmal mehr verknüpft Olten eine aktuelle Ausstellung in raffinierter Weise mit der Präsentation von Werken aus der Sammlung. Sicher nicht zufällig wird da neben weiteren Werken von Gehr eine Schenkung des Schweizer Pop Art-Künstlers Roman Candio (*1935) gezeigt, denn da stockt einem eine Sekunde lang der Atem: Gehr und Candio. Candio in den Fussstapfen Gehrs oder Gehr ein Pop Art-Künstler? Beides auf den zweiten Blick klar „Nein“ – aber verblüffend ist die Nähe schon!

März 2017 Flowers To Arts – Aargauer Kunsthaus Aarau Alle Jahre wieder: „Flowers To Arts“ – der Publikumshit des Aargauer Kunsthauses. Tops und Flops wechseln auch dieses Jahr. Aber erfreulicherweise sind viele neue, auch unterwartete Bilder aus der Sammlung interpretiert worden. Kerim Seiler, Silvia Bächli zum Beispiel (sehr schön, aber schwierig zu fotografieren) oder Andrea Heller, deren Tinte-auf-Papier-Arbeit von 2014 von Rémy Jaggi gleichsam floral und kristallin aus dem Bild herausgeholt wurde. Highlight Nr. 1 ist aber wohl Paul Fleischlis und Flavia Rutishausers Interpretation von Varlins Ballsaal mit hellen Orchideen in einem Berg von Champagner-Gläsern. Nur bis Sonntag! Achtung: Tickets und Führungen online buchen und Randzeiten benützen!

März 2017: Zeichnungen Elsie Wyss Gunter Frentzel u.a.

Ist es Zufall oder mehr, dass zur Zeit in so vielen Ausstellungen die Linie, die Zeichnung im weitesten Sinn, gefeiert wird? In Museen, Galerien, der „Drawing now“-Messe in Paris usw. Man denke z.B. an Maureen Kägi bei Mark Müller, an Franziska Furter bei Lullin& Ferrari, an Gilgian Gelzer in Solothurn, an Sandra Böschenstein/Elsie Wyss/Tobias Nussbaumer/Anna Wieser im Kunstmuseum respektive Gunter Frentzel in der neuen Kunstvereins-Galerie in Olten…Ich liebe zu Werken verdichtete Zeichnungen wie sie in den genannten Ausstellungen zu sehen sind/waren. Persönliches Highlight ist – selbst für mich erstaunlich – die retrospektive Inszenierung der Kunst und Bau – „Modelle“ der 1927 (!) geborenen Solothurner Künstlerin Elsie Wyss. Eigentlich kenne sich sie fast alle – Elsie Wyss hat sie immer wieder gezeigt – aber erst im Zusammenspiel und in Kombination mit der die Linie potenzierenden Präsentation wird der in 30 Jahren entwickelte Reichtum ihrer dreidimensionalen Ideen so richtig spürbar. Wie mir scheint, und auch im Saaltext angetönt, ist dabei der haarscharfe Grat zwischen Konstruktion und Rückerinnerung an Gegenständliches – an die Figur auch – ausschlaggebend dafür, dass sich eine emotionale Beziehung zu den Stelen, den Rhythmen, den Bögen, den Rundungen einstellt. Klein und bescheiden meist, aber zeitlos gültig.

Eindrücklich sind auch die neuen, ausgesprochen leichten, federnden, reduzierten und – wie immer – die Grenzen von Gewicht und Spannung auslotenden Skulptur-Zeichnungen von Gunter Frentzel, die umso mehr berühren als der 82-jährige Künstler zur Zeit im Spital um seine Zukunft kämpft. – Besonders hervorgehoben sei last but not least die humorvoll-mehrdeutige, und keineswegs „ungefährliche“ Raum-Installation, die Sandra Böschenstein (*1967) für das Kunstmuseum Olten entwickelt hat.

 

  1. März 2017 Elena Ferrante_Die Geschichte eines neuen Namens

Fertig gelesen: Den 2. Teil von Elena Ferrantes vielbesprochener, neapolitanischer 50er-/60er-Jahr Saga der Freundinnen Lenu Greco und Lila Cerullo aus dem ärmlichen Rino-Quartier („Die Geschichte eines neuen Namens“, Suhrkamp, 623 S.). Er war deutlich spannender als Teil 1, da das Psycho-Gebäude der auf Einzelpersonen heruntergebrochenen gesellschaftlichen Realität der ProtagonistInnen zwischen Tradition, Kommunismus und Mafia wesentlich verzweigter ist. Im Fokus stehen aber nichtsdestotrotz die beiden „Genialen Freundinnen“ (Titel von Band 1), die sich kaum gegensätzlicher entwickeln könnten. Die jungverheiratete Lila wird zerrissen zwischen Anpassung und (ausserehelichen) Liebesträumen, wehrt sich mit perfiden Strategien, lässt ihre Intelligenz durchblitzen und fällt letztlich doch vom (vermeintlich) hohen Ross und landet als Arbeiterin in einer Wurstfabrik. Lenu hingegen ist mit viel Fleiss Klassenbeste und schafft so sogar einen Doktortitel, ohne freilich den Stempel der aus dem Rione stammenden ablegen zu können. Sie bleibt trotz allem die Bewunderin ihrer Freundin Lila. Nun warte ich auf die Veröffentlichung der Übersetzung von Band 3…..

 

  1. April 2017 Lukas Hartmann „Auf beiden Seiten“

Soeben fertig gelesen: „Lukas Hartmann“ – Auf beiden Seiten“. Das habe ich dazu in meine Liste der „gelesenen Bücher“ geschrieben (mit drei Sternen): „Auf beiden Seiten“ handelt zur Zeit des Kalten Krieges, respektive dessen Umbruch/Auflösung im Kontext des Mauerfalls. Einmal mehr hat Lukas Hartmann hervorragende Recherche-Arbeit geleistet und die politische Situation in der Schweiz in der Epoche der 80er-/90er-Jahre hervorragend eingefangen.
Ähnnlich wie Evelyne Hasler in „Stürmische Jahre” verknüpft er mehrere Familiengeschichten – insbesondere jene des konservativen Gymnasiallehrers Armand Gruber und seiner Tochter Bettina und jener von Mario, Sohn des Schuhmachers Albert Sturzenegger sowie – etwas am Rande – jener von Karina, der Tochter des Geheimdienst-Abwartes beim EDA, genannt „Vau”, der Freundin von Bettina, der Geliebten von Mario und mehr. Die Mütter resp. Ehefrauen in den genannten Familien gibt es auch, aber sie haben keine führenden Rollen (!?).
Mario gibt den roten Faden. Sein Wandel vom Gruber bewundernden Deutsch-Schüler zum linken Journalisten, zum Schwiegersohn Grubers respektive Ehemann von Bettina, zum Vater seiner zwei Kinder, zum geschiedenen und verunsicherten und beruflich abgestiegenen „Family”-Reporter. –
Das Buch ist spannend, man will dran bleiben. Sprachlich ist es geradlinig, klar, reich und gespickt mit Informationen. Keine unnötigen Ranken. Die Verknüpfung der Familien ist gut, aber letztlich doch nicht so genial wie bei Hasler. Es sind letztendlich vier Porträts – Gruber, Mario, Bettina, Karina – deren Lebensgeschichten die Schweiz jener Zeit zwischen Tradition und wachsendem politischem Bewusstsein, zwischen rechts und links, zwischen Geheimdienst, Fichen und Marxismus, zwischen Mann und Frau in ausserordentlicher Analyse prägen. Anmerkung: Von Hartmann gelesen: „Finsteres Glück”, „Die Seuche”, „Die Mohrin”, „Abschied von Sansibar”, „Die letzten Tage der alten Zeit”, „Räuberleben”.

 

  1. Mai 2017: Anne Loch Kunstmuseum Chur

Zwei Tage Ferien in Chur. 1. Tag: Besuch bei Lilly Keller in ihrem umgebauten alt-neu-wunderbaren Grosselternhaus mit Garten – wie könnte Lilly Keller ohne Garten leben – in Thusis (leider regnete es in Strömen). Immer wieder muss ich nachrechnen: Geboren 1929 – d.h. 88 Jahre. Und nie will ich es glauben.“Vielleicht werde ich ja 100″ – meinte sie gestern. Gut möglich. 2. Tag (eigentliches Ziel der Reise): Besuch der Ausstellung von Anne Loch (1946-2014) im Kunstmuseum. Die Grossformate wirken in den neuen, grosszügigen, unterirdischen Räumen des Museums wie entrückt von der Realität, aber das ist ja auch ihr Thema. Die Blumen, Hirsche Schafe, Berge sind allesamt erkennbar, aber im Laufe der Zeit werden sie immer mehr Vorstellung ihrer selbst. Es ist als würde die Deutsche mit Wahl (oder Flucht)-heimat Graubünden verzweifelt daran glauben wollen, dass es diese (eigene) Natur irgendwo doch gibt. Zuweilen erprobt sie die auch zeichnerisch – aber immer grossformatig. Das war ihr Anspruch. Er steht in seltsamem Widerspruch zu ihrem geradezu autistischen Verhalten gegenüber dem Kunstbetrieb (ab 1988).

 

9.Mai 2017: Swiss Pop Art Aargauer Kunsthaus Aarau

Bereits am Tag der Eröffnung ist klar: „Swiss Pop Art“ im Aargauer Kunsthaus (bis 1.10.17) ist für die Schweiz eines der Highlights 2017. Nicht nur weil sie eine Augenweide ist, sondern ein Stück CH-Kunstgeschichte so fundiert wie noch nie zeigt – bildnerisch und indirekt auch gesellschaftlich. Die Pop Art wurde hierzulande primär als Fest neuer formaler, medialer und farblicher Möglichkeiten gefeiert; Ausdruck der Beat Generation der 1960er. Kritische Untertöne sind selten, kommen eher als Ironie daher (der „Käse“ von Samuel Buri z.B.) Doch als nach 1970 der Vietnam-Krieg, die Biafra-Hungersnot, die Thesen des Club of Rome ins Blickfeld rücken, bricht sie zusammen, mündet in Hugo Schuhmachers Schrei nach „Freiheit“. Darum ist die Pop Art in den Werken vieler Kunstschaffender eine Episode; eine freilich, die umfassend zu zeigen sich LOHNT! Was ist die „Bolide“ von Markus Müller doch für ein Bild, Peter Stämpflis Pneu-Spur ein Wurf! (Männer-Lust hier und dort notabene). Künstlerinnen sind nur wenige vertreten, Rosina Kuhn zum Beispiel oder Emilienne Farny. Ihr Aufbruch kommt erst in den 1970ern (auch das wäre ein Thema!). Auffallend in Aarau: Wie viele Werke (ich vermute viele im Rahmen der 2-jährigen Vorbereitungen von Swiss Pop Art) als Schenkungen in die Aargauer Sammlung kamen. Auch das ist ein Ausdruck der „Moment“-Situation der Pop Art in der Schweiz.

 

  1. Mai 2017 Robert, Miriam, Manuel Müller Kunstmuseum Solothurn

Im Kabinett des Kunstmuseums Solothurn gibt es zur Zeit eine aussergewöhnliche Ausstellung zu sehen: Robert Müller (1920-2003), Miriam Müller (1926-2007), Manuel Müller (*1955). Anders aus zwei Gründen: Es wird nicht der grosse Bildhauer und Zeichner R.M. gefeiert, sondern eine Art Porträt seiner Familie „gezeichnet“, nach den Beziehungen zwischen R.M. seiner Frau Miriam und seinem Sohn, dem Holzbildhauer Manuel Müller, gefragt. Im Mittelpunkt steht dabei die bisher völlig unbekannte Goldschmiedin und Zeichnerin Miriam Müller, die als jung bei Tiffany in New York arbeitete und später ein sehr kleines (privates) zeichnerisches Oeuvre von reicher (oft jüdischer) Symbolik schuf.
Ein Künstlergespräch (Donnerstag, 1. Juni 19 Uhr) mit Christoph Vögele, Manuel Müller und der hier Schreibenden sucht der in Kunstkreisen ungewohnten und darum spannenden Intimität der Beziehungen einer Künstlerfamilie nachzugehen und dabei auch das von Depressionen gekenntzeichnete Leben Miriam Müllers zu hinterfragen.

1.Juni 2017: Elif Shafak Der Geruch des Paradieses

Soeben fertig gelesen: Der Geruch des Paradieses. Von Elif Shafak – eine bekannte türkische Schriftstellerin. Sie lebt mit Mann und Kindern in London. In meinem Empfinden ein hervorragendes Buch. Shafak gelingt es meisterlich, das aktuelle Aufeinandertreffen von atheistischen Strömungen, Christentum und Islam sowie gleichzeitig verschiedenster Haltungen innerhalb dieser zu thematisieren.
Als spannender Roman mit einer klaren Protagonistin, der Türkin Peri (Nazperi) Nalbantoglu aus Istanbul. Sie erscheint als Kind (90er-Jahre), als Studentin in Oxford (2001/02), als bürgerliche Ehefrau und Mutter (2016) in Istanbul. Sie ist unsicher, hin und her gerissen zwischen Ihrem Vater (weltlicher Islam) und ihrer Mutter (religöser Islam), zwischen den Traditionen der Türkei und des Westens, sie ist die ewig Suchende, oft Verzweifelte – auch Verliebte.
Eine wichtige Rolle spielt dabei ein englischer Professor namens Azur, der Seminare zur Frage nach dem Wesen Gottes hält respektive seine Studenten damit herausfordert. Eine Kult-Figur, die indes durch Denunziation letztlich gestürzt wird. Wichtig sind auch die Positionen der drei Islam-Studentinnen Shirin (atheistische Muslima mit iranischen Wurzeln) – Mona (feminitische Muslima) und Peri.
Buch-Gegenwart sind Erlebnisse in Istanbul 2016, welche die Oxford-Epoche von Peri an die Oberfläche bringen und so die Geschichte aufrollen. Die Verschränkung der Ebenen ist gut herauslesbar, die Sprache klar und doch einfühlsam, Präsenz und Abschweifen haben gleichzeitig Platz.
Sehr gute Übersetzung aus dem Englischen. Ich frage mich, ob sich Shafak problemlos in Istanbul aufhalten könnte in der aktuellen Situation.

 

Juni 2017: Peter Travaglini Kunsthaus Grenchen

Regional betrachtet ist sie ein Must: die Hommage an den Bildhauer Peter Travaglini (1927-2015) im Kunsthaus Grenchen. Kein anderer Künstler hat in den 70er-, 80er-, 90er-Jahren mehr Kunst am Bau für Schulhäuser, öffentliche Bauten und Plätze realisiert. In Grenchen, in Büren, in Biel, in Witzwil und, und, und.. So viele, dass es schon fast zu viele waren. Dieser Satz hätte ihn fuchsteufelswild gemacht. Er war zuweilen ein schwieriger Zeitgenosse; Kritik mochte er nicht. In gewissem Sinn zu Recht: Das zeigt die Ausstellung, die glücklicherweise nicht primär den allzu bekannten Travaglini mit all seinen „Etui“-Figuren zeigt, sondern der frühen Pop Art-Epoche viel Raum gewährt. Travaglini war in den 1960er/70er-Jahren einer der grossen Pop-Artisten der Schweiz! International mit dabei. Trotzdem eher ein Grenz- als ein Szene-Gänger. Und ihm ging es wie vielen Kunst am Bau-Künstlern: Die offizielle Kunstrezeption liess (lässt?) diese Werke ausser Acht. Sie nahm (nimmt) an Museumsausstellungen Mass. Und die kamen im Fall von Travaglini nicht und so „vergass“ ihn die Schweizer Kunstgeschichte teilweise. Travaglini wurde ein Regionaler. Die Ausstellung gibt jetzt erfolgreich Gegensteuer, zeigt Übersicht und Chronologie vom Studium an der Brera in Mailand über „Tell’s Apfelschuss“ auf der Aare bis hin zu den späten Kunst am Bau-Werken (dies in Form von Filmbeiträgen).

Infos: www.kunsthausgrenchen.ch

 

Juli 2017 Lutz&Guggisberg Bellelay

Die grossräumigen installativen Inszenierungen in der Abbatiale de Bellelay gehören seit langen Jahren zu den Highlights des Schweizer Kunstsommers. Doch nach einer wenig begeisterten Kritik von Alice Henkes fuhr ich heuer skeptisch zu „La grande invasion des peuples et des meubles“ von Lutz&Guggisberg in den Berner Jura. Und kam begeistert wieder nach Hause. Die in den barocken Kirchenbau gestellte labyrinthartige Architektur aus Altmaterial ist tatsächlich nichts Ausserordentliches, aber wer sich kniend (!) auf Augenhöhe mit den über tausend kleinen Tonskulpturen begibt, entdeckt eine Vielfalt ohne gleichen. (Ich weiss, „Fischli/Weiss“, aber die haben das Formen von Tonfigurinen etc. auch nicht erfunden!). Einer grossen Weltwanderung gleich ziehen sie durch die verwinkelten „Strassen“, helle, rötliche, braune (!). Manche Gruppen sind benennbar: Finger, Motorräder, Schuhe, gar drei Musikanten (ansonsten gibt’s kaum Figuren). Die ganze Skulpturen-Kunstgeschichte ist angetippt, doch Plagiate gibt es nicht. Genau dieses „nicht“ ist faszinierend und erlaubt kaum aufzuhören mit fotografieren. Die Publikation (Vexer –Verlag) erspart einem die körperliche Anstrengung, man hat alles vor sich, aber viel aufregender sind die eigenen Kniebeugen. – Auf der analytischen Ebene drängt sich einerseits das Spiegelbild zu aktuellen Migrations-Strömen auf, aber – eigentlich treffender – der Gedanke an die Schöpfungsgeschichte, denn hier verbindet sich die Kunst mit der Kirche, für welche sie konzipiert wurde. Hier wird die Installation zur Arche Noah.

 

8.Juli 2017 Graham Swift „Festtag“

Ich kann’s mir nicht verkneifen, ich muss kurz etwas schreiben zum „Festtag“ von Graham Swift:
Eine literarische Kostbarkeit: Das 142 Seiten umfassende Büchlein (dtv) von Graham Swift (*1949 London) mit dem Titel „Der Festtag“ („Mothering Sunday“). Ich meine es wörtlich: Faszinierend ist nicht der Plot – der ist spannend, aber bescheiden – sondern die immanente Diskussion um das, was Literatur sein kann (oder auch nicht).
Das Buch ist durch und durch ein Konstrukt – das beginnt schon damit, dass die Protagonistin ein Findelkind ohne Identität ist. Ausser der gesellschafts- und geschichtsbezogenen Positionierung – Fokus England 1924 – gibt es nur die Fiktion, die wiederkehrenden Gedanken des Dienstmädchens Jane, wie der Verlauf einer Begebenheit auch anders hätte sein können.
Swift geht das nicht episch an, sondern in kleinen Drehungen und Wendungen. Aus nichts wird eine Story, weil so viele Unbekannte mitschwingen. Das ist nicht etwa trocken, sondern ausgesprochen spannend, zumal auch dem Geheimnis (von der Liebesaffäre bis zum möglichen Selbstmord) eine wichtige Rolle zukommt.
Und dann toppt der Autor die Sache noch einmal indem man erfährt, dass das inzwischen 95-jährige, einstige Dienstmädchen eine bekannte englische Schriftstellerin wurde und somit das, was in „Der Festtag“ geschieht, just eines jener Konstrukte ist, die sie ein Leben lang umtrieben: Was wissen die Wörter und was nicht. Von kleinen Nebenschauplätzen abgesehen, rundum ein Lesevergnügen.

 

 

Juli 2017: Wolfgang Tillmans Fondation Beyeler Riehen/Basel

Fondation Beyeler – entspannt den Seerosen am Teich des Monsieur Monet entlang schlendern. So stellt man sich das clichéhaft vor. Darum ist die Retrospektive Wolfgang Tillmans (*1968) schon fast eine Anti-Beyeler-Ausstellung. Obwohl Tillmans auf dem Kunstmarkt als „Pop Star der Fotografie“ gehandelt wird. Dem widersetzt er sich. Die Gesichter der BesucherInnen zeigen es: Dieses Potpourri kann man nicht „reinziehen“. „Verzweifelt“ werden die Saaltexte gelesen. Figur, Landschaft, Stilleben – gegenständlich, abstrakt – gross, klein, analog, digital stossen hart aufeinander. Keine Verführung durch Stimmung. Es geht Tillmans nicht um Ab-Bilder, sondern um das Bewusstmachen von Bildkonstruktionen mittels Farbe, Licht, Chemie, Software; es geht um Motiv und Trugschluss, sowohl im Aussenbild (Natur/Gegenstand), im Innenbild (Porträt/Körper) wie in deren Auflösung.

Erst bei einem Zweitrundgang – nach einem stärkenden Kaffee im Bistro nebenan – beginnt sich die Anstrengung des Verstehen-Wollens zu lösen und die Fotos einzeln, seltener als Raum-Installation, zu wirken, zu „sprechen“ – von den frühen, analogen, oft schwarz-weissen Beispielen aus der Punk-Rock-Zeit bis zu den neuen, auf Bewegungsspuren im digitalen Raum reduzierten „Freischwimmern“. Das Körperliche (Sexuelle, für das Tillmans bekannt ist, zeigt sich reduziert auf wenige Beispiele. Hat hier die Kuratorin (Theodora Vischer) auf Political Correctness gedrängt oder hat sich der Künstler auch diesem Cliché widersetzen wollen? – Die Kritiken (u.a. von Daniele Musonicio in der NZZ) sind des Lobes voll. Die BesucherInnen sind – je nach persönlichem Hintergrund – wohl etwas geteilt in ihrer Meinung. Sicher ist: Es ist die bisher konzeptuellste Ausstellung des Künstlers und dieser Versuch der Schärfung des eigenen Kunst- respektive Bild-Wollens spricht für ihn.

 

  1. Juli 2017 Celerina Erica und Gian Pedretti

Am Samstag wurde in der Chesa Planta in Samedan Hof gehalten für Erika und Gian Pedretti. „Licht und Schatten – Schatten und Licht“ zeigt das seit zwei Jahren wieder in Celerina (zuvor La Neuveville/BE) wohnhafte Künstlerpaar sowohl als bildende wie als schreibende Kunstschaffende – eine Konstellation, die es seit 1976 (Kunstmuseum Solothurn) nicht mehr gab. Zu getrennt wurde Gian als Maler und Erika als Schriftstellerin rezipiert. Insbesondere das bildkünstlerische Werk von Erika Pedretti erscheint in Samedan geradezu als Offenbarung. Denn in Kombination mit der eben erschienenen, bild- und wortreichen Monographie (Verlag für Moderne Kunst Wien) wird die Fülle des zeichnerischen und plastischen Schaffens der Künstlerin von den frühen Silberschmiede-Arbeiten bis zu den Über- und Einzeichnungen der letzten Jahre wie nie zuvor sichtbar. Mit dem von Dolores Denaro (Herausgeberin/Autorin) und Martigna Pedretti erarbeiteten Werk-Verzeichnis und den Texten von Marcel Baumgartner, Konrad Tobler, Anita Haldemann, Virginia Richter, Françoise Jaunin, Annelise Zwez u.a.m. ist das bildnerische Schaffen Erika Pedrettis nun dem schriftstellerischen gültig gegenübergestellt. Das macht Freude! – Die grösste Überraschung ist dabei die Kontinuität von Erikas Schaffen, die Entwicklung der Flugkörper/Flügel aus dem Silberschmuck der 1960er-Jahre (Text: Susanne Lerch) der frühe Einbezug der Schrift in die Form und der enorme Reichtum des zeichnerischen Werkes, das alles in einem erlaubt, Ernsthaftigkeit und Humor wunderbar verbindet.

 

  1. Juli 2017 Anton Meier R.I.P Emma Kunz

Man kann es so sagen: Ohne Anton Meier gäbe es Emma Kunz nicht. Darum ist der Tod von Anton Meier am letzten Freitag Anlass seiner und Emma Kunz in einem zu Gedenken. (Für Nicht-Insider: Anton Meier war in seiner Kindheit einer der einzigen, der Emma Kunz beim pendeln/zeichnen zuschauen durfte. Im Zug der erstmals aufkommenden Outside-Kunst erinnerte er sich und machte sich auf die Suche….fand die Zeichnungen der 1963 verstorbenen Heilerin und präsentierte sie u.a. Heiny Widmer, damals Direktor des Aargauer Kunsthauses. Dieser zeigte sie alsobald in einer grösseren Ausstellung. Da sah sie auch Harry Szeeman, worauf Emma Kunz in den Olymp der Kunst aufstieg. Noch heute reisst man sich auf Auktionen um die wenigen Blätter, die im Handel sind. Die meisten hat Anton Meier in dem zum Emma Kunz Zentrum gehörenden Museum in Würenlos gebündelt, wo sie nach wie vor besichtigt werden können.
R.I.P. Anton P.S. Aus aktuellem Anlass habe ich auf meiner Website www.anneliszwez.ch die Texte, die ich ab 1973 zu Emma Kunz geschrieben habe, unter „Herausgegriffen“ konzentriert.

  1. August 2017 documenta 14 Janine Antoni

Es gibt Hunderte von Varianten sich der documenta14 anzunähern. Hier eine auf persönlicher Erinnerung basierende: Zu der im Fridericianum vielleicht etwas zu prominent präsentierten griechischen Kunstsammlung gehört – claro – viel Griechisches, aber auch Internationales, darunter die hier abgebildete Installation von Janine Antoni (*1964 Bahamas). Sie wird in Kassel mit Penelope in Verbindung gebracht, die sich Freier vom Hals hielt indem sie sagte, sie müsse zuerst eine Decke fertig weben (und Nacht für Nacht das Gewobene wieder auflöste). Sie kam mir seltsam bekannt vor. Dann fand ich heraus, dass ich 1994 mit einem Bild davon meinen Artikel zu Bice Curigers Kunsthaus-Zürich-Ausstellung zum Thema „Sehnsucht“ illustriert hatte. (Vgl. annelisezwez.ch – Stichwort Sehnsucht). Damals war sie brandneu und lief unter dem Titel „Nachtgeschichten“, da das inhärente Muster – wie auch jetzt in Kassel -seismographischen Aufzeichnungen von Träumen folgte. In die griechische Nationalsammlung kam sie 2014 als Schenkung der Sammlung Dakis Joannou.

 

  1. Oktober 2017 Rémy Zaugg Jura

Porrentruy, Delémont, Moutier. Im Jura wird der Konzeptkünstler Rémy Zaugg (1943-2005) mit einer dreiteiligen Ausstellung als „einheimischer“ Künstler ins Bewusstsein gerückt. Das macht Sinn, denn Zaugg ist in Courgenay/Porrentruy aufgewachsen. Hier hat er ab 17 Jahren ausgestellt, in den 1960ern frühe Editionen gedruckt. In Basel wurde er später zum Deutschschweizer, seine jurassische Täufer-Herkunft zur Legende. Entsprechend ist der Fokus im Musée de l’Hôtel-Dieu in Porrentruy, im Musée jurassien d’art et d’histoire in Delémont und im Musée jurassien des Arts in Moutier primär das Frühwerk – Linoldrucke von 1960, die Graphikmappe „Sisyphe“ z.B. – sowie seine Entwicklung zum Meister der Monochromie und der auf die Wahrnehmung von Welt ausgerichteten Bild-Worte; „Schau, ich bin blind, schau“. Die Ausstellungen werden national beworben, das ist man der Bedeutung Zauggs schuldig, doch hiesse dies eigentlich auch Mehrsprachigkeit! Indes hat nur Moutier im Noch-Berner-Jura hiefür ein Ohr.

Ich selbst habe Zaugg 1982 anlässlich der damals recht „revolutionären“ Ausstellung im Aargauer Kunsthaus kennengelernt (Kurator: Heiny Widmer). „Le singe peintre“ hiess sie und baute auf der Kritik von Jean Baptiste de Chardin am Bilder malen auf.

An meinem Text von damals ist im Vergleich zu heute nicht nur die Länge erstaunlich, sondern auch der klar meinungsorientierte Erzählstil. Link!!

 

  1. November 2017 Not Vital Kunstmuseum Chur

Not Vital. Bündner Kunstmuseum Chur. Bestbesucht. – Not Vital (* Feb. 1948 in Sent im Unterengadin) war immer ein Einzelgänger. Er mied die Kunstszene und sie ihn. Neid, dass einer ohne den Segen der Kunsthistoriker Erfolg hatte? In New York und anderswo auf der Welt? Sicherlich. Vital unternahm nichts dagegen, jagte seinen Visionen nach. Mit Ateliers in Kairo, Agadez (Niger), Buenos Aires seit 2008 in Peking. Der Kauf von Schloss Tarasp 2016 brachte ihn in aller Munde. Vital verbrachte immer Zeit in Sent, aber jetzt war er plötzlich wieder ein Bündner. Stephan Kunz (Kunstmuseum Chur), erkannte, dass es jetzt möglich war, Vital und sein Werk zu fassen, exemplarisch zu zeigen. Und der Bogen von den 1960ern (!) bis heute ist faszinierend. Selbstinszenierung, gewiss. Aber es ist Leidenschaft spürbar; vielleicht tatsächlich Leiden-Schaft. Dass die Ausstellung den Einfluss der Jugendzeit, der Bündner Landschaft, der Enge, der Berge, der Jagd betont, ist naheliegend, aber wahrscheinlich ebenso richtig wie bei vielen anderen „grossen“ Bündner Künstlern.Interessant ist, dass Vital sehr früh in die Kunst einstieg, aber eigentlich erst in New York in den 80ern die (Körper)-„Zeichen“ fand, die Gegenwart und Religio (Rückkoppelung) zum Ausdruck bringen, etwa das Tier als existenzielle Metapher. Und dann vor allem auch die Ausdruckskraft von Materialien. Nicht als Trash, sondern stets veredelt – egal ob Kamelkopf oder Selbstbildnis. Wenn er heute in Peking arbeitet (oder arbeiten lässt), so hat das mit Handwerk zu tun, das heute in Europa nicht mehr denkbar ist. Vitals Werk ist anti-digital! Den einen mag das des „Götterfunkens“ zu viel sein, aber als „univers privat“ (so der Titel der Ausstellung) ist es beeindruckend. (Über die Männlichkeit respektive Weiblichkeit des Werkes wäre separat nachzudenken!)

 

  1. November 2017 Vollrad Kutscher/Kunsthaus Interlaken:

Fast hätte ich sie verpasst: Die Ausstellung von Vollard Kutscher (*1945, Frankfurt) im Kunsthaus Interlaken (bis 19. Nov.) Es ist immer mal wieder erstaunlich, was Heinz Häsler (Kurator) abseits musealer Heerstrassen gelingt. Die Idee zur Ausstellung stammt von Franticek Klossner, der einst an der Zürcher F+F Schüler des Performance-Künstlers war. Kutscher seinerseits war über Norbert Klassen (geb. 1941 in Duisburg, gest. 2011 in Bern.) eng mit der Berner Kunstszene der 1980er- und 90er-Jahre, teils bis heute, verbunden. Und so ist die Ausstellung des deutschen Multimedia-Künstlers ebenso eine One-Man-Show wie eine Hommage an das einflussreiche Wirken des Berner Schauspiel-Lehrers und Performance-Künstlers Norbert Klassen. Wahrlich eine Win-Win-Situation. Herzstück der Ausstellung ist die Porträtinstallation mit 144 Terrakotten, die je eine Maske Klassens, aufgestützt auf Arm und Hand zeigen. Einzig die Augen sind hier geöffnet, da geschlossen. Das ergibt zusammen mit dem verweisenden Titel „Einatmen – Ausatmen“, einen 6-Sekunden „Film“ (6 x 24) aus dem Leben eines Menschen. Die nach innen gehöhlten Rückseiten der Masken zeigen verschiedenste Muster, Ornamente, Gesichter fremder Kulturen, die als weitere Ebene auf die Verbundenheit und Differenz menschlichen Leben verweisen.

Dass der Schwerpunkt bei Werken der 1990er liegt, ist in der Zusammenarbeit Kutscher/Klassen begründet. Von den neueren Arbeiten berührt insbesondere das Video von 2015, in welcher Kutscher die Requisiten der gemeinsamen Auftritte mit Klassen im Wechsel mit kurzen Flashs auf die Performances in einen Koffer packt (Sammlung Kunstmuseum Wiesbaden).

Das übergeordnete Thema Kutschers – das Porträt im Zeitfluss – greift vor allem das „Grosse Kartoffelkino“ auf, in welchem rund 60 in Kartoffeln geschnitzte, jetzt vertrocknete, Porträts in einer Arena gruppiert sind und dem animierten Film ihres eigenen Alterungsprozesses zuschauen.

 

  1. Dezember 2017: Sharyar Nashat Kunsthalle Basel

In der aktuellen Kunstszene vermisse ich zuweilen Kunstschaffende, die sich mit existenziellen Themen in Relation zu unserer Zeit beschäftigen. KünstlerInnen, die das Sein an der Membran zwischen Makro und Mikro, zwischen Diesseits und Jenseits hinterfragen. Darum begeistert mich die Ausstellung von Shahryar Nashat (geb. 1975 in Genf) in der Kunsthalle Basel (bis 7.1.18).
Kernstück ist ein 18-Minuten-Video auf 8 Flach-Bildschirmen, das a) ein hirnartiges Netzwerk in Pastelltönen, b) einen in verschiedene Farben getauchten Bildschirm eines möglicherweise unbekannte Daten aufzeichnenden Gerätes und c) rasante, Schwarz-weiss-Sequenzen von Menschen, die auf eine ausser Kontrolle geratende Situation zurasen oder rennen, zeigt.
Auf der Audio-Ebene wiederholen sich unterschwellig die monotonen Fragen: How will I die? Who will carry me? Who will feel my after-effects?
Beigestellt sind zwei an Sarkophage erinnernde, horizontale Skulpturen (violett), die auf einem pinkfarbenen Würfel ruhen. Die Metaphorik ist leicht zu erkennen, was die Lust zu verweilen, nach- und mitzudenken erhöht, zu Ergriffenheit führt.
Überflüssig ist das in einem Seitenraum platzierte Anhängsel einer „geköpften“, textilen Figur, die an ein Modell nach einem Crash erinnert.

 

  1. Dezember 2017 „Das Ministerium des äussersten Glücks“ Arundhati Roy

Es ist einer der verrücktesten Romane, die ich je gelesen habe: „Das Ministerium des äusssersten Glücks“ der indischen Oppositionellen, Frauenrechts-Aktivitstin Naturschützerin, Schriftstellerin Arundhati Roy (*1961). Es ist ein verästeltes ( dramaturgisch reichlich chaotisches) Netzwerk von Geschichten, die vom Schicksal Transsexueller über staatliche Agenten und kaschmirischer Kämpfer bis zum „Krieg“ zwischen Hindu, Musilimen, Volksstämmen, Kasten usw. reichen. Gewalt, Folter, Missbrauch sind zuweilen fast nicht zum ertragen. Und doch halten Anjum, Naga, Musa, Tilomatta und der Ich-Erzähler das Ganze emotional zusammen und binden die Lesenden ein.
Anjums Friedhof-Gasthaus (jedes Zimmer ist mit einem Grab kombiniert) wird symbolisch zum Ort des Lebens im Untergrund Dehlis. Der indisch-kaschmirisch-pakistanische Hintergrund macht das Lesen des 600-Seiten-Romans nicht einfach, aber es bereichert den eigenen Literatur- und Wissens-Horizont und lässt Indien und all seine Brandherde (gesellschaftlich/politisch etc.) aus einer ganz anderen, inneren Sicht erscheinen. – Der Titel entlehnt sich übrigens einem kleinen spirituellen Zentrum in der Nähe von Anjums Friedhof und meint wohl – übertragen – das unzerstörbare Prinzip der Hoffnung.