Zwischen Geschichte und Lust am (neuen) Leben

„Remake Berlin“ im Fotomuseum Winterthur. Bieler Tagblatt vom 24. November 2000

Keine Künstlerateliers sind so begehrt wie jene in Berlin. Die neue Metropole Europas ist wie ein Magnet. Kein Wunder darum, dass ein Museum versucht, „Remake Berlin“ zu fassen. Was würde sich besser eigenen als die Fotografie.

Am Anfang war die Idee. Dann ein grosszügiger Sponsor. Und nun eine Ausstellung, die genau das in sich trägt, was Berlin heute ist: Ein Projekt mit Ambitionen, bei sich dem Sein und Schein verschränken. Das, was die Künstler aus aller Welt in Scharen nach Berlin zieht, ist nicht nur der futuristische neue Potsdamer Platz, sondern ebenso die Gedankengebäude, die sich in den auf die Zukunft wartenden Hinterhöfen neu formen lassen. Sowohl das eine wie das andere wollte das von Urs Stahel (Fotomuseum Winterthur) und Katrin Becker (Berlin) kuratierte Projekt „Remake Berlin“ einfangen. Mit multikulturellen Portfolios von Kunstschaffenden, die entweder da leben oder für das Projekt für einige Zeit da weilten. Blicke von innen und von aussen.

Doch entstanden sind neben überzeugenden Arbeiten, auch solche, die nicht über die Auftragsreportage hinauskommen. Etwas spitz formuliert könnte man sagen, die Ausstellung als Ganzes komme nicht über eine fassettenreiche Reportage hinaus: Da wird gebaut, da sind die Gesichter, da die letzten DDR-Reste, die Ausländer-Ghettos, die Geschichte, das Essen, das Nachtleben usw. Dennoch: Das Herausragende, die Arbeiten von Boris Mikhailov, Astrid Klein, Clegg&Guttman zum Beispiel, wird über die Ausstellung hinaus Bestand haben.

Wird der Sponsor gängigerweise im Nachsatz erwähnt, stellt ihn das Museum diesmal an den Anfang: Denn das Engagement der offensichtlich nach Berlin schielenden Zürcher Bank Hofmann machte das möglich, wovon jeder Kurator und jede Kuratorin träumt. Dass er oder sie eine Ausstellung mit Arbeiten zeigen kann, die alle exklusiv für das eigene Projekt entstanden sind. Die Krux: Das, was nicht auf Bestellung entsteht, ist oft besser als das, was auf einen bestimmten Termin hin fertig sein muss.

Vielleicht ist die vielteilige Arbeit des seit einigen Jahren teilweise in Berlin lebenden Ukrainers Boris Mikhailov gerade darum die Überwältigendste, weil sie sich mit Witz und Fröhlichkeit um Berlin foutiert und es gerade damit von seiner menschlichsten Seite einfängt. Der 62jährige, in Russland einst mit Berufsverbot belegte Fotograf schloss sich dem Fanclub des 1. FC Union an, um das in Berlin wie anderswo bestbekannte Phänomen Fussball einzufangen. Entstanden ist schliesslich eine ebenso lustbetonte wie ironisch-hintergründige Arbeit zum Thema Fussball und was man sonst im Leben noch alles mit Bällen, Beinen und Armen machen kann: Vom Posieren mit dem Lederball über Sexspiele auf dem Rasenfeld bis hin zur Fan-Parade in Hitlergruss-Formation. Und dies nicht in High-Tech- und Gross-Aufnahmen, sondern als Erzählung eines mit den Spielmöglichkeiten der Kamera durch und durch Vertrauten.

Einem zugleich engagierten wie kritischen Blick hat die deutsche mit Fotografie aber auch anderen Medien arbeitende Astrid Klein mit „Luft über Berlin“ Bild gegeben. Auf zwei Ebenen fängt sie Berlins Geschichte ein: Mit einem auf die „Luft über und unter Berlin“ konzentrierten Verschnitt von Filmen bis zurück in die Anfänge der Filmtechnik. Die Weltkriege tauchen da ebenso auf, wie der Fluchttunnel von 1961. Der Projektion legt sie einen roten Teppich zu Füssen; mit den Umrissen der Stadt und einem dreiseitigen Band mit Namen von Menschen, die das Berliner Geistesleben einst geprägt haben – von Henriette Herz über Walter Benjamin bis Else Lasker-Schüler. „Es wird sich zeigen“, so Astrid Klein im Gespräch, „ob Berlin die Kraft hat, wieder eine Metropole zu werden“.

Das Portfolio der in New York respektive Köln lebenden Israeli Clegg&Guttmann wird immer spannender, je länger man schaut. Die Fotos zeigen aktuell in Berlin tätige Senator/-innen und Bundesminister/-innen, die klassisch-dunklen Porträts des 17./18. Jahrhunderts (z.B. Franz Hals) ähneln. Damit stellen die Künstler unter anderem die Frage nach der Repräsentanz von Staatsmacht einst und jetzt. Das Resultat ist ziemlich kläglich, denn mehr als Angestellte schauen da nicht aus den klassischen Herren-Anzügen und Damen-Deuxpièces. Weitere Portfolios befassen sich u.a. mit den Berliner Essgewohnheiten, dem „strammen Max“ zum Beispiel (Remy Markowitsch), fangen die riesigen Baustellen in riesigen Bildern ein (Frank Thiel) oder schauen der multikulturellen Gesellschaft ins Gesicht (Céline van Balen). Oft sind die fotokünstlerischen Vorbilder (Gursky, Ruf u.a.) aber so dominant, dass von fotografischer Eigenständigkeit nicht die Rede sein kann.

Zur Ausstellung ist ein repräsentatives Buch erschienen – der Wirtschaftsmacht sei Dank. Es zeigt nicht nur Bilder, sondern enthält vor allem auch Texte verschiedener Autorinnen und Autoren, zum Beispiel dem Schweizer Matthias Zschokke und dem Franzosen Paul Virilio. Nimmt man Mass an den Erinnerungen des Ungaren Laszlo Földenyi (1952) sind die schriftstellerischen Essays zuweilen eindrücklicher als die fotografischen.

Remake Berlin: Clegg&Guttmann, Astrid Klein, Rémy Markowitsch, Boris Mikhailov, Juergen Teller, Frank Thiel, Cécline van Balen, Stephen Wilks. Laszlo Földeny, Thomas KapielskKapielski, Monika Maron, Emine Sevgi Özdamar, Paul Virilio, Mathias Zschokke.