Bilder für das Leben in der Welt

Biennale der bildenden Künste, Venedig. Bis November 2005

Die diesjährige Biennale der bildenden Künste in Venedig ist gefestigter im Konzept und näher am Leben als frühere. Mit 50% Künstlerinnen ist sie auch die weiblichste.

Wer sich dem Diktat der Medien für einmal entzieht und nicht nach einer Jogging-Tour durch die Biennale berichtet, sondern nach ausgiebigem Verweilen, hat beim Schreiben ein anderes Venedig der Künste im Kopf. Hat interaktive Installationen nicht nur registriert, sondern selbst fortgeschrieben und Filme erlebt, nicht nur deren Thema notiert.

Das kann brisant sein, im polnischen Pavillon zum Beispiel. Polen ist eines der Länder, das den Anschluss an den westlichen Kunstmarkt geschafft hat; das heisst einzelne Künstler verfügen über Geld, um anspruchsvolle Vorhaben zu finanzieren. Zum Beispiel Artur Zmijewski. Er hat in einem spannenden 40-Minuten-Film, der stündlich gezeigt wird, das berühmte US-Experiment von 1971, welches Macht und Unterdrückung zwischen Gefangenen und Wärtern untersuchte, repetiert. Mit einem anderen Resultat: Diesmal baten die Wärter die Gefangenen an der Schwelle der Gewalt, das Projekt zu stoppen, trotz 40 $ pro Tag. Das erfährt indes nur, wer den Film zu Ende schaut, denn der Biennale-Katalog wurde vor Abschluss des Experimentes gedruckt…

Der polnische Pavillon ist an den rumänischen angebaut. Dieser ist heuer leer. Geputzt zwar und von einer Aufsicht betreut, aber ansonsten nackt. Rumänien hat einen Kurator und dieser einen Künstler (Daniel Knorr) gefunden, der die kostengünstige „Leere“ zum Konzept machte, als „kritische“ Stimme wider die Gesetze des Geldes. Das ist zwar kaum ein Marktbonus für den Künstler, aber nicht falsch, denn das Faktum begleitet einem durch die ganze Biennale. Länder, die mit „Private Public Partnerships“ (PPP) in ihre Repräsentation investierten, sind die Magneten. Das gilt ebenso für die Schweiz – insbesondere für Pipilotti Rists Installation in der Kirche San Staë – wie zum Beispiel für Frankreich, das als Lohn den „Preis für den schönsten Pavillon“ erhielt.

Die Arbeit der Jury war leicht, denn Annette Messagers aufwändige Multimedia-Installation gehört zum visuell Eindrücklichsten dieser Biennale. Die grosse französische Künstlerin, bekannt für bewegliche Stoffpuppen-Inszenierungen mit sozialkritischem Hintergrund, hat das Pinocchio-Märchen neu interpretiert. Der erste Teil zeigt eine Berglandschaft, aufgetürmt aus gestreiften Stoffbalken. Auf einem, in eine Art Eisenbahn umfunktioniert, fährt Pinocchio endlos Schlaufen. Im Mittelteil – eine 14 Minuten dauernde szenische Animation – wallt eine riesige, rot-seidene Zunge in den Raum. Ein Gebläse hebt sie auf und ab. Darunter beleuchten Lichtzellen Meere und Städte. Von der Decke sinken carnevaleske Masken mit langen Nasen. Wer lügt in dieser betörenden Welt? Im „Labor“ dahinter werden organische Stoff- und Plastik-Elemente aufgeworfen und durcheinander gewirbelt. Für wen, die schöne neue Welt?

Die drei genannten Arbeiten gehören alle zu den sogenannten „Ländervertretungen“, die in den Medien aufgrund des Presse-Wettlaufes vor der Vernissage meist stiefmütterlich oder nur das eigene Land betreffend behandelt werden. Obwohl die Zahl der repräsentierten Länder stetig steigt und heuer erstmals die Zahl 70 erreicht hat. Neu mit dabei ist zum Beispiel China, das sich in einer Halle mit geradezu denkmalschutzwürdigen, alten Öltanks am Ende des alten Hafens eingemietet hat. Die intelligente Schau spielt klug sowohl mit westlichem Denken, zum Beispiel im „Blitzlicht-Gewitter“ von Liu Wei, als auch mit spezifisch Chinesischem. Im zur Halle gehörenden „Virgin-Garden“ ist ein futuristischer Bambus-Pavilion und eine „fliegende Untertasse“ zu sehen, welche chinesische Bauern als Zukunftsmodell entwickelten und damit in Peking Schlagzeilen machten.

Trotz des gelungenen Einstiegs von China sind Gruppen-Präsentationen in den Pavillons nie so nachhaltig wie Einzelausstellungen. So bleibt denn auch in den – oft schwierig zu findenden Off-Stationen im Stadtgebiet Venedigs – manches Aufzählung. Mit Ausnahmen: Estland gab dem jungen Modefotografen Mark Raidpere die Chance, als Antwort auf eine gehässige, lokale Diskussion um Homosexualität. Was Raidpere mit einem partiell vielleicht zu privaten, zugleich aber äusserst sensiblen „Porträt“ seiner selbst, seiner Familie und seiner Freunde lohnte. Kein Zweifel: Dem unbekannten Künstler wird man bald schon in anderen Ländern begegnen.

Der Schweizer Pavillon (Ingrid Wildi, Marco Poloni, Sharyar Nashat, Gianni Motti) wurde in der hiesigen Presse sehr gelobt. Sicher zu Recht, doch er reagiert genauso wie andere Pavillons auf Lokalpolitisches – was jenen zuweilen vorgeworfen wird. Konkret: Weil sich die Kulturszene Schweiz krampfhaft bemüht, international als offen und multikulturell zu gelten, macht sie das zum Thema ihrer Ausstellung (alle vier Kunstschaffenden sind im Ausland geboren und so eine Art kulturelle Doppelbürger).

Nach Harald Szeemanns zweiter, aufgrund interner Querelen in nur sechs Monaten zu realisierender Biennale von 1999 hatte man den Eindruck, die Video-Kunst habe ihren Höhepunkt und damit auch das Ende ihrer Dominanz gefunden. Die Biennale von 2003 mit fünf künstlerischen Direktoren brachte dann tatsächlich eine neue mediale Vielfalt, doch in so unerträglicher Fülle, dass sich nur wenig einschrieb. Diesmal geht alles etwas ruhiger her und zu und das ist gut so. Den beiden spanischen Kuratorinnen, Maria de Corral und Rosa Martinez, standen für die internationalen Themen-Ausstellungen zwar weniger Geld zur Verfügung, doch sie hatten Zeit, ihre Auswahl zu überdenken und bezüglich ihrer Themen zu verdichten. Und das ist in jeder Hinsicht spürbar, inhaltlich, medial, geschlechterbezogen usw. Nur wenige Positionen fallen ab.

Dass aus Budgetgründen weniger speziell für Venedig konzipierte Arbeiten zu sehen sind, stört angesichts der globalen Ausrichtung der Ausstellung von Kapstadt bis Helsinki, von Havanna bis Moskau in keiner Weise. Im Gegenteil, es dient der Qualität der Inszenierung. Samuel Herzog schrieb in der NZZ, Rosa Martinez „Always a little further“ sei spannungsreicher als Maria de Corrals „The Experience of Art“. Das stimmt; wird man in der langgezogenen Raumflucht des Arsenale förmlich von einer Arbeit zur nächsten gezogen, sind die generationenübergreifenden Positionen im ehemaligen Italien-Pavillon Einzel-Setzungen, die nicht nur von Lust, sondern auch von Must definiert sind. Dennoch überzeugen beide Ausstellungen in hohem Masse.

Ist die Handschrift der Frauen spürbar?

Das erste Mal kuratieren zwei Frauen die internationalen Ausstellungen.

azw. Garantieren Frauen an der Spitze grosser Veranstaltungen fraubewusste Konzepte? An der Documenta vor sieben Jahren, mit Catherine David an der Spitze, war dies nicht der Fall. Jetzt in Venedig aber sehr wohl. Sowohl Maria de Corrals und Rosa Martinez setzen in ihrer Auswahl auf die Gleichzeitigkeit von Kopf und Körper, agieren emotional und intelligent in einem. Zu Lasten von allzu viel Theorie und Konzeptkunst. Das heisst soziale, gesellschaftliche Themen sind zahlreicher als visionäre Utopien, forschende Recherchen. Sie fehlen nicht – Rem Kohlhaas raumgreifend präsentierten Gedanken zu Kunst, Markt und immer mehr Museen seien als Beispiel genannt.

Wesentlich mehr unter die Haut gehen aber Installationen wie jene der Koreanerin Kimsooja (geb. 1957), die sich als „Needle-Woman“ in fünf Weltstädte stellte und die Kamera die Reaktionen der Menschen auf ihr Dasein aufnehmen liess. Das Thema des verblüffend Ähnlichen spielt auch die Palästinenserin Emily Jacir (geb. 1970) durch, wenn sie in zwei Coiffeur-Salons filmt, einmal in Ramallah, einmal in New York. Die Südafrikanerin Candice Breitz (geb. 1972) greift es ebenfalls auf – ganz anders allerdings – sie lässt berühmte Schauspielerinnen und Schauspieler in Filmrollen als Mütter und Väter um ihre Kinder streiten – mit den Mitteln des Video dramaturgisch raffiniert gesteigert. Mit dem Medium Film spielt auch die in London lebende Runa Islam (geb. in Bangladesh 1970). Wie sie verlangsamt bürgerliches Porzellan über die Kante des Tisches schubst und in Brüche gehen lässt, ist choreographisch und inhaltlich faszinierend.

„Always a little further“ ist die frechere der beiden Themen-Ausstellungen. Das beginnt schon am Anfang mit dem venezianischen Lüster von Joana Vasconcelos (geb. 1971), konstruiert aus 14 000 Mini-Tampons. Was fast alle Männer (nicht die Frauen) zum Fotografieren verführt. Doch Rosa Martinez präsentiert nicht nur junge Kunst, da gibt es auch die art brut-artig dekonstruierten Selbstporträts der Türkin Semiha Berskoy (1910-2004), die bisher kaum bekannt waren. Und auch Maria de Corrals zeigt bekannte Namen in überraschenden Kontexten, wie zum Beispiel die Installation zu Willliam Kentridge (Südafrika), der mit seinen animierten Zeichnungen den Trickfilm revolutioniert hat und sich nun quasi selbst zum „animierten Objekt“ macht.

Oder – eindrücklich – eine Reihe gemalter Toten-Porträts von Marlène Dumas. Was beide Ausstellungen indes verbindet, ist Lebensnähe, ist gelebte Erfahrung respektive innere Vorstellung. Wie sich darin Humor und existentielle Dimensionen verbinden können, zeigt zum Beispiel das Angebot des englischen Duos „Center of Attention“, das unter dem Titel „Schwanengesang“ für alle Interessierten das Musikstück spielt, welche diese an ihrem Begräbnis hören möchten – in einer Modellsituation!