„Ich muss mich immer übertreffen“

Bern und Basel: „Luginbühl total“. Bieler Tagblatt vom 22. September 2003

Kaum ist Dieter Roth total im Schaulager in Basel zu Ende, startet im Tinguely Museum Basel und im Kunstmuseum Bern Bernhard Luginbühl total. Ein schöner Zufall, massen sich Roth, Luginbühl und Tinguely doch ein Leben lang aneinander.

„Es könnte meine letzte Ausstellung sein“, sagte Bernhard Luginbühl (74) an der Pressekonferenz zu der in Tonnen wohl schwersten Ausstellung aller Zeiten. „Manchmal frage ich mich“, so der müde Wirkende, „ob ich eigentlich Eisenplastiker oder Transporteur bin“. Und widerspricht sich gleich selbst: Praktisch alle Eisenplastiken, die im Park des Tinguely-Museums platziert sind, datieren von 2003. „Mit denen hat er uns umzingelt, bevor er die Innenräume eroberte“, meinte Direktor Guido Magnaguagno und dokumentierte damit das Konzept der Ausstellung: „Bernhard Luginbühl“. Zwar sind längst die Söhne Iwan, Basil und Brutus am Werk, wenn es um körperliche Arbeit geht, doch des Künstlers Augen sind noch wie vor scharf: „Bäsu, haut, das mues witer übere“! Und der Basler Kurator Andres Pardey doppelt nach: „Bestellte man die eine Skulptur, kam sicher eine andere – und meist begriff man später, warum.“

Bernhard Luginbühl war anfänglich einer der vehementsten Gegner des Jean Tinguely-Museums im Basler Roche-Park. Doch peu à peu gewöhnte er sich daran und jetzt ist es gerade die Präsenz zweier mächtiger Tinguely-Skulpturen in der grossen Halle, die den Künstler herausgefordert haben, als wäre sein bester Freund noch am Leben. Die Basler Ausstellung von „Luginbühl total“ vibriert, lebt, spielt, kämpft. Überlegungen, warum es denn 2002 nochmals einen Kugel-„Atlas“ brauche, wo doch die ersten schon vor 30 Jahren entstanden, haben keine Chance, wichtig zu werden. Der Meister ist da und dirigiert den Zirkus. Hintergründig: Was soll das Skelett eines Jünglings, das den hölzernen „Memento mori“-Turm hinuntersteigt, bedeuten? Was verteidigt das Sturmgewehr, das Wehrmann Tinguely einst schulterte, auf der obersten Plattform? Wie ist der mächtige Bilderrahmen mit einem fotografischen Bild im Bild des Künstlers inmitten der Verbrennungsmodelle und direkt hinter dem „Pferdekopf-Altar“ zu interpretieren?

Während Basel tanzt, begreift man, dass der Künstler mit den „Stubenhockern“ (B.L.) im Kunstmuseum Bern nicht ganz klar kommt. Das Arsenal von Klein-Skulpturen und Modellen (vorab aus dem Frühwerk) bilden den analytischen Gegenpart zu Basel. Sie zeigen wie der junge Steinbildhauer zum Eisen fand, wie sich die Formen zum kunstgeschichtlichen Umfeld verhalten, wie sich löten in schmieden wandelte und das Werk wuchs und wuchs. Das ist zwar weniger lustvoll, aber nicht minder interessant. Umsomehr als das Schweizerische Institut für Kunstwissenschaft parallel zu den Ausstellungen den Werkkatalog der Plastiken 1947-2002 herausgegeben hat, der mit der Berner Ausstellung in direkter Wechselwirkung steht. Ein mächtiges Buch, an dem Jochen Hesse fünf Jahre gearbeitet hat und das nicht nur für den Künstler, nicht nur für die Schweizer Kunstgeschichte relevant ist, sondern aufgrund des fotografischen Reichtums (Luginbühl-Skulpturen lassen sich nicht als „Briefmarken“ abbilden) eine ganze Lebensgeschichte erzählt. Das Buch belebt die Ausstellung, nicht umgekehrt. Interessantes Detail: Von den 1316 aufgeführten Plastiken sind rund die Hälfte nach wie vor im Besitz des Künstlers respektive der Luginbühl-Stiftung in Mötschwil.

Die Ausstellungen versprechen „Luginbühl total“. Das ist nur bedingt richtig. Zwar zeigen Basel und Bern auch einige Zeichnungen und Grafiken und weisen auf den Reichtum der Tagebücher, doch gerade zu Bern hätte ein grösseres „grafisches Kabinett“ gehört, um das Manische, das Grenzen sprengende des Künstlers sicht- und fühlbar zu machen. Dennoch: Basel ist ein Erlebnis, die Ausstellung bringt das Paradox von Lust und Last, sich stets selber übertreffen zu müssen, zum Ausdruck. Die „Guggeli-Wand“ mit der Vielzahl von Modellen zu Grossskulpturen wirkt hierbei nachhaltiger als der Film im „Nieten-Tresor“.

Den vielleicht bisher zu wenig bedachten Schlüssel zum Kern findet man jedoch in Bern, versteckt. Im Wölfli-Saal ist eine Vitrine mit Tagebüchern von Luginbühl installiert, als Teil der Ausstellung. Die Konfrontation macht blitzartig klar, warum Luginbühl seinerzeit für die Wölfli-Stiftung gekämpft hat. Denn da vibriert es zwischen den Werken und vor allem erläutert ein kleiner Text, dass die „ZORN“-Aktionen – die frühen Verbrennungen Luginbühls – nicht nur Wut meinten, sondern explizit auf Wölfli Bezug nahmen, der mit „Zorn“ eine „ins Unermessliche verlaufende Zahl“ definierte. Ist Luginbühls Gesamtwerk – das zwischen Tonnen von kaum zerstörbarem Eisen und der Entmaterialisierung von (Holz)-Skulpturen durch Feuer bestimmt ist – somit in des Künstlers unauflösbarer Spannung zwischen Halten und sich Befreien zu suchen? Man denke nicht, man kenne Luginbühl – in den Tagebüchern warten noch viele Entdeckungen. Die neu aufgelegten „tinguelytagebuchnotizen“ – ein Handbuch mit tausend Seiten, das die facettenreiche Freundschaft der beiden dokumentiert, ist nur eine eindrückliche, den Luginbühl-Clan warmherzig aufzeigende Kostprobe. „Luginbühl total“ ist noch nicht erforscht.

Neben dem Verzeichnis der 1316 Skulpturen (Sfr. 78.-) sind die „tinguelytagebuchnotizen“ neu erschienen (Benteli-Verlag, Sfr. 39.-) und Ende Oktober erscheint ein Doppel-Ausstellungskatalog (Sfr. 25.-).