Masslos – im Kleinen wie im Grossen

Museum Gertsch in Burgdorf zeigt „Ostwind“. Bieler Tagblatt 27_10_2004

Die chinesische, auch die japanische, zeitgenössische Kunst hat, analog zur Weltwirtschaft, einen neuen Stellenwert erhalten. Das Museum Gertsch in Burgdorf zeigt drei Positionen im Dialog mit der Sammlung.

Die Ausstellung „Ostwind“ ist nicht einfach eine weitere Schau mit China-Kunst wie sie weltweit boomen. Es sind, abgesehen von den hauseigenen Werken von Franz Gertsch, nur gerade neun Arbeiten ausgestellt. Trotzdem ist es eine grosse Ausstellung. Denn die Arbeiten von Xu Bing, von Fang Lijun (China) und Yoshihiaro Suda (Japan) sind masslos – die einen in der Grösse, die anderen in ihrer raumfordernden Kleinheit. Und sie stecken ein ausgesprochen spannendes Feld um die Werke Gertschs aus.

Das Hauptwerk von Xu Bing (49) ist eine riesige Bibliothek mit einer schiergar unendlichen Zahl von aufgeschlagenen Büchern im Zeitungsformat auf dem Boden und darüber drei „from the sky“ hängende, stoffbahnen-ähnlich den ganzen Raum einnehmende, je rund 20 Meter lange Schriftrollen. Vier Jahre hat der Künstler daran gearbeitet. Der Bruch – die künstlerische Intention – liegt darin, dass die 4000 verwendeten Schriftzeichen vom Künstler in der Tradition Chinas erfundene sind und somit für Ost und West gleichermassen unleserlich. Es geht somit um das Vakuum zwischen Schrift und damit Wissen einerseits und Kultur und damit Verständnis andererseits. Und dies universal.

Die vier Arbeiten von Yoshihiaro Suda (35) haben manche gar nicht gesehen, wenn sie wieder gehen. Das Nichtfinden der Werke wäre ein Film mit versteckter Kamera wert. Ein Unkraut, das an verborgener Stelle aus dem Parkett wächst, ist so weit weg von unserem Kunstbegriff, dass wir es nicht wahrnehmen. Wer aber entdeckt, dass das „Unkraut“ oder die rote „Anemone“ in der Mauerecke aus bemaltem Magnolienholz ist, der Natur täuschend echt nachgeformt, wird vielleicht für einen Moment still.

Einem Orkan hingegen ähneln die je mehrere Reispapier-Bahnen umfassenden, wandfüllenden Holzschnitte von Fang Lijun (41), die Individuum kontra Masse, Meinung kontra Doktrin als eine Art Trauma thematisieren. Seit den ersten grossen Auftritten chinesischer Kunst im Westen vor gut zehn Jahren fällt immer wieder auf, dass es neben stillen – unserem Cliché vom Fernöstlichen entsprechenden – Kunstformen, auch sehr laute, schreiende gibt, die als gezügelter Expressionismus daherkommen. Fan Lijun gehört zu dieser Tendenz, wobei Ausgangspunkt der Umgang der Mao-Dikatur mit Konterrevolutionären ist, die er als Kind in der Familie erlebte. Nicht nur inhaltlich, auch holzschnitt-technisch sind die Arbeiten interessant.

Was die drei Positionen zur Ausstellung bündelt, ist ihr Spannungsfeld zum einen, ihr Hang zum Masslosen im Kleinen wie im Grossen, aber auch ihre Vernetzung mit Franz Gertsch. Seine „Gräser“, in höchster Perfektion ins Licht der Malerei geholt, rufen dem „Unkraut“ und vice versa. Die Zahl der Punktierungen in den Holzstichen Gertschs kommunzieren mit den Schriftzeichen Xu Bings. Aber auch die Kalligraphie als Haltung, die Bing im „Schulzimmer“ zeigt, verbindet sich mit der konzentrierten Arbeitsweise Gertschs. Während Fang Lijuns Arbeiten zum einen als Kontrapunkt wirken, über die Holzschnitt-Technik und den Anspruch an Format und Raum aber auch Brücken schaffen.