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Newsletter VI 2025
- Louisa Gagilardi (*1989 Sion) „Revealing“ 2022 Ink on PVC, Gel, Nagellack – zur Zeit im MASI in Lugano ausgestellt. Foto: azw
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Diesmal ist es nicht eine Ausstellung aus der Romandie, die ich bewusst einbeziehe um den Anspruch gesamtschweizerisch zu erfüllen, denn auch das Tessin gehört dazu! Es ist erstaunlich wie viele zeitgenössische Museen und Kunstinstitutionen es da gibt, allen voran das MASI (Museo d’arte Svizzera Italiana) in Lugano unter der Leitung von Tobias Bezzola, aber auch Bellinzona, Locarno, Mendrisio u.a.m.
Ein Highlight meiner Kunst-Tour der letzten Wochen ist denn auch die Ausstellung von Louisa Gagliardi in Lugano. Dann wollte ich aber auch wissen, ob man aus der Pinselmarkierung Nr. 50 im Abstand von 30 cm (sie wissen es: Niele Toroni !) eine nicht langweilige Retrospektive machen kann (Casa Rusca Locarno). Fazit: Man kann. Dann gilt meine Bewunderung aber auch der Präsentation und Konzeption von Medardo Rosso in Basel, bevor ich dann mit der Leserschaft zu Meret Nina Ates nach Müsigricht gehe. Das ist kein Verschreiber, tatsächlich Müsigricht.
LOUISA GAGLIARDI (*1989 in Sion) sagt im Einführungs-Video des MASI in Lugano: Ich bin Malerin. Gemeint sind damit nicht nur die mit Gel (seltener Nagellack und Glitter) von Hand auf die Pixel-Oberfläche aufgetragenen Partien, sondern die Bilder selbst, die sie mit der Computer-Maus (und wohl auch entsprechender Software) malt. Ihre Bilder sind gross, man befindet sich als Betrachterin gleichsam im selben Raum mit den Figuren. Da sie am Bildschirm entstehen, sind die Originale (wenn man dem so sagen kann) eigentlich viel kleiner und werden dann für den Ausdruck auf PVC aufgeblasen. Das glänzende PVC ist mit ein Grund für den unwirklichen Eindruck, der einem die Bilder wie durch eine Glasscheibe erleben lässt, was die Künstlerin noch verdoppelt, indem sie mit reflektierenden, metallenen Oberflächen und/oder Glasfenstern spielt.
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Dieses Unwirkliche, Befremdende, einem in einen Zustand zwischen hier und dort Versetzende wir durch die bis ins Surreale driftenden Motive noch einmal potenziert. Etwa wenn ein Kronleuchter von unten nach oben «hängt», die Kerzen aber gleichwohl aufrecht brennen und die Figuren scheinbar normal darum herum gehen («Roundabout» 2023) oder einem gerade in einem Hotelzimmer zu Bett gehenden Paar je ein Teil ihres Körpers fehlt, als hätte die Künstlerin vergessen sie zu malen (siehe Bild oben).
Diese Zwischenwelt ist absolut faszinierend und ein exzellenter Spiegel unseres immer mehr zwischen physischer und digitaler Lebenswelt oszillierendem Daseins.
Die Ausstellung vereint Bilder der letzten Jahre. Gut gibt es auch Überraschungen wie etwa zwei durch ein Herz-Kettchen verbundene, schwarze Katzen oder das Entwicklung aufzeigende Bild einer gespiegelten Frau in einem verkritzelten Lift, die auf der Anzeigetafel den Button «Door» drückt.
Herzstück sind aber eigentlich zwei einem Rundum-Theater gleich inszenierte seitliche Kabinette, die von (gemalten) «Guardians» bewacht werden. In Nr. 1 wird eine Situation gezeigt, die sich vor und hinter einem Vorhang abspielt, wobei ein Dalmatiner Hund und einige Tauben die «reale» Gleichzeitigkeit von davor und dahinter verkörpern. Bezeichnenderweise ist aber das Dahinter im Bild eigentlich das Davor. Die Verwirrung ist künstlerische Strategie. Die Szene wird noch unterstützt durch zwei Corbusier-Sessel mit aufgedruckten Trompe-l’oeil-Kleidungsstücken im realen Ausstellungs-Raum (auf die man eigentlich sitzen darf, aber niemand tut es). Im zweiten Kabinett sind ähnlich raumfüllend zwei überlebensgrosse, schlafende Figuren zu sehen, die ganz offensichtlich träumen und Tag und Nacht durch zwei Objekt-Uhren im Raum sinnbildlich verbinden. Ohne Zweifel: Die Fahrt ins Tessin hat sich gelohnt.
NIELE TORONI (*1937 in Muralto) war einer der Mitbegründer der Gruppe BMPT (Mosset, Buren, Parmentier, Toroni) in Paris 1966, deren Manifest darin gipfelte, dass sie sagten «wir sind keine Maler», wobei damit gemeint war, dass sie keine Inhalte vermitteln wollten. Das Erstaunliche ist, dass die Gruppe, die nur gut ein Jahr bestand, noch heute nachwirkt. Das liegt daran, dass die Künstler (mit Ausnahme von Parmentier) ihre konzeptuelle Haltung beibehielten und noch heute – inzwischen 80+ – aktiv sind.
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Dass in der Schweiz nie jemand eine Retrospektive für den seit 1959 in Paris lebenden Niele Toroni einrichtete, ist eigentlich unbegreiflich, mag seinen Grund vielleicht darin haben, dass alle dachten – immer derselbe Pinselabdruck, wie soll das spannend werden? Jetzt hat es Bernard Marcadé (*1948) für die Casa Rusca in Locarno (wo Toroni einst das Lehrerseminar besuchte), gewagt… und hat gewonnen.
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Als langjähriger Kenner des Oeuvres, beginnt er – nach einer Ouverture mit klassischen Pinsel Nr. 50-Bildern – mit einigen Leihgaben frühester Arbeiten, in denen sich Toroni u.a. in fortlaufenden Variationen mit der Figur des Ritters Paolo Uccello (15. Jh.) auseinandersetzte und die Reihe «Attack» nannte.
Das Repetitive verstand er als fortlaufenden Prozess, der – schlussendlich – des Motivs nicht mehr bedarf. Im Kontext von BMPT findet er nach einem Zwischenspiel mit Lino-Arbeiten zum berühmten Abdruck Nr. 50 in regelmässigen Abständen von 30 Zentimetern, den er immer doppelt und stets einfarbig ausführt. In der Vielfalt richtet sich das Auge vermehrt auf die Bildträger, die Farben, Rhythmen, Formate und auch die kleinen Abweichungen in Form von Rahmungen und Anekdoten (wie z.B. eine Hommage an Marcel Broodthears auf einem romantischen Brocante Bild oder auch seinen Markenzeichen auf einem Bridge-Tisch). Eine «Videohommage» seines Assistenten und Freundes Giovanni Varini gibt hiezu einen Einblick, der den Museums-Besuchenden Niele Toroni in sehr persönlicher Art und Weise näher bringt.
Ein Highlight ist ohne Zweifel ein 10teiliges Fries, das in Zusammenarbeit mit Balthasar Burkhard entstand. Männliche Rückenakte in leichten Drehungen begegnen Werken Toronis in denselben Formaten mit acht Reihen wechselnder Pinsel-Abdrucke zwischen drei und vier, die so unverhofft in einen körperlichen Dialog mit den klassischen Körpern in schwarz/weiss treten.
Was die Ausstellung gänzlich weglässt, sind die unzähligen direkt in Architektur-Kontexte gesetzten Werke Toronis.
Die Einladungskarte der Ausstellung zu MEDARDO ROSSO im Kunstmuseum Basel habe ich zunächst mit Skepsis etwas zur Seite gelegt. Werke von 60 Künstler*innen im Dialog mit dem «Bambino Malato» – was konnte ein solches Potpourri aussagen? – Der Besuch in Basel hat mich eines Besseren belehrt: Die Ausstellung ist grandios!
Zuallererst: «Bambino Malato» (1894) ist eine der ganz grossen Ikonen der Bildhauerkunst um 1900. Aber Medardo Rosso (1858-1928) ist mehr als das. Die vollmundige Ankündigung, bei Rosso handle es sich um einen der wichtigsten Pioniere der Bildhauerkunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ist für einmal nicht ein «fishing for compliments» Slogan, sondern wird durch die Substanz der Ausstellung untermauert. Das wichtigste Stichwort heisst «Fotografie» und hierbei Licht/Schatten und Raum. Wie früh Rosso erkannt hat, dass die Fotografie nicht Konkurrenz ist, sondern ein Fundus für die Weiterentwicklung der Skulptur, beeindruckt. Die Ausstellung zeigt rund die Hälfte aller sich im Besitz des «Estate Medardo Rosso» befindlichen Fotografien – welch ein Schatz.
Hier wird nämlich klar, was Rosso faszinierte: Die Veränderung der Oberflächen durch ein neues Hell/Dunkel, das durch Reliefierung oder Verwendung von Pigmenten und Materialien umgesetzt werden kann. Eigenartigerweise ging es Rosso nie um die technisch perfekte Abbildung, sondern im Gegenteil das Angedeutete, Schummrige, Unscharfe, das ihm – vielleicht – mehr eigenes und damit künstlerisches Empfinden ermöglichte.
Schwieriger zu begreifen ist, warum Rosso daraus schlussfolgerte, dass die Skulptur nur eine Front hat und die Rückseite in vielen Fällen schlicht negierte. Klar, die Fotografie zeigt nie eine Rückseite, aber das Credo der klassischen Skulptur heisst doch, man müsse rundherum gehen können und die Form müsse von allen Seiten stimmen… (??)
Es ist ein gutes Konzept, den Saal im Parterre des Basler Neubaus mit Ausnahme des Dreiecks Cézanne – Rosso – Rodin einzig dem Werk Medardo Rossos zu widmen, denn so geht man bereits erfüllt von seiner Kunst in den oberen Stock und ist bereit zu Dialogen.
Doch zuerst noch dies: Rosso hat in späteren Jahren keine neuen Skulpturen mehr geschaffen, sondern die bestehenden Gusskörper immer wieder neu interpretiert, mit anderen Materialien (z.B. Wachs) überzogen und seriell in einen Dialog untereinander gestellt. Und in Ausstellungen erweiterte er den Dialog mit Werken befreundeter Künstler und zuweilen auch den Fotografien, die ihn inspirierten. In einem der Ausstellungs-Räume wird dies durch Arbeiten von Andy Warhol respektive Sherrie Levine im Künstlergespräch mit einer Serie des «Jüdischen Mädchens» überraschend augenscheinlich gegenwärtig.Der Dialog ist aber auch – per Zufall – in diesem Newsletter enthalten, denn der Ansatz Rossos lässt sich auch mit jenem von Niele Toroni vergleichen.
Ein weiteres wichtiges Moment für die ausserordentliche Qualität der Basler Ausstellung ist die Relevanz der miteinbezogenen Werke von Künstler*innen verschiedener Generationen. Verblüfft und sogleich überzeugt ist man z.B. vom Vergleich mit den Skulpturen von Hans Josephson.
Was aber hat Louise Bourgeois in dieser Ausstellung zu suchen? – Tatsächlich – da gibt es eine mit «Aetas aurea» (mythologischer Idealzustand) betitelte ausgesprochen innige Mutter/Kind-Skulptur (1886) und von Bourgeois eine inhaltlich vergleichbare Textilskulptur, die eine Mutterfigur zeigt, welche ihr Kind mit Küssen übersät. Auf die Idee muss man erst mal kommen! Sehr gefallen hat mir auch eine gläserene, sargähnliche «Gussform», eine Skultpur von Sidsel Meineche Hansen (*1981 Dänemark/London), die auf Rossos wieder und wieder verwendete eigene Gussformen hinweist.
Gegen Schluss der Ausstellung ufert die Fantasie dann vielleicht etwas aus – etwa im Vergleich von Rosso mit Rebekka Warren, aber das tut der Ausstellung nur gut, denn auch Rosso wollte immer noch weitere Schranken durchbrechen.
Und jetzt nach Müsigricht, einem Weiler im Gebiet der Schwyzer Gemeinde Steinen. Dass hier einst über Mäuse Gericht gehalten wurde, ist wohl Fantasie, aber Sprachforscher meinen, der Namen nenne ein Feld, in dem es sehr viele Mäuse gab.
Heute steht der Name insbesondere für einen jährlichen Kulturmonat in einer grossen, fachgerecht renovierten Scheune. Dieser trägt heuer den Titel «Vielschichtig» und ist eingerahmt von einer Ausstellung mit Werken von NINA MERET ATES. Die Schweizer Künstlerin ist im Aargau aufgewachsen, lebte nach der Ausbildung in Luzern lange vor allem «unterwegs»; heute wohnt und arbeitet sie primär in Engelberg.
Thema ihres Schaffens ist die Landschaft; das Wasser im Tal ebenso wie die Felshänge der Berge. National in Erscheinung trat sie 2024 im Rahmen von «Backstage Engelberg», wo sie – was typisch ist – einen forstwirtschaftlich genutzten Schopf als Ausstellung in der Ausstellung nutzte und mit einem grossen Bild das Aussen im Innern inszenierte. Noch weitergehend als Medaro Rosso ist ihr der Umraum der Präsentation der Bilder sehr wichtig.
So hat sie im Garten der Scheune in Müsigricht z.B. alte Kaninchenställe umgebaut und zu geschützten Häusern für Kunst umfunktioniert.
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Hier wie in den freistehenden, einseitig betretbaren «Kabinen» fokussiert sie damit unseren Blick auf das darin gezeigte Bild, ermöglicht auch Kleinformate immersiv als etwas Kostbares zu erleben. Wobei diese Schutzkonstruktionen zweifellos die im Bild visualisierte Natur mit meinen.
Das Gleiten ins Innere der Bildlandschaft entsteht im Wesentlichen durch die angewendete Technik. Ates arbeitet mit Malerei in transparenten Schichten, die durch Layer von lichtdurchlässigem Epoxidharz über einem Pappelholzträger gelegt werden. Was auf Distanz wie ein sphärisches Landschaftsbild Stil wirkt, wird bei näherem Betrachten (und genügend Licht) zu einer in die Tiefe führenden Reise in Berge und Täler. Strukturierende Raster stehen in zahlreichen Werken möglicherweise für eine Art Erzählung.
Dass die Künstlerin keinen Aufwand scheut, um ihre Bilder so zu zeigen wie es ihr installativ vorschwebt, zeigt sich in Müsigricht auch dadurch, dass sie kleinere auf Pappelholz gemalte Skizzen mit einem Nylonfaden-«Vorhang» hinterlegt hat, um sie frei im Raum hängend zu halten und gleichzeitig zum schweben zu bringen.
Wie schon im letzten Newsletter aufgezeigt, erlebt man in Müsigricht einmal mehr, dass man in der Schweiz für Trouvaillen oft aufs Land fahren muss. Ich mag das sehr.
Die Ausstellung von Louisa Gagliardi im Masi in Lugano dauert bis 20. Juli 2025, jene von Niele Toroni in Locarno bis zum 17. August. Die Retrospektive Medaro Rosso in Basel ist bis 10. August zu sehen und die Ausstellung von Nina Meret Ates im Müsigricht bis zum 15. Juni. Alle Ausstellungen sind von Katalogen begleitet.
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Alle Fotos: azw