Newsletter III 2023

Augustin Rebetez, „Inventar“, Ausstellung „Vitamin“, Aargauer Kunsthaus Aarau. Foto: azw

Seit der Pandemie mit ihren Reiseeinschränkungen habe ich den Eindruck, dass die Schweizer Museen, z.T. sogar die Kunsthallen, nicht mehr so ausschliesslich auf „jung und/oder global“ setzen, sondern auch geschichtlichen Positionen Raum geben. Aktuell ist das gerade markant. Theo Gerber (1928-1997) in Thun, Ilse Weber (1908-1984) in Chur, Sheila Hicks (*1934) in St. Gallen, um nur jene zu nennen, die ich gerade gesehen habe und die – man bedenke, dass die Schreibende Jahrgang 1947 hat! – für mich keine Entdeckungen sondern Wiederbegegnungen sind.

Besonders gefreut habe ich über das unerwartete Wiederauftauchen von THEO GERBER, der – wie andere auch – in den 1960er-Jahren die Schweiz aus Protest in Richtung Paris, später Südfrankreich verliess und dies mit dem Preis bezahlte, dass man ihn hier mehr oder weniger vergass und in Frankreich nur bescheiden zur Kenntnis nahm. Immerhin hatte er in der Schweiz gute Beziehungen zu einigen für ihn wichtigen Sammlern, sodass Thun für die Ausstellung „Science Fiction“ aus dem Vollen schöpfen konnte. Positiv erstaunt hat mich insbesondere die reiche Zahl an musealen Grossformaten.

Kuratorin Helen Hirsch legt den Schwerpunkt mit recht auf die Malerei der 1960er-Jahre, in denen Gerber ein vielfarbiges, körperlich-sinnlich-surreales Werk am Rande der Abstraktion schuf, das einem förmlich einsaugt. Als Lebenspartnerin eines dieser Sammler kannte ich Theo Gerber persönlich und war auch mitsamt meinen, damals noch kleinen Kindern in den 1980ern einmal in seinem fernab allem städtischen Trubel gelegenen Landgut zu Besuch. Ein Erlebnis! Nicht zuletzt darum wusste ich um seine rebellische, welt-kritische Denkweise, die etwas suchte, dass ursprünglicher, tiefer in der Natur des Menschen verankert war als die zunehmend oberflächliche, konsum-orientierte, westliche Denkweise. Der Nachhall der Zeit, die er 1959 während einiger Monate und auch später mehrfach in Afrika verbrachte, durchwirkt sein Gesamtwerk, wenn auch – aus heutiger Sicht – vielleicht etwas idealistisch. Peter Killer, damals Direktor des Kunstmuseums Olten, hat diese Epoche 1997 unter dem Titel „Afrika komm zurück“ gezeigt.

ILSE WEBER habe ich erst kurz vor ihrer Abreise in die USA 1982 persönlich kennen gelernt. Da hatte der fulminante Aufbruch in ein ganz eigenes, sehr persönliches, zeichnerisches Universum seinen Höhepunkt bereits überschritten. Ich habe den bevorstehenden Umzug zusammen mit ihrer Tochter, der Kunsthistorikerin Marie-Louise Lienhard und ihrem als Ausland-Korrespondent tätigen Schwiegersohn Toni Lienhard,  damals als eine sie eher ängstigende denn beflügelnde Zukunftsaussicht wahrgenommen.

Stephan Kunz, Direktor des Bündner Kunstmuseums und Kurator der Ausstellung von Ilse Weber in Chur, kannte das Werk der Künstlerin aus seiner Zeit am Aargauer Kunsthaus in Aarau, wo 1999 eine mir bleibend in Erinnerung gebliebene Ausstel-lung mit Louise Bourgeois, Meret Oppenheim und Ilse Weber stattfand.

Mir scheint man spüre Kunz’ Vertrautheit mit ihrem Schaffen und vor allem auch der politisch-sozialen Gegebenheiten des Aargaus in den späten 1960er-Jahren.  Ilse Weber war keine Unbekannte damals, im Gegenteil, sie zog – obwohl mehr als eine Generation älter – mit den jungen Künstlern rund um Heiner Kielholz, Hugo Suter, Christian Rothacher u.a.m. mit.

Die enge Verbindung der Aargauer Kunstschaffenden mit Luzern und somit der „Innerschweizer Innerlichkeit“ schloss sie mit ein und da passte ihr Schaffen auch in den Kontext. Als dann um 1980 die erste Feminismuswelle so richtig an Fahrt gewann, da wurde Ilse Weber als Pionierin erkannt. Denn ihre Zeichnungen entsprachen in hohem Mass der damaligen weiblichen Suche nach einer eigenen Identität. Ihrer Generation entsprechend fand Ilse Weber diese nicht im eigenen Körper, sondern in der Natur, in der Landschaft, auch in den Dingen.

All das zeigt die Churer Ausstellung eindrücklich. Indem sie mit im Rückblick wegweisenden Ölbildern aus der Zeit um 1960 beginnt – als Beispiel: „Der Rosenhügel“ (1961) oder «Fernes Meer» (1966) – zeigt sie, auch für mich überraschend, wie früh diese Metaphern für eine Welt hinter der Welt, eine Welt der Freiheit im Land der Fantasie einsetzten.

Und dann das Abschluss-Kapitel „Americana“ (1982/84). Es zeigt verstärkt Aussenwelt, das Erkunden der neuen Umgebung in Verbindung mit bekannten, zeichnerischen Elementen. Auch abstraktes. Aber irgendwie scheint mir da eine Distanz eingebaut, welche die Zeichnungen der 1970er-Jahre nicht haben, was mir – subjektiv – sagt, dass sie das nahtlose Verschmelzen ihres Selbst mit ihren bildnerischen Motiven in Washington nicht mehr im selben Mass fand.

Interessant ist, dass sich unter den Leihgaben in Chur zwei Arbeiten befinden, die früher Meret Oppenheim gehörten (siehe Bild). Dass es eine gewisse Nähe zwischen den beiden gleichaltrigen Künstlerinnen gibt, ist seit langem bekannt; jetzt wird sie aber noch um eine Drehung deutlicher. Und zeigt en passant schmerzlich auf, dass Meret Oppenheim der Durchbruch im Alter gelang, Ilse Weber hingegen nicht. Umso wichtiger ist die aktuelle Ausstellung – die erste Solo-Schau seit der auf drei Räume zusammengestauchten Retrospektive im Kunsthaus Zürich 1992, die nicht die erhoffte Beachtung für die Künstlerin gebracht hatte, u.a. weil die Parterre-Räumlichkeiten ihren Werken das Tanzen im Raum nicht erlaubten. In meinem Text vom 19. März 1992 habe ich das unmissverständlich formuliert: https://annelisezwez.ch/wp-content/uploads/Weber-Ilse-1908-1984-Retrospektive-Kunsthaus-Zürich-1992-.pdf

So sehr ich mich über die beiden Ausstellungen in Thun und Chur gefreut habe, so falsch wäre es, den Kopf gegenüber der Gegenwart in den Sand zu stecken. Überflieger ist da im Moment ohne Zweifel „Vitamin“ von Augustin Rebetez (*1986) im Aargauer Kunsthaus. „Trash-Kunst“ lockt mich meist nicht aus der Reserve. Aber obwohl Rebetez mit hier und dort und überall Gefundenem arbeitet ist seine Kunst nicht „Trash“, sondern eine (assoziativ) mit Martin Disler entwickelte Jean Tinguely hoch Zwei Inszenierung unter Einbezug der gesamten Fumetto-Comic Szene, Bastian&Isabelle u.v.a.m.  Und dies mit Mitteln, die von Malerei und Zeichnung über Modellage und Assemblage, Metall- und Holzbearbeitung bis zu Photoshop, digitalen Licht und Ton-Effekten alles und erst noch mit offenem Ende beinhalten.

Das heisst, im Ansatz ist uns Rebetez’ Kunst nicht unvertraut. Möglicherweise ist es gerade darum, dass wir uns über den Dreh des Bekannten ins Unbekannte freuen, ob dem feuerwerkartigen Output staunen, seine ernsthafte und auch seine all überall auf Kooperation ausgerichtete Arbeitsweise wertschätzen und spüren, dass der Klamauk eine Kehrseite hat.  Vielleicht zeigt die Persiflage zu Fischli/Weiss’ Ikone-Video „Der Lauf der Dinge“, die bei Rebetez bei allem Humor in einen „Lauf des Scheiterns“ kippt, diese seiner Generation und der bedrohlichen Absurdität unserer Zeit entsprechende Welt-Sicht. Neben dem Klamauk gibt es aber auch Orte (Werke) des Rückzugs, eine von der jurassischen Natur umgebenen Welt, in der Geister und Monster ebenso leben – leben dürfen –  wie Menschen eines Naturells von Rebetez, der mit modernster Technologie im Waldhaus sitzt, denkt und schafft. Ganz ohne KI und GPT-Algorithmen.

Zeitgenössisch aktuell ist auch eine Entwicklung in der Kunstvermittlung, der Kunstmarkt-Förderung, der Galerientätigkeit. Es ist bekannt, dass es nicht mehr ausreicht, eine Ausstellung in einer Galerie einzurichten, Einladungen zu versenden und dann zu meinen, die Leute würden während den angegebenen Öffnungszeiten in Scharen kommen, um zu sehen. Newsletter, Apéros, Künstlergespräche, Konzerte, Lesungen, seltener virtuelle Rundgänge und Online-Shops, sind schon länger gang und gäbe.

Neuer sind freie „Galerist*innen“, die keine Galerien im herkömmlichen Sinn mehr betreiben, sondern für „ihre“ Künstler*innen Möglichkeiten schaffen, ihre Arbeiten zu zeigen, mit Kunstinteressierten in Kontakt zu kommen und nach Möglichkeit Arbeiten zu verkaufen. Eine von ihnen ist die Zürcherin SUSANNE KÖNIG, die im Aargau als Vorsitzende der Abteilung Kunst und Performance des Aargauer Kuratoriums bekannt ist, in ihrer Haupttätigkeit aber das „Büro König“ in Zürich betreibt. Dieses hat zwar ein Galerien-Programm an der Birmenstorferstrasse in 8055 ZH, tritt aber primär als Management für „ihre“ Künstler*innen auf.

Darunter ist LORENZ OLIVIER SCHMID (*1982), der in der ehemaligen Papiermühle in der „Klus“ ob Küttigen in der Nähe von Aarau wohnt und arbeitet. Bekannt wurde er in den letzten Jahren u.a. durch experimentelle Foto-Arbeiten, die im Mikrobereich stattfindende Naturprozesse (z.B. das verfaulen, vertrocknen einer Blüte) durch Seitenlicht-Aufnahmen und entsprechende Vergrösserungen als faszinierende Makro-Bilder sichtbar machen.

Nun hat er in Zusammenarbeit mit dem Büro König kürzlich eine aufwändig inszenierte Atelier-Ausstellung eingerichtet und über seine «Managerin»  zu Wochenend-Events mit stündlichen Einführungen und Häppchen eingeladen. Dank dem Netzwerk der Galeristin und guter Information funktionierte das bestens, die Eingeladenen kamen in Scharen. Sie erfuhren durch den Künstler viel über das nicht so einfach zu verstehende Making-of seiner Arbeiten und vor allem auch zu den zahlreichen Kunst und Bau-Arbeiten, die oft nur regional wahrgenommen       werden.

Schmid treibt die Kunst und Bau-Wettbewerbsarbeiten oft bis zu eigentlichen Modellen voran, sodass man sich plötzlich fragen kann, ob es nicht bereits Objekte an sich sind, die auch ohne situativen Bezug bestehen. Schmid arbeitet hier mit den verschiedensten Materialien, holt sich Know-How bei Spezialisten und scheut nicht vor «viel Arbeit» zurück. So treffen sich nach dem Besuch in der «Klus» die Kunst-am-Bau-Arbeiten, die Guck-Kästen (Staub im Seitenlicht) und die Fotografien zu einer neuen Einheit.

Und zuletzt noch dies:  Ich bin seit 40 Jahren Fan-Frau des Werkes von MARC ANTOINE FEHR (*1953). Aktuell zeigt er neue Arbeiten in der Galerie Kilchmann an der Rämistrasse in Zürich. Schon das erste Bild – drei Fakire, die vor einer  Steinhöhle ihre «Kunst» demonstrieren – lässt aufhorchen, weckt es doch Erinnerungen an die «mittelalterlichen» Bilder aus den 1980er-Jahren. Doch gleich daneben – stilistisch völlig anders – das ruhige, scherenschnittartige, gelb-graue Querformat «The walk of the blind man», beobachtet von «Ma Chouette». Und so geht es weiter. Fast jedes Bild  entstammt einer anderen Serie, reiht Malstil an Malstil bis – in extremis – «Le Puits» mit drei Schnauz-Masken über einem Wasserbecken, wovon eine gemalt ist und zwei real darüber gehängt sind. Der «Höhepunkt» ist jedoch das verführerische 320 cm breite Leinwandbild mit dem Titel «La Nuit» (siehe Bild), das mitten im Dunkel des Nachthimmels eine Chouette mit ausgebreiteten Flügeln zeigt, die der Betrachterin frontal entgegenfliegt und sie beinahe in ausserirdische Sphären mitnimmt. Doch dann dreht sie den Kopf nach links, erstarrt und ist schlagartig wieder auf dem Boden. Das der Ausstellung den Titel gebende Bild «Opera» zeigt im oberen Teil einen Schlachthof und im unteren Teil ein Cellisten-Orchester. Der zweite Blick macht (scheinbar) alles klar. Es handelt sich um eine Opernbühne mit Orchester. Aber da bleiben nichtsdestotrotz die schockierenden, hängenden Tierleiber.

Frühere Ausstellungen von Marc Antoine Fehr waren meist auf ein Thema oder zumindest eine durchgehende Atmosphäre ausgerichtet, in die man förmlich eintreten konnte. Und nun dieses Wechselbad zwischen Ruhe und Aufruhr. Das muss Absicht sein. Fehr wird heuer 70 Jahre alt. Will er da mit dem Etikett des im Burgund fernab der Zentren ein malerisches Universum schaffenden Künstlers aufräumen und endlich mal provozieren, Vielfalt statt Einheit zeigen? – Vielleicht. Bei seinem Renommée kann er sich das leisten. Ok. Akzeptiert.

Alle Fotos: azw