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Newsletter VII 2025
- Lindsey Mendick (*1987 UK) ist zur Zeit in der Ausstellung „Klang der Erde“ – Keramik in der zeitgenössischen Kunst im Kunstmuseum Appenzell vertreten. Foto: azw
Der Juni ist überstanden. Die Mammutveranstaltungen in Zürich (Art Weekend) und Basel (Swiss Art Awards und Art Basel) haben die Anstrengungen des Kunst-Standortes Schweiz, sich im internationalen Kontext zu behaupten, eindrücklich aufgezeigt. Ein kleiner Rückblick drängt sich auf. Die Kojen, welche die für einen Schweizer Kunstpreis Nominierten bespielen dürfen, sind atmosphärisch nicht berauschend. So richtig verwandelt hat sie eigentlich nur KATRIN SIEGRIST (*1984 BS), die einen Tempel aus gefärbten Fallschirmstoffen für meditative Zwecke daraus machte. BILD Für einen Preis reichte es trotzdem nicht, aber die Jury versteht eine Nomination mit Recht als «halben Preis», denn das Interesse richtet sich nicht einseitig auf die 9 Preisträger*innen unter den 44 Eingeladenen. Dieses Interesse ist insbesondere bei Schweizer Museumsleuten und Kurator*innen gross. Man trifft sie als Besuchende auf Schritt und Tritt.
Gesamthaft ist zu sagen, dass die Vielfalt der angewandten Medien sehr gross ist. Den aktuellen Boom der Materialbetontheit verkörpert insbesondere CLOE DELARUE (*1986) mit einem elektrifizierten «Baumstamm» (eher gruselig!). Raffael Dörig (notabene Präsident der Eidg. Kunstkommission) bezeichnete ihr Schaffen freilich bereits 2019 als «technoorganisches Wuchern». BILD Für einen Preis reichte es im Klima der diesjährigen Ausstellung nicht. Gesamthaft ist auch zu sagen, dass das Bestreben der Jury nur Neues zu prämieren, deutlich zu spüren ist, was zuweilen unnötig angestrengt wirkt.
Aufgefallen ist mir einmal mehr, dass Genf und Zürich offenbar nicht zu toppen sind. Von den neun Ausgezeichneten wohnen/arbeiten deren 4 in Genf und 3 in Zürich, verbleiben zwei für den Rest der Schweiz und Residenzen im Ausland. Wichtiger ist aber die Beobachtung, dass offenbar das Pendel umgeschlagen hat. Hatte man in den letzten Jahren den Eindruck, es sei geradezu ein Bonus eine KünstlerIN zu sein, weisen die Zahlen dieses Jahr in eine andere Richtung: Die neun Preise à 40’000 Franken gingen an sechs Männer und drei Frauen. Das scheint mir als erwartetes Korrektiv gerechtfertigt. Allerdings gehen damit betont emotionale Ausdrucksweisen etwas unter. Eigenartig, dass dieser Unterschied zwischen den Geschlechtern immer noch spürbar ist.
Vielleicht habe ich gerade darum dieses Jahr Mühe, einzelne Preisträger*innen wirklich zu mögen, am ehesten die Video-Installation der in Genf lebenden Iranerin ZHARA HAKIM *1983, die auf Zuneigung ausgerichtet ist und den Titel «Flowers out of stones» trägt. Als Gustave-Buchet Preisträgerin 2025 wird ihr im Herbst eine Einzelausstellung im MCBA in Lausanne eingerichtet. Ein Besuch ist gesetzt. BILD Im Gegensatz zu dieser Doppel-Auszeichnung reichte es SOPHIE JUNG (*1982), die eben den Berner Aeschlimann-Corti Hauptpreis erhielt, mit ihrer «Death Spiral» nicht für eine Auszeichnung in Basel. Konzeptkunst ist halt schwierig zu visualisieren!
Gefallen hat mir auch der Versuch von ANIESA DELLOVA (*1994) Malerei und Skulptur neu zusammenzudenken, auch wenn sie damit bei der Jury aus dem Rennen fiel.
Nur ein Kopfschütteln löste bei mir der Preis für die Objekte von BASTIEN GACHET (*1987) mit dem Titel «Grime love sealant» (was deepl mit «misslungene Versiegelung» übersetzt) aus. Nun, die Jury hat immer den breiteren Hintergrund als die Besuchenden, aber mein Fragezeichen bleibt. BILD
Der Eintritt in die ART BASEL ist so teuer (Fr. 68 Normalpreis), dass EIN Tagesbesuch ausreichen muss und zwar insbesondere für die Art Unlimited. Diese wurde heuer dominiert von der unglaublichen, aber auch faszinierenden Materialschlacht des ATELIER LIESHOUT aus den Niederlanden. Unter dem Titel «Voyage» versammelte er einen gewaltigen Zug von Objekten, Maschinen, Skulpturen schräg durch die Halle. Die gesamte Industrialisierung, aber auch gesellschaftliche Entwicklungen, Machttrophäen, Krieg und Tod zogen darin mit. Gezogen wurde das Ganze von zwei mächtigen Bullen, denen als Lotse ein kleines Trottinett mit einem Skelettarm auf dem Trittbrett voranfuhr. Gewaltig! Im Gespräch war man sich hinter verhaltener Hand einig, alles andere – so überzeugend es im Einzelnen auch sein mochte – zerfiel in «Zugemüse». Die Frage ist, wie sehr die ihre Präsentationen teuer bezahlenden Galerien glücklich waren über den kuratorischen Coup des künstlerischen Leiters der Art Unlimited, der Schweizer Kurator Giovanni Carmine (auch Leiter der Kunsthalle St. Gallen).
Die Ausstellungen von ROMAN SIGNER (*1938) im KUNSTHAUS ZÜRICH und in der KUNSTHALLE APPENZELL waren von Anfang an für diesen Newsletter gesetzt. Im gänzlich offenen Bührle-Saal hat Signer eine «Landschaft» eingerichtet, ein Feld mit Stationen, die sein Schaffen seit 1973 verorten; ohne Ton und ohne Sprengladungen. Die Reaktionen des Publikums sind gemischt. Für mich, die ich Roman schon seit mehr als 40 Jahren kenne und bei einigen Aktionen mit dabei war, ist es eine mutige Ausstellung. Es ist der Rückblick eines 87jährigen auf sein Leben als Künstler und ein Korrektiv am «Bild» des mit Sand, Feuer, Wasser, Strom, Farbe und mehr die Grenzen der Physik als Spektakel Auslotenden. Ihm ging es nie darum Unterhaltung zu bieten, auch wenn er als «Stuntman» seiner eigenen Arbeiten zuweilen Risiken eingegangen ist, die für das Publikum Spannung boten.
Physikalische Experimente sind immer auch Versuche, die Welt zu verstehen, ihre Kräfte im Kleinen erfahrbar zu machen. Darum ging es ihm, gepaart mit dem «Kind im Manne», der immer auch lustvoll und mit nie endendem Ideen-Füllhorn, an der Arbeit war. Typisch ist ja, dass seine Versuchsanordnungen nie komplex und hochtechnisch waren, sondern in seinem (und damit auch in unserem) Denkvermögen verharrten. Das macht sie so kostbar. Man kann ihnen – bei permanten Installationen – wieder und wieder begegnen und sich jedes Mal von neuem daran freuen.
All das zeigt die Ausstellung in Zürich. Allerdings vor allem jenen, die in ihrer Erinnerung Aktionen miterlebt oder als Filme gesehen haben. Für Erstbegegnungen eignet sich die Ausstellung weniger, auch wenn die Serie der Super-8-Filme in Kombination mit Fotos einer Frau, die in Gebärdensprache das Geschehen erklärt, stumm eine kleine Brücke schlägt. Sie ist übrigens eine der wenigen Leihgaben; die meisten anderen Arbeiten stammen aus dem Fundus des Künstlers. Auch wenn er seit einigen Jahren mit Hauser&Wirth zusammenarbeitet (die Ostschweizer unter sich!), Signer war und ist kein Kunstmarkt-Künstler.
Da die Werbung für die Ausstellung die verhaltene Inszenierung nicht betont, sondern im Gegenteil auf seine spektakulären Aktionen hinweist, ergibt sich hier ein Widerspruch, der in der Folge wohl zu den gemischten Reaktionen führt.
Ganz anders die Ausstellung von ROMAN SIGNER in der KUNSTHALLE APPENZELL, die 120 Super-8-Filme und auch einige spätere Video-Filme zeigt. Während die Choreographie der Zürcher Ausstellung stark geprägt ist vom Künstler selbst, steht hier eine zweijährige Recherchearbeit durch die Kunsthistorikerin Stefanie Gschwend im Hintergrund. Sie gipfelt in der Herausgabe eines Gesamtverzeichnis der vor allem in den 1970er/80er und frühen 90er-Jahren entstandenen Super-8-Filme. Es ist überdies – man staune! – die erste Einzelausstellung von Roman Signer in seiner Heimatstadt; bisher hatte er stets Distanz gehalten. Es sei für ihn nun aber eine sehr emotionale Geschichte geworden, sagte Direktorin Stefanie Gschwend im Gespräch. Also auch hier ein versöhnliches Zurückblicken, nicht zuletzt weil viele der frühen Filme rund um Appenzell selbst (z.B. rund um das damals leerstehende Kurhaus Weissenbad) entstanden sind.
Bildern gleich sind die Kurzfilme (jeder 3 Minuten) der Aktionen aufgereiht und an jedem Monitor laufen mehrere Filme hintereinander. Man staunt einmal mehr, wie Roman Signer es fertigbrachte, sowohl die Sprengladungen zu steuern wie die Kamera so aufzustellen, dass sie das Geschehen präzise dokumentierten. Im Rückblick sind diese Filme ja die eigentlichen Werke des Künstlers und entsprechend kostbar.
Köstlich, dass er auch die «Restfilme» – die Zeitüberschreitungen – aufbewahrte. Die Ausstellung zeigt sie in einer versteckten Passage der Kunsthalle.
Später wurden die Filme aufwendiger und in gewissem Sinn repräsentativer – die Kamera führte nun meistens Signers Frau Aleksandra – doch die Super-8-Filme zeigen Signers Kreativität, seine Ideenvielfalt gleichsam da, wo sie gärte und das ist ein Genuss. Eine Teil-Doublette mit Zürich ergibt sich einzig in der Installation mit den Doppelarbeiten Film/Gebärdensprache, die hier im obersten Stock vollständig gezeigt wird.
Damit sei die Qualität der Zürcher Ausstellung nicht geschmälert , im Gegenteil, je länger ich es mir überlege, desto mehr freue ich mich darüber, dass Signer nicht das machte, was die Kunstgeschichte vermutlich gerne gehabt hätte, nämlich eine kunsthistorische Retrospektive. Ich höre ihn förmlich wie er leise sagt: Das könnt ihr dann nach meinem Tod machen!
Ich gestehe: Eigentlich bin ich wegen der Ausstellung KLANG DER ERDE – KERAMIK IN DER ZEITGENÖSSISCHEN KUNST im Kunstmuseum nach Appenzell gefahren. Auch wenn ich Nachhinein glücklich bin, dadurch auch die Signer-Filme gesehen zu haben.
Als Bielerin habe ich natürlich geschmunzelt, dass die – wie sich dann zeigte, recht eigenwillige – Keramik-Ausstellung von Stefanie Gschwend zusammen mit ihrer einstigen Chefin im Centre Pasquart, der England-Schweizerin Feilcity Lunn, kuratiert wurde.
Dass Keramik in der aktuellen Kunst im Aufwind ist, pfeifen die Spatzen von allen Dächern, keine «Cantonale», keine Jahresausstellung ohne – oft überraschende – Arbeiten mit gebranntem Ton.
Grundsätzlich ist das aber nicht so neu wie es nun scheint; es ist eher ein aktivierter Fokus auf ein Material im Rahmen der neuen Sensibilität für alles Haptische nach einem Overload mit digitalen Daten.
Das Duo Gschwend/Lunn hat dabei aus dem riesigen Feld der Möglichkeiten eine sehr subjektiv gewissen Themen folgende Wahl von 13 Kunstschaffenden aus der Schweiz, England, Deutschland, dem Iran und den USA getroffen, wobei viele einen kosmopolitischen Hintergrund haben wie etwa die Schweizerin CARMEN D’APPOLONIO die ihr Studio in Los Angeles hat, aber u.a. bei «müller modern» in Zürich ausstellt.
Im Vergleich zu den Keramik-Arbeiten, die im Schweizer Kunstbetrieb auftauchen, legt Appenzell ganz deutlich einen Zacken zu! Respektive sie setzt als erste ausschliesslich der Keramik in der zeitgenössischen Kunst gewidmeten Museumsausstellung Massstäbe! Auffallend ist das Gewicht der mit England verbundenen Kunstschaffenden, hat in United Kingdom die Keramik doch seit jeher eine grosse Tradition, wobei nicht Funktion und Design im Vordergrund steht, sondern – etwas salopp gesagt – die verrückte Idee. Das beweisen unter anderem die schrägen Keramik-Skulpturen von LINDSEY MENDICK, aber auch die verblüffenden, Schnittmuster ähnelnden Keramik «Zeichnungen» von PALOMA PROUDFOOT, die zur Serie «Gardening» gehören. BILD RECHTS
Eine starke Präsenz in der Ausstellung hat IDA MELSHEIMER (*1968/Berlin) rund ums Stichwort «Architektur». Gefallen haben mir insbesondere ihre «Hochhäuser», die an Kaktusse erinnern und zeigen wie der Mensch Naturformen aufgreift um seine Lebenswelt zu gestalten. Aber auch ihr «Snake Grass», die Blumenstängel in Zeichen gebende Fingern verwandeln. BILD OBEN LINKS
Das Thema der Handwerklichkeit ist in allen Arbeiten präsent, das Tüfteln mit Techniken ein Teil der Werke, aber nicht die alleinige künstlerische Essenz. Selbst für Fachleute ist zum Beispiel nicht zu durchschauen wie der in Zürich wirkende Keramiker CRISTIAN ANDERSEN (*1974 Dänemark) Fundobjekte und Bau-Materialien in industrielle Guss-Keramiken verwandelt und dergestalt ungegenständliche Skulpturen schafft (Kapitel «Humor und Abgrund»).
Heutzutage sind viele Kunstschaffende in unterschiedlichen Medien unterwegs. «Wir haben sehr darauf geschaut, dass die Keramik im Schaffen der ausgewählten Künstler*innen seit längerem eine wichtige Rolle spielt», sagt Stefanie Gschwend im Gespräch. Dennoch erstaunt die Präsenz von MAI THU PERRET (*1976/Genf) vielleicht, steht doch in der Rezeption der bekannten Künstlerin meist die inhaltliche Aussage – erinnert sei an die Gruppe der „Guerillères“ (bewaffnete Soldatinnen im textilen Puppen-Look) – im Vordergrund. Doch richtig, immer war und ist da auch die Keramik – gewachsen aus der auf Handwerk ausgerichteten utopischen Frauengemeinschaft von Penderosa (Kalifornien).
Hauptwerk in Appenzell ist «Minerva», Die Frauengestalt basiert auf dem Scan einer Statue der griechischen Göttin der Weisheit, des Krieges und der Künste. Sie ist jedoch der Tessiner Gräfin Carolina Maraini (1869-1959) gewidmet, die mit ihrem Mann das heutige Istituto Svizzero in Rom als soziales Projekt entwarf. Da es kaum Spuren ihres Wirkens gibt, schuf Mai-Thu Perret 2022 dieses Werk, das vom feministischen Ansatz her ihrem Gesamtschaffen entspricht.
Nicht unerwähnt bleiben dürfen die spannenden Architektur-Modelle des iranischen Künstlers SHAHPOUR POUYANS (*1979/New York). Sie verbinden «intellektuellen Tiefgang mit akribischer Handwerkskunst» (Saaltext), untersuchen politische und religiöse Macht-Zeichen anhand ihrer Tempel, Paläste, Moscheen als vielschichtige Kultur-Zeichen. Brisanz erfahren die Skulpturen überdies durch die Schädeldecken, welche die Architektur-Skulpturen «krönen».
Ebenfalls mit Werken vertreten sind Martin Cramosta (CH), Caroline Achaintre (lebt in London), Nicole Cherubini (US), Woody de Othello (US), Edmund de Waal (UK), Clare Goodwin (CH).
Von der Länge des Newsletters her, müsste ich hier schleunigst aufhören. Doch das geht nicht, denn mein ungeplanter Besuch der Ausstellung des griechisch-britischen Künstlers MIKHAIL KARIKIS (*1975) im Kunstmuseum St. Gallen wandelte sich in kürzester Zeit von Skepsis in Begeisterung. Da gelingt es einem Künstler soziale Recherchen in einem Mass in Musik und Bilder umzuwandeln, dass daraus berührende, performancenahe Filme respektive Installationen entstehen. Highlight ist die in Zusammenarbeit mit Uriel Orlow entstandene Hommage an die Bergwerk-Arbeiter der einstigen Kohlegrube von Tilmanstone in Südengland (geschlossen 1986). Karikis fordert die
inzwischen ergrauten Männer auf, sich an Geräusche aus ihrer Arbeitszeit zu erinnern, nahm diese auf und schuf daraus ein Musikstück, das die Arbeiter als Chor im immer noch weitgehend kahlen Gelände aufführen. Wow, das geht unter die Haut!
Sehr schön und sehr poetisch ist ein zweites Highlight, entstanden in Zusammenarbeit mit drei Musikerinnen (Bass, Cello, Geige) des Jugendsinfonie-orchesters St. Gallen. Der Künstler forderte sie auf, über Klang als Gemeinschaftserlebnis nachzudenken, Musizieren als Schaffen einer neuen Welt zu verstehen. Entstanden ist eine mit schweizerdeutschen Worten durchsetzte musikalisch-tänzerische Choreographie, die mitgeprägt ist von den von Akris entworfenen Kostümen ganz in Weiss. Dass die Besuchenden dabei auf einem loungeähnlichen Sofa von de Sede sitzen dürfen, ist ein kleines Surplus, das ebenfalls zur Stimmung im Raum beiträgt.
Alle Fotos: azw