Newsletter VIII 2024

Eva Wipf (1929-1978) – aus der Serie der „Räderwerke“ 1963/65 – zur Zeit in der Kartause Ittingen (Warth) ausgestellt. Foto: azw

Dies ist der erste Newsletter, den man abonnieren kann!  – Bisher habe ich jeweils auf Facebook darauf hingewiesen, aber damit viele Interessierte nicht erreicht.  Das habe ich jetzt endlich geändert. Im Verzeichnis links gibt es neu einen Button «Newsletter», wo man sich registrieren kann.

Meine Newsletter sind keine Werbe-Plattform! Es erscheinen darin kurze Besprechungen von Ausstellungen in Schweizer Museen, Kunsthallen, Galerien, die ich gesehen habe, begeistert war oder auch irritiert, seltener verärgert. Sie sind – der Freiheit einer privaten Website entsprechend – sehr persönlich, enthalten auch Erinnerungen aus meinem Langzeitgedächtnis – dieses reicht bekanntlich bis in die 1970er-Jahre zurück. Die Auswahl unterliegt auch Zufällen (was sah ich, was habe ich verpasst). Und: Zusätzlich entfällt, was ich auf Facebook bereits besprochen habe.

Für den Newsletter VIII nominiert sind: Le Locle (Monte Vérita/Una Szeemann), Eva -Wipf (Kartause Ittingen), Backstage Engelberg  (bereits als Review), Ana Jotta (Kunsthalle Zürich), Dineo Seshee Raisibe Bopape (Migros Museum für Gegenwartskunst Zürich) und diverse andere.

Im (notabene begeisterten) Facebook-Beitrag zu Olga Titus in der Kartause schrieb ich, über die Ausstellung zu Eva Wipf müsse ich noch etwas mehr nachdenken. Nun könnte ich das in den Wind schlagen. Aber das ist zu einfach.

Die Malerin und Objekt-Künstlerin Eva Wipf (1929 – 1978) wurde vor allem in den 1960er/70er-Jahren sehr stark über ihre Persönlichkeit als Leidende am Schicksal der Welt, über die manisch-depressive Dramatik ihres Lebens innerhalb und ausserhalb von Kliniken rezipiert. Es war die Zeit da Aussenseiter*innen stark beachtet wurden. Als Eva Wipf 1978 in Brugg auf der Strasse tot zusammenbrach, hörte man den Aufschrei förmlich, umso mehr als man erfuhr, dass sie ihre Todesanzeige bereits geschrieben hatte.

Der Einsatz der von Eva Wipf eingesetzten Nachlass-Verwalterin, Rosmarie Schmid, und die Schützenhilfe von Harald Szeemann verhinderte, dass Eva Wipf in Vergessenheit geriet. Die Retrospektive im Kunsthaus Zug von 1995 versuchte erstmals das Werk als wichtigen Beitrag zur Schweizer Kunst von ca. 1948 bis 1978 zu zeigen. Den Glamour noch im Rucksack gelang das. Auch ich begann meinen Text damals mit «Eva Wipf ist eine der grossen Schweizer Künstlerinnen dieses Jahrhunderts».

Würde ich das aufgrund der Retrospektive in der Kartause Ittingen nochmals schreiben? – Nein; was nicht heisst, dass die Ausstellung fehl am Platz wäre. Sie passt sich nahtlos in den Charakter der Einzelgänger*innen in der Schweizer Kunst ein, die in der Kartause seit langem besondere Würdigung erfahren. Aber ihr Werk steht für mich heute stärker als Ausdruck eine Epoche und ihrer herausragenden Einzelfiguren da als für die Schweizer Kunstgeschichte schlechthin.

Kuratorin Stefanie Hoch folgt in etwa demselben Konzept wie Zug vor 30 Jahren, wagt aber mit zahlreichen als Schriftstreifen eingefügten Zitaten aus Tagebüchern wieder eine etwas stärkere Annährung an die Person: «Ein Protest gegen die heutige Kunst sollen meine Bilder sein» (1955). Oder dann die Klagelieder der letzten Zeit: … «Ich kann nicht mehr Gott! Antworte auf meine Funkrufe….Schicke mir das Sauerstoffgerät, das ich bei meiner Notlandung hier unten nicht dabei hatte, sonst muss ich den Dienst quittieren….» (1977).

Stärker als früher bezieht die Ausstellung das Umfeld der Künstlerin, insbesondere die Künstlerkolonie Südstrasse in Zürich (ab 1953) mit ein; relevant erscheint mir hier vor allem der Surrealist Walter Grab – da gibt es direkte Verbindungen zu den Bildern von Eva Wipf der 1950er- und frühen 1960er-Jahre. Bis sie dann in Collagen einen Ausdruck für die sie überfordernde Gleichzeitigkeit der Geschehnisse weltweit fand. Sie zog sich teilweise aus der Malerei zurück und baute aus Fundstücken (vor allem Holz, Schnur, Draht, später auch Schaltanlagen) die bekannten Schreine mit den kopfüber hängenden Jesusfiguren (und vielem mehr). Lange waren sie für mich der Inbegriff von Eva Wipf, wobei ich schon im Text von 1995 auf die enorme Kraft der malerischen «Räderwerke» mit ihrem aggressiven Farbauftrag hinwies. Nun sind sie für mich noch stärker in den Vordergrund gerückt, da sie ohne jegliche Vorkenntnisse als Kunst für sich zu stehen vermögen.

Es ist gedanklich nachvollziehbar, dass nur Fülle die Intensität  dieses Lebenswerkes zeigen kann, aber die enorme Dichte der Ausstellung verhindert die Konzentration aufs Einzelwerk, was dazu führt, dass nicht ausgesprochen kunstgewohnte Besucher*innen – und deren gibt es in einem Multi-Sparten-Kulturort viele – einfach vorbei schlendern, sogar irritiert vorbei eilen, ohne eingesogen zu werden (so beobachtet vor Ort!). Das ist schade!

Ana Jotta (sprich: Schotta) in der Kunsthalle Zürich

Die Portugiesin Ana Jotta (*1946) war mir bisher kein Begriff; kein Wunder, hat die als «ziemlich unbequem und radikal» geltende Künstlerin doch bisher nie in der Schweiz ausgestellt. Was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass ihr Schaffen zwar eine visuell spielerische, humorvolle Sprache «spricht», aber in ihrer Vielgestaltigkeit schwer fassbar ist, wie Kurator Miguel Wandschneider im Saaltext schreibt. Das ist nicht untypisch für diese Frauengeneration (auch Meret Oppenheim wurde genau dies vor Zeiten vorgeworfen). Und zudem weigert sich Jotta, ihre Arbeiten intellektuell zu unterfüttern. Sie sind, was sie sind. Auch das ist typisch für die erste Feministinnen-Generation, die oft nicht bereit war, Intuition, Lust, Freiheit, Sinnlichkeit in männliche «Rechtecke» zu pferchen. Wagenschneider nennt seine  Herangehensweise «ComPosição» was vereinfacht heisst, er spielt mit den im Werk immanenten visuellen Assoziationen – zum Beispiel farbige, auf einer Stange aufgereihte und sich in einem Spiegel verdoppelnde Garn-Knäuel (2019)  im Dialog mit ähnlich-farbigen Kreiseln auf einer Projektions-Leinwand (2008), die sich in der Fantasie miteinander zu drehen beginnen. Das ist nicht hochtrabend und will es auch nicht sein, es ist – so scheint mir – eher eine Aufforderung die Welt mit allen Sinnen, wachem Geist und offenen Augen wahrzunehmen.

Das gilt zum Beispiel auch für ein Bild, auf dem linear geordnet zu lesen ist: Aujourd’hui, c’est lundi, demain, ce sera mardi et après-demain, ce sera mercredi. Die Banalität entlockt ein Lächeln und vielleicht zugleich ein Seufzen, ach, was ist da schon wieder alles los….Ein Highlight ist ein unschwer als Selbstporträt erkennbares, vielteiliges Hängeobjekt von 1999 mit dem Titel «Esperança», dessen Buchstabe E mittels einer offenen, runden Feder gleichsam zum Schwungrad wird. Selbstironisch hängt auch eine Flasche mit einem Aufkleber «En plus je bois» daran. Um das Werk Jottas nicht etwa allzu leicht zu befinden, wählte der Kurator auch «A Poderosa» (Eine mächtige Frau) von 2006 für die Ausstellung. Es zeigt eine überdimensionierte Hand mit zwei ganzen und zwei halben Fingern aus rot lackiertem Polystyrolschaum, die aus einer steinern wirkenden Wolke nach unten zeigt. Interpretationen sind viele möglich – wichtig scheint mir, dass die visuelle Präsenz und Intensität des Werkes solche unmittelbar auslösen.

Dem Text des Kurators folgend, könnte die Ausstellung auch ganz anders aussehen und wäre immer noch Ana Jotta, doch so wie sie sich jetzt in Zürich zeigt (bis 15. Sept.), wirkt sie auf mich so nachhaltig, dass ich künftig zweifellos auf jeden Hinweis zur Künstlerin reagieren werde.

Backstage Engelberg

Nachdem es Mode geworden ist, dass renommierte Galerien aus dem Unterland Dépendances in Touristenzentren im Oberland einrichten (Beispiel Engadin), ordnete ich «Backstage Engelberg», initiiert von Peter Kilchmann, lange auch da ein. Das war weitgehend falsch. Als ich dann immer mehr positive Kommentare hörte, fuhr ich am letzten Wochenende hin und hatte grosses Glück.

Mit meinem «Talent» Stadtpläne um 180° falsch zu lesen, landete ich als erstes in Zilla Leuteneggers Audioarbeit «85 Schritte» im – allein begangen –  fast ein wenig unheimlichen Korridor, der zum Lift hinauf zum Hotel Terrace führt; dieser Rhythmus des Zählens im Verbindung mit meinem eigenen, Schritt für Schritt vorangehenden Körper – so gut! Dann fand ich den Startort im Hotel Bellevue. Da hielt sich meine Begeisterung zunächst in Grenzen – mehr als eine gewohnte Ausstellung waren die «Neuen Prototypen» im Erlensaal nicht, auch wenn ich sogleich erkannte, wie träf Claire Goodwins «Möblierung» im 70er-Jahr-Groove ins Ambiente passte.

Doch dann gings hinauf unters Dach – dass das Hotel (wohl ohne Suva-Prüfung) erlaubte, die abgetackelten Estrichkojen als Kunstkammern zu nutzen, ist erstaunlich, wesentlicher aber wie sie nun bestückt waren – z.B. mit den fast wie  in die Holzwände eingelassenen Alltags-trompe l’oeils von Christoph Hänsli oder dann mit den eigens für hier geschaffenen, skizzenhaften Grossformaten von Valerie Favre (BILD), die wie Reststücke von Notaten aus vergangener Zeit  wirken. Wer nun denkt: Aha, lauter Künstler*innen aus dem Programm der Galerie Kilchmann, liegt richtig, aber auch falsch.  Es seien 13 der insgesamt 53 Kunstschaffenden, erfahre ich später, doch sie sind prominent vertreten, was aber angesichts der Qualität absolut ok ist. Im Stadtpark stosse ich u.a. auf die majestätische «Häsin» von Leiko Ikemura, die mit ihrem verinnerlichten Ausdruck unverhofft als Apell an die Seele der Menschen, die hier weilen, erscheint. Sie ist ein Highlight, aber auch ein «Hosenlupf», wie mir Kuratorin Dorothea Strauss, die ich gleich danach im Kaffee antreffe, erzählt angesichts der hohen Transportkosten.

Ich hatte nicht erwartet, sie zu treffen (wir kennen uns seit ihrer Zeit am Haus Konstruktiv in Zürich) und bin hoch erfreut als sie mich einlädt mit einer Reihe von Freundinnen am Parcours zu den Outskirts der Ausstellung teilzunehmen. So habe ich zwar nicht alles gesehen, aber Ausserordentliches mit Mehrwert-Infos. Z.B. den zum Verweilort umfunktionierten Holzschopf (ein hölzerner Bau-Wagen) «Am End der Welt» von Nina Meret, der einzigen ortsansässigen Künstlerin der Schau. Der Ort heisst tatsächlich so, weil am Ende der Eiszeit Gebirgsverschiebungen den Ort ostseitig abriegelten. Die Künstlerin aber nennt das Bild (Ausschnitt, rechts) im Wagen «Anfang der Welt» im Sinne ständiger Transformation. Es ist das Werk mit der stärksten landschaftlichen Einbindung und darum eine gelungene Position.

 

Eine bereichernde Verbindung zum Ort schafft auch «Eiszeit» von Ester Vonplon, wobei hier ein Teil der Lorbeeren Dorothea Strauss gehören. Es war im Rahmen der Führung eindrücklich festzustellen wie sich die Kuratorin den Ort im Vorbereitungsjahr gleichsam aneignete, wie sie zur Engelbergerin auf Zeit wurde. So hatte sie z.B. immer wieder von einem in den Fels eingelassenen Keller gehört, der den Hotels als Eisschrank diente, aber niemand wusste mehr, wo dieser ist. Und dann doch! Und dann das Wissen der Kunstkennerin, dass Naturbeobachtungen Thema der heute in der Surselva lebende Künstlerin Ester Vonplon sind und sie erst vor kurzem ihre Video-Aufnahmen aus der Antarktis zu einer audio-visuellen Arbeit verdichtete.  Eine ideale Verbindung! Sie zeigt nicht nur berstende Eisblöcke, sondern – den Begriff *Eiszeit» mehrdeutig interpretierend – auch feine Natur- (Wald)-Sequenzen, die auf die klimatischen Veränderungen nach der Eiszeit – in Engelberg und anderswo – hinweisen.

Für die Realisierung der Ausstellung haben Peter Kilchmann und Dorothea Strauss eigens einen Verein gegründet (eine Notwendigkeit für die Suche nach Sponsoren). Dabei ist Backstage Engelberg vor lauter Ideen vielleicht etwas ausgeufert – 53 Kunstschaffende mit vielfach mehreren Werken! – und es gab (wie könnte es anders sein) auch nicht so Zwingendes. Aber alles in allem war Backstage Engelberg zweifellos einer der Höhepunkte des Kunstsommers 2024.