Debrunner Gertrud 1902_2000 Galerie 6 Aarau 1_1992

Vernissage Ansprache

www.annelisezwez.ch   Einführende Worte, gehalten von Annelise Zwez am 1. Januar 1992 in der Galerie 6 in Aarau. 

Galeristen: Carlo Mettauer, Roland Hächler.

 Sehr geehrte Damen und Herren

 Gertrud Debrunner macht uns alle jung. 90 Jahre hier auf der Erde – können wir das überhaupt erfassen? Können wir nachvollziehen, was es heisst von den 20er und 30er Jahren geprägt zu sein, auf  85 Jahre Zeitgeschichte – Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts! –  zurückblicken zu können? Für die Generation der erst halb so lange wie Gertrud Debrunner lebenden: Können wir nachvollziehen, was es heisst, die Geschehnisse des 2. Weltkrieges unmittelbar gespürt zu haben? Wir können es im Kern nicht, aber wir können es vielleicht ahnen, da wir Einiges über diese Zeiten angelernt haben. Ich selbst, ich durfte im vergangenen Jahr überdies in mehreren Malen mit Gertrud Debrunner über Ihr Leben, Ihr Schaffen in Ihrer Zeit und aus Ihrer Prägung heraus sprechen. In einem Text, der in den Aarauer Neujahrsblättern erschienen ist und hier nun auch als Separatdruck aufliegt, habe ich versucht, diese Gespräche in feste Wort-Form zu bringen. Wer ihn schon gelesen hat, wird im Folgenden einige Passagen daraus wiedererkennen.

 Doch vorerst ein paar Worte zur Ausstellung von Gertrud Debrunner hier in der Galerie 6: Als ich letzten Montag  in diesen Raum kam – die Bilder hingen alle schon an Ort und Stelle – erschrak ich. Ich ging mir selbst auf den Leim, meiner kunstgeschichtlich angelernten Vorstellung, eine Ausstellung habe zu sein wie aus einem Guss, so schön kompakt, so schön ein geschlossenes Gesamtwerk. Und diese Vorstellung fand hier zunächst kein spontanes Echo. Ich hatte für einen kurzen Moment vergessen, dass gerade dieser auf Aussen-Wirkung bedachte Effekt Gertrud Debrunner nie interessierte, denn ihre wichtigsten Arbeiten sind nicht vordergründig als Kunst – das heisst nicht als optische Schau-Stücke, sondern als bildhafte Forschungen geistiger Natur geschaffen worden. Und wir wissen heute – die Ausstellungen Harald Szeemanns, die „Visionäre Schweiz“ zum Beispiel, aber auch schon frühere, versuchen dies immer wieder darzustellen – dass die intensivsten künstlerischen Ausdrucksformen ihre Wurzeln viel tiefer im Menschen haben, als in einem oberflächlichen Bemühen um Schau-Vergnügen. Als ich dann eine Weile da war, mich auf die einzelnen Werke konzentrierte, manchmal sogar auf Werkgruppen – bei den sich von ihren festen Formen befreienden Landschaften zum Beispiel – kam das Moment der Faszination wieder, das Sehen und Spüren des stillen Dialoges zwischen Innen und Aussen, zwischen Wollen und Werden, zwischen passivem und aktivem Tun, sei es in den Faden-Bildern aus den 50er Jahren, die ich ganz besonders liebe, sei es bei den Blindzeichnungen und ihren bewusst gesetzten Schraffuren, sei es bei den bereits erwähnten Landschafts-Zeichnungen, die man fast besser hören als sehen kann und dann, nicht zuletzt, bei der stattlichen Gruppe von Aquarellen, die sage und schreibe 1991 entstanden sind und – ich weiss, es klingt pathetisch, was ich jetzt sagen möchte, aber ich sage es trotzdem, sie können es ja dann wieder in die Realität hinunterdividieren – Aquarelle, die mir eindrücklich aufzeigen, dass geistige Kraft Alter in unserem irdischen Sinn nicht kennt, es sei denn eine Krankheit verneble uns den Zugang.

 Ich habe jetzt für viele vermutlich etwas vorgegriffen, darum drehe ich das Rad jetzt nochmals zurück, zurück in die 20er Jahre. Die in Wädenswil aufgewachsene Gertrud Treichler hatte die Töchterschule Zürich abgeschlossen und war nun, ja eben, Tochter. An eine Berufsausbildung dachte niemand. Gertrud Treichler hat das indes genutzt. Sie spielte intensiv Klavier, erarbeitete mit Vorliebe Werke von Debussy und Ravel, besuchte Vorträge, griff nach Wissen, wo es sich ihr bot. Zögernd näherte sie sich der bildenden Kunst, zunächst übers Sticken – einem traditionellen Frauenbereich, doch sie stickte Landschaften mit zum Teil deutlich expressiven Formen. Wegweisend war die Bekanntschaft mit dem Zürcher Maler Ernst Wehrli – einem gebür-tigen Küttiger – den sie in ihre Familie einführte und der ihr auch Malstunden erteilte.In intellektuellen Kreisen Zürichs wur-de in den zwanziger Jahren heftig über die „panidealistischen“ Ideen von Rudolf Maria Holzapfel ( geb. 1874 in Krakau, gest. 1930 in Muri b. Bern) diskutiert. Auf Anraten besuchte Gertrud Treichler von Schülern Holzapfels veranstaltete Studienabende und setzte sich intensiv mit dessen Ideen für eine ethisch-geistige Erneuerung der Kultur auseinander. Anwesend war auch der junge Kunsthistoriker und Psychologe Hugo Debrunner, den Gertrud Treichler 1930 heiratete. 1931 kam Sohn Ingo zur Welt. An den Beginn eines malerischen Werkes war nun – dem gesellschaftlichen Credo folgend – nicht zu denken, doch brachte Hugo Debrunner unablässig neues Wissen und neue Anregungen nach Hause. Von Holzapfels Theorien wandten sie sich bald ab und öffneten sich mehr und mehr für die Lehre C.G. Jungs. Das Entdecken innerer, von der Aussenwelt unabhängiger Bildkräfte faszinierte beide gleichermassen. In diesem wachen Klima begann Gertrud Debrunner um 1937 erneut zu malen. Das Innere des Aeusseren, die Existenz von bestimmenden Kräften jenseits unserer Sinne interessierte sie. Den Weg nach innen zu finden, brauchte indes Zeit.

1940 zog die inzwischen vierköpfige Familie nach Stäfa. Hier richtete sich Gertrud Debrunner in einem kleinen „Wöschhüsli“ ein Atelier ein. Die Erregung durch den Krieg drängte sie zu intensivem Nachdenken und ebnete schliesslich den Weg zur eigenen, vom Gegenstand gelösten Kunst. Sie erlebte die Oeffnung als Vision einer Metamorphose. Einer Vision, in der sich Inneres und Aeusseres, Sichtbares und Unsichtbares, Vergangenes und Gegenwärtiges in spontaner Energiekonzentration verbanden. Sie erkannte die geistige Energie des Lebens als Möglichkeit künstlerischer Aeusserung, wobei sie aber schnell merkte, dass diese Energie nicht einfach da ist, sondern nur in Momenten höchster Konzentration fassbar wird.

 Lange schon beschäftigte sie die Linie, die Dinge verbindet, einen Weg zeichnet, den Lauf der Zeit zeigt.Eines Nachts sah sie im Traum ein dichtes Gespinst, ein – Zitat – „atmendes Faserbündel“. Wieder und wieder vibrierte es vor ihren Augen. Tags darauf im Atelier versuchte sie ihm Gestalt zu geben. Zufällig lag am Boden ein Bündel Garnfäden. Sie nahm einen Faden, legte ihn aufs Papier, so wie er sich selbst formte. Das unscheinbare Ereignis wurde für Gertrud Debrunner zum zentralen Erlebnis. In den ab 1947 entstehenden Fadenbildern entwickelte sie eine ganz eigene Technik und auch eine ganz eigene Art der Bilderproduktion. Der Faden wurde ihr zum Mittler zwischen Innen- und Aussenwelt. Den Faden in der Hand versuchte sie, sich von allem Alltagsballast zu befreien, sich leer zu machen und in dieser tagtraumähnlichen Situation der Hand und dem Faden zuzuschauen, was sie formten, welchen Weg sie legten. Der tiefe Glaube an die Kraft der Intuition, an die Existenz unbewussten Wissens bestimmte das Geschehen. In einer zweiten, ebenso wichtigen und wesentlich wacheren Phase befragte sie dann den Faden nach seiner Bedeutung, nun mit Pinsel und Farbe in der Hand. Es entstanden Innen- und Aussenflächen, Tupfen und Flecken, wolkige Flächen, naturhafte Verdichtungen, aber auch figürliche oder pflanzliche Gebilde. Dieses Spiel mit dem Unbewussten als unbekannte Partnerin faszinierte Gertrud Debrunner während Jahren. Das Vorgehen war indes vor Enttäuschungen nicht gefeit, denn es gab Tage, da kam einfach nichts, da konnte sie sich nicht genügend loslassen, nicht frei genug werden, um Inneres auszustülpen.

 Ich bin keine C.G. Jung-Fachfrau, aber von meinen eigenen intensiven Beobachtungen zum Thema weiblich und männlich innerhalb der Kunst, wage ich doch die Behauptung, dass diese zweigeteilte Arbeitsweise von Gertrud Debrunner in den Fadenbildern und später auch den Blindzeichnungen mit Schraffuren oder anderen Ergänzungen  bis hin zur Malerei, dem Animus- und Anima-Prinzip, dem weiblichen und dem männlichen Prinzip entspricht, wobei ich – wiederum ausgehend von meinen eigenen Forschungen, nicht von C.G. Jung-Lektüre – festgestellt habe, dass sich das weibliche Prinzip sehr oft als etwas manifestiert, das durch den Ich-Körper hindurchgeht und sich mit dieser Körper-Erfahrung im Hintergrund äussert. Das ist jetzt vielleicht etwas schwierig für eine Vernissagerede, aber vielleicht haben sie Lust einmal darüber nachzudenken.

 Ich habe schon mehrfach das Wort „Blindzeichnung“ erwähnt.Diese Arbeiten entstanden sehr viel später als die Fadenbilder, nämlich vorab in den 70er Jahren, das heisst auch hier in der Region, genauer in Biberstein, wo Gertrud Debrunner seit 1967 lebt. Die Blindzeichnungen sind eine lineare Fortsetzung, oder besser, Vertiefung des Gedankens, der schon in den Fadenbildern steckt. Nur fehlt hier der Faden, ist kein Mittler mehr da, findet die Aeusserung des Unbewussten eine direkte Mitteilungsform durch den Arm, die Hand, die ein Zeichengerät trägt. Auch hier finden wir die zweigeteilte Arbeitsweise, die Trennung zwischen passivem Geschehenlassen und aktivem Befragen.

 Wenig noch habe ich von der Landschaft gesprochen, die als Motiv das gesamte Werk von Gertrud Debrunner durchzieht, sei es in den frühesten Werken der 40er Jahre, sei es in den Collagen der 60er Jahre, sei es in den Blindzeichnungen oder anderen späten Zeichnungen,sei es in den neuesten Aquarellen. Berg und See, das Aufrechte und das Liegende, das Transparente und das Feste, das Fliessende und das Massive, das Gegebene und das sich Bewegende haben sie immer fasziniert, nicht zuletzt in der archetypischen Konstellation C. G. Jungs. Ich muss gestehen, so sehr begriffen, um was es der Künstlerin dabei geht, habe ich erst in dieser Ausstellung, wo mich insbesondere die drei Farbstiftzeichnungen faszinieren. Es geht um die Auflösung, nicht in einem kubistischen Sinn, sondern um die Auflösung des Materiellen in etwas Geistiges. Das nicht zur zu wollen sondern auch  darzustellen ist etwas sehr Schwieriges, doch hier spürt- ich sagte eingangs hört – man es förmlich und da ist auch die Entwicklung, die bis ins Heute führt, und die in den neuen Aquarellen noch einmal eine Dimension dazugewinnt.

 Ich danke fürs Zuhören und wünsche ihnen die Kraft, die sich einen Moment lang ganz auf ein oder mehrere Bilder konzentrieren zu können, um mit der Fülle, die darin steckt, in Kontakt zu kommen.