Ansprache anlässlich der Buchvernissage „Heidi Widmer“ im Gemeindehaus Wohlen, 20. Dezember 1992

 Annelise Zwez

Sehr geehrte Damen und Herren

Der Anlass, den wir heute miteinander feiern – als Freude und als Dank – ist sinnbildhaft für die Künstlerin, der wir mit unserem Da-Sein einen symbolischen Blumenstrauss überreichen. Dort sind Bilder, hier ist ein Buch. Im Buch sind Bilder und in den Bildern ist, vielleicht, ein Buch. Oder anders: Hier wie dort finden wir gestaltete Geschichten. Wenn ich die Augen schliesse und die Veranstaltung hier zum Motiv eines Traumes mache, dann sehe ich die dunkelhaarige Heidi in blauem, schwingendem Kleid, mit rotem Schal und gelben Gürtel, von hier nach dort und von dort zurück eilen, in der Hand einen Knäuel roten Garns, mit dem sie Buch und Bilder und beides mit uns unmerklich umwebt und zur Gemeinschaft knüpft. Diese Gemeinschaft von Bildern, Worten und Publikum respektive Leserschaft ist – so hoffen wir zumindest – als pars pro toto auch in der transparent-blauen Monographie, die ich „hic et nunc“ vorstellen darf, enthalten.

Sie enthält nicht – wie die meisten ähnlichen Bücher – einen beschreibenden und wertenden, kunstgeschichtlichen Teil einerseits und einen Bildteil andererseits. Ihr Inhalt pendelt vielmehr in melodischem Rhythmus vom Wort zum Bild, vom Bild zum Wort. Und unsere Augen, die uns beim Lesen, beim Schauen das Eine und das Andere vermitteln, vermischen sich in unserem Körper zu einem eigenartigen Gefühl von Verstehen und Spüren. Dass das gelingen kann, dass Wort und Bild nicht getrennt bleiben, hängt einerseits an der ausserordentlichen, graphischen Gestaltung von Pe Spalinger. Andererseits wurzelt das Miteinander darin, dass – Heidi Widmer entsprechend – vor allem Menschen aus dem Bereich der Literatur auf einzelne, von ihnen selbst gewählte Themen und Bilder eingegangen sind. So hat jede und jeder ihren respektive seinen roten Faden gespannt, der ganz persönlichen Beziehung zum Werk von Heidi Widmer Ausdruck verliehen. Laure Wyss ging in Gedanken und Worten zurück ins Rom der späten 60er Jahre, als Heidi mit Zeichnungen wie „esistono e basta“ eben das Fundament ihres engagierten, bildnerischen Schaffens legte.

Uli Däster konzentrierte sich in seiner analytisch-präzisen Art ganz auf die Fülle, die aus einer einzigen Doppel-Zeichnung – den Zeichnungen zweier Türen der Strafanstalt Lenzburg – herauszulesen ist. Frieda Vogt spannte sorgsam rote Fäden von der Künstlerin zu ihrem Publikum. Erika Burkart setzte – wie niemand anders sonst – dem gemalt-sichtbaren Bild ihr lyrisch-luftiges Bild entgegen. Peter Schellenbaum im Kontrast untersuchte mit dem aus einer langjährigen Bekanntschaft genährten, psychologischen Blick anhand einer Portugal-Zeichnung die für ihn sichtbaren Zusammenhänge zwischen der Bildgestaltung nach aussen und der individuellen Struktur der Künstlerin im Innern.

Theo Byland beschreibt Heidi Widmers Werk – ausgehend von Zeichnungen aus dem Jahre 1985 – als Welttheater unserer Existenz und betont so das Umfassende, während Magdalena Rüetschi mit feinen Worten die roten Fäden des „Ewigen Juden“ auf seinem einsamen Weg von Hier nach Dort nachzeichnet. Das Diesseits und das Jenseits, die Gleichzeitigkeit von Da-Sein und Dort-Sein nennt Heike Scheel Schellenbaum beim Namen. Dem göttlichen Licht setzt Ernst Halter in seinem Essay die Frage nach dem Dunkel, nach den Kräften zwischen Schwarz und Weiss entgegen. Kein Text ist wie der andere und doch umfassen sie alle ein einziges bildnerisches Kunstschaffen entlang seiner Entwicklung von 1967 bis heute.

Ergänzt durch einen einleitenden Text mit den Lebensstationen der Künstlerin enthält das Buch so ein facettenreiches Bild, das die Fülle des Werkes von Heidi Widmer anhand der abgebildeten Zeichnungen vernetzt und gleichzeitig die Dimensionen des in knapp 35 Jahren Geschaffenen aufzeigt. Dass das alles so spielt, ist nicht selbstverständlich, das Konzept lässt sich nicht beliebig auf andere Künstler und Künstlerinnen übertragen. Auf die Nähe von Bild und Wort habe ich bereits hingewiesen. Eine Nähe, die nichts mit Ben Vautier, mit Christopher Wool, mit Rudolf Mumprecht oder, eben jetzt in der Aargauer Weihnachtsausstellung im Kunsthaus,  mit Christine Keller Thalia zu tun hat, die alle mit Wörtern, mit Schrift-Bildern arbeiten. Die Nähe ist vielmehr inhaltlicher Natur.

Ein Text ist (fast) immer an formulierbaren Inhalt gebunden; im Bereich der Literatur meist auch – direkt oder indirekt – an den Menschen, treffender an das Lebendige. Und das trifft analog in einem Höchstmass auf das Werk von Heidi Widmer zu. Das ist bei der bildenden Kunst nicht immer der Fall. Ob in Heidis Bildern Menschen, Figuren, erscheinen oder nicht, immer handeln die Bilder von Menschen. Und dies nicht als Konzept von Kunst innerhalb der Kunst, sondern vielmehr aus dem existentiellen Bedürfnis heraus, das Wesen Mensch im Kontext des Sichtbaren und des Unsichtbaren darzustellen.

„Ich möchte Euch nahe sein“, könnte als Obertitel über ihrem Werk stehen. Der Konjunktiv „möchte“ scheint mir dabei wichtig, denn die Intensität die Heidi Widmers Zeichnungen und Gouachen enthalten, ist nicht dokumentarischer Art, sondern bezieht ihre Kraft aus der Energie des Wunsches, der Hoffnung; vielleicht die einzige Energie, die nie ganz erlischt. Heidi Widmers Werke sagen nicht in idealisierter Ueberhöhung: „Wir sind uns alle nahe“, sondern: „Wir müssen täglich rote Fäden spannen, um die Nähe zueinander nicht zu verlieren, damit „Es im sich zersetztenden Zeitgeist nicht verloren geht“. Dass es bitter nötig ist, täglich dahingehend zu arbeiten, sagt, zeigt uns Heidi Widmer. Und angesicht der politischen Lage in unserem Land wie in Europa und weltweit, sind uns Heidi Widmers Bilder tägliche Herausforderung. Sie selbst hat ihr zeichnerisches Wollen einmal in Worte gefasst:

„Ein mir möglicher Versuch, Menschliches Sein, – unser aller Da-Sein, in den verschiedenen Gestalten und Verhalten, Fakten und Taten, sowie sozialen Gefällen zu be-greifen – wahr – zu- nehmen.

Mit-Menschen, Zeitgenossen: sei es als ein in Indien, Wohlen, Nord- oder Südamerika Geborener, sei es in Gefängnissen, Drogenszenen, Prozessen, religiösen Handlungen, in Gemeinschaften aller Arten, oder als Einzelner, individuell oder in Massen – letztlich im Tiefsten, Wesentlichen ungetrennt und einander verbunden…

Staunend über das wunder-volle Unfassbare, das sich im Menschen offenbart, bin ich aber auch Betroffene vom Leid und von den Nöten, dem Dunklen und den Schatten.

Hier bin ich nun angelangt, und wage dieses Dunkle zu sehen und auch zu zeigen. Dieses Blatt ist ein einzelnes Wort zu einem Ganzen, unterwegs auf einem kontinuierlichen Weg. Notwendig geworden für das, was sich vorbereitet: Hin-Blicke auf Lichtes, vertieft und verdichtet.“

 

Es bleibt mir zu guter Letzt, allen, die das Erscheinen dieses Buches ermöglicht haben, herzlich zu danken. Gemeinsam haben private und öffentliche Geldgeber, der Verlag Aargauer Tagblatt sowie die an der Realisation direkt Beteiligten – das sind neben der Hauptperson Heidi Widmer vor allem Blanche Schwarm, Pe Spalinger und die Sprechende, versucht, der erwähnten, nicht immer leicht zu erreichenden Gemeinschaft nachzuleben. Das Resultat liegt vor. Ich hoffe, Sie haben Freude daran. Es resümiert nicht einen zu Ende gegangenen Weg, sondern es setzt einen Meilenstein auf Heidi Widmers Weg in die Zukunft. Wer Lust hat, ihn ein wenig ausgiebiger als nur hier mitzufeiern, sei herzlich eingeladen, im Anschluss an diese Stunde,  mit uns im Restaurant Rössli zusammenzusein.