Vernissageansprache für

Inga Vatter, Elsbeth Röthlisberger, Katrin Zutter, Theres Weber und Silvia Grossmann

 anlässlich ihrer Ausstellung im Kornhaus in Bern

  1. August 1996

Annelise Zwez

Sehr geehrte Damen und Herren. liebe Künstlerinnen

Die Katze lässt das Mausen nicht. Die Künstlerin Inga Vatter – erst seit kur­zem Nichtmehrpräsidentin der GSBK Schweiz – nimmt lieber den beträchtli­chen, organisatorischen Aufwand einer Gruppenausstellung auf sich, als sich allein als Künstlerin ins Zentrum zu stellen und eine Einzelausstellung ih­rer Werke – vielleicht gar eine Retrospektive – zu veranstalten. Wenn ich also den Klang der Ausstellung erspüren will, so muss ich mir überlegen, was die Arbeiten von Inga Vatter mit jenen der andern verbindet, sei es als Analogie oder Kontrast. Denn andere Kunstschaffende einladen, ihre Werke in Bezie­hung zu den eigenen zu stellen, heisst doch wohl immer, intuitiv oder analy­tisch, eine Vernetzung schaffen. Als Inga Vatter, Theres Weber und Katrin Zutter beim Erstellen der Biographien für die Einladungskarte bemerkten, dass sie alle im Sternzeichen der „Jungfrau“ geboren sind, haben sie ge­lacht; mir steht es nun wohl zu, das zu „sehen“. Ich will hier nicht einen astrologischen Vortrag halten, aber es ist unschwer festzustellen, dass die farbig schillernden Raum-Objekte von Inga Vatter, die in die Strukturen der Materie eindringenden Werke von Katrin Zutter und die Bild und Bildtträger verschmelzenden Arbeiten von Theres Weber alle in zeitaufwendigen, höchste Präzision erfordernden Arbeitsgängen entstehen, und alle der Ausstrahlung der aus Naturfasern hergestellten Materien – ich sage bewusst nicht einfach „Materialien“ – als Teil ihrer Werke eine hohe Bedeutung bei­messen. Charakteristiken, die durchaus zum Zeichen der „Jungfrau“ gehö­ren. Der Dreiklang der Raum-Zwischenraum-Architekturen von Inga Vatter, der dreidimensionalen Wachstumskräfte von Katrin Zutter und der Malerei als Ausdruck farbiger Materie gestaltenden Bilder von Theres Weber formen das zentrale Dreieck der Ausstellung im Raum, wobei die Arbeiten von Inga Vatter räumlich die Spitze bilden. Links und rechts der „Schenkel“ dieses Dreiecks bilden die Formkonzentrate der Metallskulpturen von Elsbeth Röth­lisberger auf der einen und die gebaute Architektur auflösenden Foto-Ob­jekte von Silvia Grossmann auf der andern Seite die Aussenpole eines Quer­balkens in dessen räumlicher Mitte wiederum die Arbeiten von Inga Vatter stehen. Die Metallskulpturen mit ihrer ausgeprägten Kraft des „Hier so Seins“, ihrem Ausspannen der Vertikalen, der Horizontalen und der Diagona­len wirken im Vergleich zu den leichten Arbeiten von Inga Vatter wie deren Gedanken an eine mögliche Verdichtung. Die das Gewicht steinerner Archi­tektur über Fotografie und Fotokopie aufhebenden, durch Leinöl gar durchdringenden und doch wieder architekturnah konstruierten Werke von Silvia Grossmann erweitern die luftige, offene Seite der Raum-Arbeiten von Inga Vatter. Das alles soll mitnichten heissen, dass nicht jede dieser Werk­gruppen volle Eigenständigkeit haben, aber es zeigt uns in sehr interessan­ter Weise und weit über die Kunst hinaus, wie wir – oft ohne es zu merken – Bezüge zu uns selbst schaffen. Wenn Sie überprüfen wollen, ob das denn nun stimme, versuchen Sie einmal das Spiel, das ich eben zeichnete, ausge­hend von einem der anderen Werke durchzuspielen – ich zumindest meine, dass das sehr an den Haaren herbeigezogene Geschichten ergäbe.

 

Doch lassen wir nun das Gemeinsame und machen einen kleinen Rundgang. Wir kommen also zur Türe hinein, schauen in die Runde. Geradeaus zieht uns wohl als Erstes die farbigste und durch ihre Eindimensionalität auf direkten Bildkontakt ausgerichtete Wandarbeit von Inga Vatter an. „Ich bin im Kern eine farbige Frau und ich liebe das Feuer von Gelb und Rot und Blau, das aus dem Schwarz heraus zu leuchten vermag“, sagt die Künstlerin zu dieser, ih­rer jüngsten Arbeit, als ich nach der Uebereinstimmung von Feuerwerk und persönlicher Befindlichkeit frage, gerade auch im Vergleich mit der Subtilität der Feinabstufungen der anderen Arbeiten. Doch so differenziert ist der erste Blick wohl noch kaum, denn das Gewicht der ebenmässig rostigen Me­tallskulpturen zieht nach rechts hinten. Elsbeth Röthlisberger hat eine spannungsvolle „Geschichte“ inszeniert – jede Figur hat ihren Charakter und doch sind sie im Gespräch miteinander. Aussenformen, Innenformen, Wel­lenbewegungen, Kraftstösse. Konzentrierte Ruhe, nein, noch mehr, konzen­trierte Statik. Architektur – Häuser, Plätze, Räume – utopische Architektur. Nicht im CAD-Verfahren erprobt, sondern in der Vorstellung erspürt. Lange erspürt und schliesslich gezeichnet, im Modell auf grösste Verdichtung im Vergleich zur Grösse erprobt, dann mit dem Laserstrahl hochpräzis ge­schnitten und zur geschlossenen Form verschweisst, wobei die Künstlerin die letzten beiden Schritte von einem Fachmann ausführen lässt. Die Plasti­ken sind in einem durchaus wörtlichen Sinn „geschlossen“, also auch bezüg­lich der Standflächen. Das ist zwar nicht sichtbar, aber beinahe spürbar. Denn die Arbeiten ragen nicht aus dem Boden, sie stehen als materielle Konzentrate, deren Kräfte sich als Spannungen im Gleichgewicht halten, auf ihren Sockeln.

 

Zweifelsohne hat unser Blick beim Umschreiten der Arbeiten von Elsbeth Röthlisberger immer einen Zipfel der so unendlich viel leichteren Volumen von Katrin Zutter mitwahrgenommen. Der körperliche und gedankliche Wechsel zu ihren Arbeiten geht vom Festen zum Weichen, vom Statischen zum Verformbaren, vom kaum zu Zerstörenden zum Verwundbaren, vom Gebauten zum Gewachsenen. Ein radikaler Wechsel, wenn vielleicht auch nur scheinbar. Der erfundenen Form steht die natürliche Form gegenüber, zu­mindest in den mit verdünnter Tusche Schicht um Schicht aus der Fläche herausgeholten Samenbildern. – Das habe ich noch nie gemacht beim Schreiben einer Vernissagerede. Ich bin in den Garten gegangen, habe den Kopf einer verblühten Ringelblume gepackt und mir die Samen angeschaut und dabei einerseits gesehen, dass es sich bei einer der Zeichnungen tatsächlich um Samen der Ringelblume handelt. Ich habe aber auch die enorme Wandlung vom unscheinbaren Samen in meiner Hand zur virtuosen Zeichnung realisiert, die nicht auf unserer Sehfähigkeit basiert, sondern je­ner des Binokulars. Die Natur hinter der Natur birgt faszinierende Schätze an Formen. Die wissenschaftlichen Zeichnungen entsprechenden Blätter bil­den die Basis für die dreidimensionalen Werke, die aus Nepal-Papier, das aus der Faser des asiatischen Seidelbast gewonnen wird, konstruiert sind. Wir müssen im Zusammenhang mit Kunst, die Papier als Formmasse einsetzt, zunächst ganz stark von unserem Papierdenken, das schnell einmal etwas mit zerreissen zu tun hat, abkommen. Seidelbast-Papier ist – genauso wie das Maulbeerbaum-Papier, das Theres Weber schöpft, unendlich zäh und haltbar – denken Sie zum Beispiel an die über Jahrtausende erhaltenen, äl­testen chinesischen Papierrollen. Was mich hier aber eigentlich fasziniert, ist, dass Katrin Zutter ihre Arbeiten nach teils berechneten, teils intuitiv er­fassten Konstruktionsplänen formt und näht. Wir sprechen dann aber von Formen, die wie gewachsen wirken – im Mikrokosmos herrscht die Mathema­tik, und darum gibt es – so fremd uns das zunächst erscheinen mag – eigent­lichen keinen Unterschied zwischen wachsen und konstruieren.

 

Ich bin nicht ganz sicher, ob es auf unserem Rundgang einen bestimmten Weg weiter gibt. Sicher ist aber, dass wir an den turmartigen Arbeiten von Inga Vatter vorbeigehen, spätestens in der Mitte fasziniert stehen bleiben und, wie Kinder, hin- und herzuwippen, hin- und herzugehen beginnen, um das vibrierende Spiel, das sich aus den vertikalen Zetteln und ihren Zwi­schenräumen ergibt, zu erleben. Die einfachen Piktogramme, die als Puzzle durchscheinen, verstärken das kindliche Moment, das hier keinesfalls mit „naiv“ übersetzt werden darf, wohl aber mit ungebrochener Lust. Und Inga Vatter zieht das durch, denn beim Ueberlegen, wo anders ich schon solche Metall-Konstruktionen gesehen habe, stellt sich als Assoziation immer wie­der der Kinderspielplatz ein, vielleicht, weil ich  die hängenden Paneelen in Gedanken längst auch zum Schaukeln gebracht habe. Noch einmal: Kindlich ist nicht „naiv“, und kindlich ist auch nie ohne Ordnung, aber immer auf Neu­gierde, auf Spiel, auf Erleben und Erfahren ausgerichtet. Möglicherweise sind wir heute so wenig „Hans guck in die Luft“, dass wir die im Raum hängenden Arbeiten von Inga Vatter noch kaum erblickt haben und darum weiterschrei­ten zu den aus Distanz erst als feine, grazile Konstruktionen erkennbaren Arbeiten von Silvia Grossmann; sie, die im Gegensatz zu den drei bisherigen Bernerinnen als Schweizerin in Wien wohnt. Ihre Arbeiten verraten deutlich die jüngere Generation, welche im technischen Hilfsmittel – hier Kamera und Fotokopiergerät –  keinerlei Verlust einer künstlerischen Aura mehr sehen. Ich denke, ihre Arbeiten sind sehr stark vom Leben und Erleben in einer fremden Grosstadt geprägt, wo einem, vor allem zu Beginn, lauter „Wände“ entgegentreten. Eine frühere Werkgruppe trug denn auch den Titel „Schil­der“, wobei auch sie aus Papier waren, das hier – im Gegensatz zu den Ar­beiten von Theres Weber und Katrin Zutter – trotz Zähigkeit  Zerstörbarkeit meint. Papierene Schutzschilder – glauben wir ihnen – nein, wir lächeln dar­über. Auch Häuser sind Schutzschilder – kennen wir nicht das Gefühl einer menschenleeren Stadt, weil wir das Leben hinter den Fassaden nicht spüren können? Da setzt Silvia Grossmann ein, indem sie die Bauten auflöst, durch die Fotografie in die Zweidimensionalität zurückbindet und mit den gewan­delten Elementen – von der Polaroid-Aufnahme zur vergrösserten, eventuell gespiegelten oder umgekehrten Fotokopie – etwas Neues, Rhythmisches, Bewegtes und durch das Leinöl zusätzlich Transparentes entstehen lässt.Da und dort klingt durch Figurnähe gar der Kontakt zur Haut des Men­schen an.

 

Eine ganz andere Beziehung zum Menschen wohnt in den Arbeiten von Theres Weber. Es ist die Beziehung zum tätigen Menschen, der mit seinen Händen und seiner Erfahrung Dinge zu schöpfen vermag. Eigenartig, dass das alttestamentarisch befrachtete Wort „schöpfen“ gerade beim Papier herstellen auftaucht. Ich vermag das nicht zu deuten, aber ich spüre darin die grenzenlose Faszination, die Menschen packt, welche diese Technik à fond beherrschen, denn, wie wir in den Arbeiten von Theres Weber ein­drücklich sehen, geht es beim Schöpfen von Papier aus Fasern der Natur nicht nur um die Herstellung eines Untergrundes für ein Bild oder einen Text, sondern um das Schaffen von Bildmaterie, welche Natur nicht darstellt, sondern selber ist. Wenn Theres Weber immer von neuem aufbricht, um – in den Ländern Asiens und kürzlich in Australien – ihr Können  wieder und wie­der zu erweitern, so ist der Antrieb wohl in diesem Prozess des Schöpfens im umfassenden Sinne zu orten.  Wollen wir den Arbeiten von Theres Weber näher kommen, dürfen wir uns also nicht auf das bildmässig Erscheinende beschränken, wie wir das gewohnt sind, sondern müssen uns auf die unter­schiedlich farbige und rhythmisierte Bildmaterie einlassen, die über die Grundformen der Siebe und die Beschaffenheit des Papiers hinaus, die Dauer und die Gestik der Prozesse zeigt: verhaltene Ordnungen, wellende Schimmer, in die Papiermasse eingerührte Spuren, das Entstandene überla­gernde Farbzeichen und -lineaturen.

 

Versuchen wir zusammenfassend einen Begriff zu finden, der die fünf Werk­gruppen von Inga Vatter, Elsbeth Röthlisberger, Katrin Zutter, Silvia Gross­mann und Theres Weber überdacht, so ist es zweifellos der Begriff „Dyna­mik“. Die Dynamik des Schillernden in den mehrschichtigen Geweben von Inga Vater, auch ihr Spiel mit Diagonalen, kurzen, langen, durchbrochenen. Die Dynamik, die in der verhaltenen Potenz der gedrungenen Metallskulpturen von Elsbeth Röthlisberger wirkt, aber auch hier oft die Diagonale als Span­nungselement einsetzt. Die Dynamik, die aus den wissenschaftlich akurat und dennoch überhöht gezeichneten Samenbildern von Katrin Zutter über­springt zum Wachstum ihrer freien Formen. Die Dynamik des Gegensatzes von ruhender Form und bewegtem oder linearem Gestus in den Bildkompo­sitionen von Theres Weber. Die Dynamik des Auflösens von harten Mauern in feine, ja gar fragile Aussenhaut in den Arbeiten von Silvia Grossmann. Bewe­gung als Kraft des Wandels in Bild und Raum ist somit eine Art Generalthema dieser Ausstellung.

Ich danke fürs Zuhören.