Vernissagerede anlässlich der von der Kulturkommission Lenzburg im Dr. Müllerhaus  veranstalteten Ausstellung von

 Audrey Fosbrooke, Arlette Ochsner, Gabriel Rosenberg und Felix Stampfli

 11.Januar 1997

 Annelise Zwez

 Sehr geehrte Damen und Herren

Noch nie hat die Menschheit die Welt so sehr als Welt erlebt. Noch nie war Asien und Amerika so nahe. Noch nie waren Informationen aus aller Welt so vernetzt wie heute. Globalisierung ist das Stichwort in der Wirtschaft wie auch in der Kunst. Das alles ist spannend, aber auch verunsichernd, weil es die Gefahr von Heimatlosigkeit – ich wage das befrachtete Wort – in sich trägt. Dass eine Mehrheit der in der Deutschschweiz Lebenden aus Angst, die eigene Identität zu verlieren, die Herausforderung der Grenzenlosigkeit ablehnt,  wissen wir zur Ge­nüge und die Problematik wird uns auch tagtäglich in den Medien – vom Hintergrundbericht in der NZZ bis zu den Kolumnen eines frustrierten Aargauer Malers in der Zeitung unseres Kantons – serviert. Dass es auch gegen­teilige Tendenzen gibt, die das eine tun und das andere nicht lassen wollen, wird viel weniger thematisiert. Nämlich die Rückkehr zum Ort nach der Surftour durch die Welt. Die Kunst beschäftigt das längst –  das vieldiskutierte Körperthema in der Kunst der 90er Jahre ist in der ganzen Vielfalt von Bejahung und Verneinung eine solche Rückkehr zum Eigenen; auch das Bedürfnis der Kunstschaffenden, ortsbezogene Instal­lationen zu schaffen, ist in gewissem Sinn Ausdruck davon.

Und ebenso ist diese Ausstellung eine solche Manifestation. Alle vier Kunstschaf­fenden wohnen in Lenzburg, haben sogar alle ihr Atelier im selben Ge­bäudekomplex, in Räumlichkeiten, die von der Wisa Gloria nicht mehr ge­nutzt werden. Es gab eine Zeit, da hätte man dieses lokale Element in einer Ausstellung gespürt, an den Motiven der Bilder, vielleicht sogar am Malstil. Das ist heute nicht mehr so, auch wenn ich – davon später – mit der Lust der Ironie einen unerwarteten Lenzburger Aspekt entdeckt habe. Zeitgenössische Kunst, und sei ihr Thema noch so intim, entsteht im Dialog mit der Welt, wobei das beileibe nicht a priori ein Quali­tätszeichen ist. Aber sie entsteht immer noch an einem Ort und ist da­mit, wie diese Ausstellung real zeigt, wichtiger Teil dieses Ortes und auch verbunden mit diesem Ort. Aber der Weltdialog führt dazu, dass heutige Kunst so viele verschiedene Gesichter hat. Audrey Fosbrooke, Arlette Ochsner, Gabriel Rosenberg, Felix Stampfli kennen sich unter­einander sehr gut, sind im Fall von Felix und Arlette gar eine Lebens­gemeinschaft. Doch ihre Interessen, Bedürfnisse, Spiegelbilder, Bega­bungen, Arbeitsweisen sind äusserst verschieden. Sie zeigen fast so et­was wie die Koordinaten heutigen Kunstschaffens auf. Da ist die Zeich­nerin, dort der Maler, da die mit Materialien, Mengen, Massen und ihren Wandlungen Arbeitende und dort der Konzeptkünstler, der den Phänomenen der Farbe in Malerei und Neuen Medien nachgeht. Da spiegelt sich, bei Audrey Fosbrooke, die Liebe zur Welt erzählerischer Phantasie wie sie in der Kindheit gelebt wurde, in der Erwachsenenwelt aber fast nur als Traum akzeptiert wird. Da erleben wir, bei Gabriel Rosenberg, die Lust, der Sinnlichkeit in fliessenden Bildern naturhafter Erscheinung ein Bild zu geben, ihre Spannung zwischen Erdnähe und Flugferne darzustel­len. Da spüren wir – wenn wir wollen, sogar an den Händen – die Hart­näckigkeit, mit der Arlette Ochsner dem selbstgewählten, widerspensti­gen Material Form abringt und dabei die Spuren und Gedanken, die dabei entstehen in zugeordnete Arbeiten einfliessen lässt. Und schliesslich werden wir, bei Felix Stampfli, herausgefordert, rot,blau,gelb und grün nicht einfach nur so hinzunehmen, sondern auf ihre Beschaffenheit, ihre Verhaltensweisen im täglichen Dialog mit unseren Netzhautstrukturen wahrzunehmen.

 

Fast ergibt sich aus den vier Räumen ein Lebensbild: Die Phantasie, die Sinne, die Arbeit und die Analyse, die sich in den vier Werkgruppen spiegeln und gleichzeitig je im anderen enthalten sind. Was wäre Ana­lyse ohne Phantasie, was wäre Arbeit ohne Sinne! Ich könnte jetzt, im Sinne von Arlette Ochsners dicht vernetzter Drahtgitter-Kugel zwischen Durchlässigkeit und Undurchdringbarkeit, versuchen, die vier Werkgrup­pen zu vernetzen, Arlettes stachlige Welt-Kugel mit Felix Internet-Ar­beit in Zusammenhang bringen, Gabriel Rosenbergs Schmetterlinge mit der Lust von Audrey Fosbrookes  Katze, danach zu grabschen und sie zu töten verbinden usw. Doch würde ich damit die ausgesprochene Individualität der vier Kunstschaffenden zweifellos überstrapazieren. Ich stelle die vier darum ganz lapidar einen nach dem anderen vor, denk mir höchstens etwas bei der Reihenfolge.

Felix Stampflis Werk ist erstens am Kompliziertesten zu erklären und zweitens auf Grundstrukturen ausgerichtet, die uns täglich begleiten, ohne dass wir darüber nachdenken, darum beginne ich hier. Eigentlich wissen wir alle, dass Farbe zwei Qualitäten hat, eine materielle und eine lichtmässige. Beim Material Farbe denken wir wohl an Pigmente, die in der Natur vorkommen (auch wenn sie heute oft synthetisch hergestellt werden), die mit Ingredienzen gemischt zur streichbaren Masse werden. Und bei Farbe als Licht, denken wir wohl zuallerst an den Regenbogen. Die materiale Ebene ist uns geläufig; Felix Stampfli führt sie uns in zwei Bildern vor, in denen es, obwohl sichtbar, nicht um geometrische Strukturen geht, sondern um die Gesetzmässigkeiten transparenter Farbüberlagerungen im Aquarell und um gesättigte Mischfarben im Oel­bild. Schauen ist angesagt. Die Dreiecksform von Oelbild, Aquarell und zentralem „Altar“, stellt die Raumdominante von rot, blau, grün und gelb ins Zentrum. Wie war das doch bei Barnett Newman: „Who is afraid of yellow, blue and red“. Nichts von grün. Der Amerikaner meinte damit den ungemischten Einsatz der drei materialen Grundfarben, wies aber gleichzeitig auf die Farb-Basis aller Malerei, die durch subtraktive (oder besser verständlich: multiplikative) Mischung zu Vielfalt ge­langt. Der Malerei setzt Felix Stampfli im nach hinten weisenden Drei­eck zwei verschiedenartige, technische Medien gegenüber; das Lichtbild auf der einen, das Fernsehen auf der anderen. Hier wie dort sehen wir die Abbilder der real im Raum stehenden, plastischen Alltagsgegenstände aus Kunst-Stoff oder, umgangssprachlich, aus Plastik. Plastik und Kunst scheinen im Alltag – sprachlich zumindest – eins zu sein. Die beiden Licht-Bilder zeigen zunächst die Qualität und damit auch die Bedeutung heutiger Abbildtechnik. Es sei nicht verschwiegen, dass Felix Stampfli und Hansjörg Schödler – auch er ein Lenzburger –  rund sieben Stunden in dessen Fotoatelier in Schlieren an der Plastizität suggerierendenLichtqualität für das eine Bild gearbeitet haben, während wir auf der anderen Seite eine high-tech-„Instant“-Qualität vor uns haben, dass heisst die Digitalkamera nimmt in derselben Sekunde auf, was wir – aufgelöst und wieder zusam­mengesetzt – auf dem Bildschirm sehen. Ersparen sie mir allzuviel Tech­nisches, denn da begebe ich mich aufs Glatteis. Wesentlicher ist näm­lich der Uebergang, die Projektion dazwischen. Sie ist weiss, wenn wir aus Distanz schauen, rot,blau und grün an uns selbst, wenn wir oder jemand anders davor stehen und damit die Ueberlagerung der drei Farbprojektionen stören. Damit zeigt Felix Stampfli mehrerlei. Zum einen die Tatsache, dass die Grundfarben im Lichtbereich, wo mit additiver Farbmischung gearbeitet wird, rot,blau und grün (nicht gelb) sind und dass die Mischung weiss ergibt, während sie bei der Oelfarbe grau wäre. Das Warum ist sehr kom­plex, sowohl physikalisch wie physiologisch. Denn die Physik bestimmt wohl die Gesetzmässigkeit im Frequenzbereich und dessen Mischungen, die Physiologie – das heisst im konkreten Fall unsere Netzhaut – aber die Wahrnehmung. Und damit ist in Felix Stampflis Raum unsere eigene Be­dingtheit in Relation zur Wahrnehmung im materiellen und im lichtbear­beiteten Bereich thematisiert und in dieser bildnerisch gestalteten Er­kenntnisstruktur liegt der künstlerische Wert, der über die Phänomene an sich hinausweist.

 

Nach so viel Analyse gibts nur eines: Saftige Malerei, die im Duktus den Körper und seine Gefühle mitnimmt. Sagen Sie mir jetzt nicht, Kör­pergefühle seien nur Chemie, denn ich denke nicht, dass Gabriel Rosen­berg darüber nachsinnt. Eigentlich liebe er Grossformate, sagt er, und erinnert mich an die Riss-Bilder – oder soll ich, um schon wieder Bar­nett Newman zu zitieren, von Zips sprechen – die er vor drei Jahren hier an einer Weihnachtsausstellung zeigte. Die Raumgegebenheiten mit ihren Unebenheiten und der Lichtführung von den Ecken aus, habe ihn darauf gebracht, das Erlebnis des „Im Bild-Seins“ durch eine zweiglied­rige, vielteilige Reihe zu erwirken, die überdies die Raumgrenzen über­schreitet und sich nach aussen öffnet. Doch nicht nur formatmässig sind die Bilder neu, sondern auch inhalt­lich. Die Zweiteilung ist indes geblieben. Da die Bodennähe mit ihrer materialen Substanz – voller Farbe und Saft zwar, aber doch klar ge­gliedert, getupft, aneinandergefügt, strukturiert. Da die Flugebene, in der sich alles Feste auflöst, die Konturen in den langsamen Flügel­schlägen der Schwalbenschwänze und Pfauenaugen verschwinden. Obwohl ge­genständliche Assoziationen anklingen, sind sie nur als Bilder einer emotionalen Befindlichkeit gemeint und zweifelos nicht bewusst gesucht, sondern intuitiv gefunden. Hier wie dort sind die Motive wie mit einem Zoom aus der Ferne in die Nähe geholt, aus der Ebene des Sehens in die Nähe des Fühlens. Auch die Fuss- und die Kopfhöhe ist wohl ähnlich zu interpretieren, als die körperlich greifbare zum einen, die immateriell emotionale zum andern. Wie schwierig es ist, die beiden zu verbinden, zeigen die beiden Friese allerdings auch.

 

In der räumlichen Anordnung begegnen sich die Arbeiten von Gabriel Ro­senberg und Arlette Ochsner. Haben Sie je früher gesehen, dass die Tür­rahmen zu den beiden Seitenräumen unterhalb der Mitte eingebuchtet sind? Da muss mal jemand im Laufe der Geschichte dieses Hauses mit ei­nem Spitzhammer Platz geschaffen haben, für Wein- oder Bierfässer? Ich weiss es nicht. Aber für Arlette Ochsner war diese Beschaffenheit, die es beidseits gibt, Ausgangspunkt für die rund 150 kg schwere Drahtgit­ter-Kugel, die in diesem Türrahmen steckt. Gut hatten die vogtschen Drahtwerke in Reinach gerade überschüssiges Material und überdies Lust auf die Metamorphosen ihrer zweckorientierten, industriellen Produk­tion. Die folgende, überaus lokale Assoziation sei mir nach 25 Jahren in Lenzburg verziehen: Wer hier drei Kinder im Altersunterschied von drei Jahren grossgezogen hat, der hat an neun Jugendfesten neun Mittelstufenge­schichten gehört. Eines der immer wiederkehrenden Themen dort, ist das Lenzburger Wappen mit seiner Kugel in der Mitte. Gäbe diese Kugel nicht eine wunderschöne, „bitterböse“ Geschichte in dieser Reihe?, Nun, Arlette Ochsner ging nicht vom Lenzburger Wappen aus und doch ist das bedrohliche Moment des prallen, schweren, stachligen Ballens, der ob seiner Fülle nicht mehr formbar ist und darum stecken bleibt, eine durchaus aktuelle (Schweizer) Metapher. Ich denke, es ist bezeichnend für die Künstlerin, dass sie von formalen Gegebenheiten ausgeht und im Beobachten, Erfahren und Weiterführen ihrer Idee plötzlich Inhaltliches bemerkt, das sich quasi durch die Hintertüre der eigenen Befindlichkeit einschleicht. Im Vordergrund steht aber der fast konzeptuelle Ansatz, die eigene Arbeit zu beobachten – ihre Strukturen zu fassen und – viel­leicht – umzukehren. So ist der Durchmesser der leichten, fast zeichne­rischen, mit Satinband umnähten Folien derselbe wie jener der Kugel. Und dasselbe gilt für die runde Holzplatte, auf welcher die Künstlerin den Ballen hin- und herwalzte, um seine Spuren, seine Kratzer, seine verletzende Beschaffenheit zu sehen und im nachzeichnen nochmals zu spüren. Und dieselben Masse sind auch im Gitterstapel enthalten, der auf das Ausgangsmaterial der Kugel hin­weist.

 

Steht bei Arlette Ochsner ganz klar das Greifbare, das Materiale im Vordergrund, so ist es bei Audrey Fosbrooke gerade das Gegenteil, oder präziser, die andere Seite davon. Denn auf einer primären Ebene sind ihre Zeichnungen – übrigens auf feinfasriges, im Laufe des Arbeitspro­zesses immer wieder mit Leinöl bearbeitetes Japanpapier geschaffen – Erzählungen. Wir können benennen, was wir sehen. Aber dann wird es  plötzlich ungemütlich, denn eine Puppe ohne Oberleib, ein Kind ohne Kopf, wo führt das hin? Zwar erschreckt uns das im Zeitalter der Bildausschnitte nicht mehr gar so sehr, aber trotzdem wird schnell klar, dass diese Bilder in eine Welt führen, die sich nicht an der Phy­sik orientiert. Ist es gar so, dass die weiss-transparent ausgesparten „Stoff“-Tiere quasi die Löcher bezeichnen, wo sie sind, wenn sie da sind, im Moment aber gerade mitsamt dem Kopf des Kindes verreist sind? Audrey Fosbrooke situiert ihre dunklen Zeichnungen – übrigens, haben sie schon mal bemerkt, dass die drei, inhaltlich sehr verschieden ar­beitenden Aargauer Schwarz-Zeichnerinnen alle aus Wohlen kommen, Heidi Widmer, Marianne Kuhn, Audrey Fosbrooke – nun, Audrey Fosbrooke stellt ihre Zeichnungen in ein Kinder-Umfeld, dorthin also, wo Märchen Alltag sind, obwohl wir wissen, dass Märchen tiefenpsychologische Fundgruben sind und im Kern sehr wenig mit „Kind“ zu tun haben. Audrey Fosbrooke spannt da Bögen. Zum einen ist da die reale Nähe zu ihrer kleinen Toch­ter Vera und somit zur Welt, in der die Phantasie als kreativer Aus­druck zuhause ist und sich damit als Bildfeld anbietet. Aber eigentlich ist das nur eine Legitimierung, die es zulässt, die eigene Faszination an Spiegelbildern im Hier und im Dort, im Dasein und im Traum, im re­alen und im imaginierten Leben zu visualiseren. Lassen wir uns nicht mit jedem Film passiv dahin entführen und vergessen dabei, dass wir ei­gentlich Tausende von schönen, aber auch  grausamen und zwiespältigen Filmen in uns selbst haben?

Ich danke fürs Zuhören.