Ruth Maria Obrist Galerie Elisabeth Staffelbach 2001 – AZ 19. Januar 2001
Himmelskörper mit Blick aufs Meer
Handwerkliche Präzision und darin eingelagert ein hohes Mass an ästhetischer Ausgewogenheit ist vordergründig das, was die Arbeiten von Ruth Maria Obrist auszeichnet. Im Spiegel ist indes mehr zu sehen.
Der Faden erlebt zur Zeit eine Renaissance. Kaum hat man die „Biennale de la Tapisserie“ in Lausanne abgeschafft, ist der Faden wieder erlaubt. Neu und anders und diesmal ohne Ghettoisierung in die weibliche Ecke. Im Raum Aargau/Solothurn sind es unter anderem Susan Hodel, Beat Zoderer und hier im Zentrum Ruth Maria Obrist, die neue, spannende Wege eingeschlagen haben. Für die im Raum Baden wohnhafte Künstlerin ist die Nähmaschine seit rund drei Jahren Zeichenstift. Anders als bei Mette Stauslands Kohle zeichnen die horizontalen und vertikalen Linien jedoch kein Bild. Die genähten Lineaturen schaffen vielmehr zusammen mit den durchstochenen Papieren eine neue Materialität, die von der (Farb-)beschaffenheit des MDF-Untergrundes zusätzlich beeinflusst wird. Bild und Materialität bilden eine Einheit. Umsomehr als die handwerkliche Präzision, ähnlich wie beim Duo Wäckerlin/Zobrist, die Handschrift der gestaltenden Künstlerin (fast) vergessen lässt.
Paradoxerweise hat die Bedeutung der Materialität jedoch wenig mit einem wehmütigen Blick auf die Zeit zu tun, als nicht die Virtualität, sondern die Materie die Welt formte. Denn der hohe Abstraktionsgrad der Arbeiten und der Einsatz transparenter Folien lassen die Werke von Ruth Maria Obrist zuweilen fast schwerelos erscheinen. Wohl nicht zufällig nennt sie eine Reihe geometrischer Wand-Boxen von je 2000 cm3 Inhalt „Himmelskörper“. Und das Hauptwerk der Ausstellung in der Galerie von Elisabeth Staffelbach in Aarau heisst „Blick aufs Meer“.
Dieses aus vertikalen Bahnen zusammengesetzte Querformat zeigt zunächst helle Nählinien auf schwarzem Papier-Grund auf Holz. Anders als bei kleinformatigeren Werken lässt die Künstlerin jedoch minimale Ungenauigkeiten bezüglich der Nählinien-Abstände zu und betont zahlenmässig die Vertikalen. Was zur Folge hat, dass das Auge die unterschiedlichen Schwarz-Quantitäten zwischen den Linien zu „Wolken“ vermischt, dem Werk damit „Landschaftscharakter“ gibt und es unverhofft in mögliche Vergleichbarkeit zu Werken von Michael Biberstein rückt. Geplant ist solches nie und doch ist es bezeichnend für die zugleich methodisch klar definierte wie ausgesprochen intuitive Arbeitsweise der Künstlerin.
Immer schon hat die in der Aargauer Kunstszene kontinuierlich an Bedeutung gewinnende Künstlerin nach Parametern gesucht, um zu Grundstrukturen für kreative Prozesse zu gelangen, die sich in Variationen ausweiten und steigern lassen. Bücher, Schriftzeichen, Symbole, Hände, Köpfe, Rosen waren es in früheren Werkphasen. Von heute aus betrachtet, scheint es, dass die formalen und materialmässigen Methoden der Umsetzung im Kern immer schon wichtiger waren als die Inhalte. Darum empfindet man auch den vor einigen Jahren vollzogenen Wechsel zur Ungegenständlichkeit, zur Geometrie, weder als Bruch noch absolut.
Die abstrakte Form lässt indes die Struktur der Arbeitsweise deutlicher werden, entwickelt doch Ruth Maria Obrist die Erscheinung der neuen Arbeiten vielfach den Grenzen und den Eigenschaften der Materialien entlang. Papiere, die es in bestimmten Farben und Qualitäten nur im Format 15 x 15 Zentimeter gibt, schaffen Gegebenheiten. Ebenso die Möglichkeiten ihrer Verbindungen und Überlagerungen in Relation zu den vorhandenen MDF-Platten. Auch die Einswerdung von Faden und Papier durch eine Schicht Transparent-Leim. Oder: Die „malerischen“ Effekte als Folge des Eintauchens der Planpapiere in Farbe. Oder: Die „Entmaterialisierung“ der Wandboxen durch die Beschichtung mit einer durchsichtigen Folie. Erfahrung, Wissen, Ausprobieren, Können und Spüren führen die Künstlerin den Weg zwischen materiellen Gesetzmässigkeiten und kreativer Weite. Und auf einmal sieht man im Spiegel, dass das nichts anderes ist, als die abstrakte Form jeglicher Lebenswege.