„me & more“ Ich und mehr Kunstmuseum Luzern 2003
Wie kannst Du es wagen nicht ich zu sein?
www.annelisezwez.ch Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 14. August 2003
Wer Kunst süffig und trotzdem anspruchsvoll liebt, darf „me & more“ in Luzern nicht verpassen. Eingängige Installationen fragen nach dem Ich zwischen Eigenständigkeit und Auflösung.
„How can you dare not be me“ ? (Wie kannst Du wagen nicht zu sein wie ich?) wird man in der eindrücklichen Rauminstallation von Barbara Kruger (58, New York) gefragt. Und von Bildfenstern auf Menschenmassen zeigender Tapete aufgefordert: „Laugh like us“, „Cry like us“, „Talk like us“, „Hate like us“! Reden füllen den Raum, Individualität wird hypnotisiert und einverleibt. Die 1994 entstandene Arbeit, die (als Konzept) dem Museum Ludwig in Köln gehört und jetzt für Luzern rekonstruiert und erweitert wurde, ist eines der Highlights von „me & more“.
Die Ausstellung ist Teil des „Lucerne Festivals“ und „eine grosse Kiste“, wie Museumsdirektor Peter Fischer an der Pressekonferenz meinte. Sonderkredite von Stadt und Kanton haben die Realisierung ermöglicht. Die 14 raumfüllenden Installationen sind süffig, auf Bildwirksamkeit ausgerichtet, international und multimedial. Das interaktive Fotoshooting der Luzerner Manor-Preisträgerin Tatjana Marusic (32) ist indes die einzige für die Ausstellung enstandene Arbeit. Die übrigen sind mehrheitlich in den letzten 10 Jahren entstanden, was ihre Qualität nicht schmälert, aber doch heisst, dass die Ausstellung nicht ein zukunftsgerichtetes Statement ist, sondern eher eine Auswahlsendung markanter Positionen zu einem speziell in den 90er Jahren vielfach bearbeiteten Thema: Das Ich zwischen Identität, Masse und Multiplikation. Körperliches, Soziologisches, Ethnisches, Politisches klingt an; mal auf sinnlicher, lustvoller, mal auf eindringlich hinterfragender Ebene, ohne indes an Grenzen zu kratzen. Gut ist sich Peter Fischer des Hangs zur Popularität bewusst. Die Ausstellung sei erst in zweiter Linie eine intellektuelle, schreibt er.
Wenn süffig und eindrücklich indes kongruent sind, lässt man sich das gerne gefallen. Zu den Marksteinen von „me & more“ gehören die 250 kopflosen, teils jugendlichen, teils erwachsenen Schalenfiguren aus Sackleinen von Magdalena Abakanowicz (73, Warschau). Die Polin, die zu den herausragenden Frauenfiguren des 20. Jahrhunderts zählt, befasst sich seit den 70er Jahren mit der Befindlichkeit des Körpers. Und so ist denn die Armada von gleichgerichteten Hohlkörpern zwar indoktrinierte Masse, und als solche erschreckend, aber über die immer leicht andere Körper-„Haut“ und die unterschiedlichen Modelle trotz allem eine „Schar“ empfindender Gestalten.
Doch nicht nur die Masse ist Thema der Ausstellung, sondern auch das sich ausdehnende oder durchlässige Ich. Ausgespannt in Arbeiten von Kiki Smith (47, New York) und Ernesto Neto (39, Rio de Janeiro). Während die papierene Marionette der Amerikanerin mit ihren Gelenken aus Mousselin-Stoff unfähig ist, eigene Bewegungen auszuführen, verführt Neto seine Gäste dazu, sich in weiche, Lavendelduftt verströmende Sitzfiguren einzufügen und so den eigenen Körper auszuweiten.
„me & more“ meint auch Ich und Gemeinschaft. Als problematische, rassistische Struktur scheinen sie auf in den nach der Biennale Venedig nun schon bekannten, comic-verwandten Zeichnungen der Afroamerikanerin Laylah Ali (35, New York). Ihre hinterlistigen, oft gewalttätigen „Greenheads“ auf hellblauem Untergrund überzeugen dadurch, dass die Figürchen mit Kugelkopf und Zündholz-Beinen keiner Hautfarbe zuzuordnen sind, somit niemanden und alle meinen. Ich und Gemeinschaft ist auch Thema der sich nachhaltig einprägenden Videoarbeit des Chinesen Zhang Huan (38, New York); er lässt seine als Performance inszenierte Integration in die USA in eine „Steinigung“ mit Brot und Eiern münden. Hier und noch viel mehr in den Fotoarbeiten von Miao Xiaochun (39, Kassel/Peking) tritt ein neuer Zug chinesischer Kunst auf, der West und Ost aus einem östlichen Selbst- und Geschichtsbewusstsein heraus verbindet.
Ist es typisch für unsere Zeit, dass Peter Fischer keinen Künstler fand, der „Ich und Gemeinschaft“ positiv zum Ausdruck bringt? Eigentlich hätten die 20 000 von Hand geformten Tonfigürchen von Antony Gormley (53, London) im Puzzle der Positionen dafür stehen sollen, doch die ihren Raum bis zum letzten Quadratzentimeter füllenden Figürchen wirken auf die Besuchenden eher wie ein Mahnmal der Überbevölkerung denn als Einladung zur Integration. So muss man bei Ross Bleckner (54, New York), dem einzigen Abstrakten in Luzern, Zuflucht nehmen, um wenigstens im Kosmos das Umarmende zu finden.
Weitere Arbeiten befassen sich mit psychischen Befindlichkeiten (Yishai Jusidman, Elke Krystufek, Chloe Piene, Urs Lüthi). Die grosse Abwesende ist Vanessa Beecroft, die „me & more“ als multiplizierte Identität in die Kunst eingeführt hat. Auch die Thematik des Klonens fehlt, was noch einmal aufzeigt, dass die Ausstellung zwar Spannendes und qualitativ über weite Strecken Überzeugendes versammelt, aber nicht ganz up to date ist.
Katalog: „Edizione Periferia“ ISBN 3-907474-04-X.