„Ökonomien der Zeit“ migros museum Zürich 2003
Die Unendlichkeit unterteilt in Zeit und Geld
www.annelisezwez.ch Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 20. November 2002
Das migros museum für gegenwartskunst in Zürich gibt sich Profil mit spannenden, thematischen Ausstellungen. „Ökonomien der Zeit“ ist zwar eine Übernahme vom Museum Ludwig in Köln, doch das macht den Blick auf „Umgangsformen mit Zeit“ nicht weniger interessant.
Die Ausstellung kommt zum richtigen Zeitpunkt. Der Crash der New Economy stellt Fragen nach dem Zeitmass von Geld im Verhältnis zu Augenblick, Gegenwart und Geschichte. Glücklicherweise ist die von Hans-Christian Dany und Astrid Wege (Köln) kuratierte Schau weder ein naives Plädoyer für mehr Langsamkeit noch eine simple Illustration ökonomischer Zwänge um Zeit und Geld. „Ökonomien der Zeit“ ist vielmehr eine fundierte und kritische Recherche zu künstlerischen Ausdrucksformen im Spannungsfeld von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Ganz im Sinne von documenta-Chef Okwui Enwezors Forderung nach mehr (politischem) Inhalt.
Die Werke der rund 20 Kunstschaffenden und Institutionen aus Deutschland, dem übrigen Europa, Nord- und Südamerika spiegeln Zeit als Erinnerung, als Vergegenwärtigung, als Archiv von Bildern, Prägungen und Geschehnissen; Zeit als Überlagerung von Wahrnehmungen, Zeit zwischen Subjektivität und Objektivität, aber auch als politischer und ökonomischen Faktor. Claude Closky (39) etwa reiht zu letzterem 2-Cent-Münzen so auf einen Metallstab, dass Boden und Decke ausgespannt werden. Für Zürich brauchte er hiezu 52 Euro und 20 Cent; Geld wird zum Zeit- und Raum-Mass. Ähnlich wie in den Video-Standbildern desselben Künstlers, die eine freundlich lächelnde Air-Hostess einmal mit dem Signet „Welcome“, dann mit der Schrift „Good bye“ zeigen.
Die Ausstellung ist konzeptuell aufgebaut und in mehrere weit gefasste Kapitel unterteilt. Sie ist vielleicht etwas „deutsch“, will heissen etwas allzu ernsthaft. Die Lust, Zeit zu verschwenden, die Zeit mit Humor einzufangen, kommen kaum zum Zug. Der einzige Maler, der Deutsche Gunter Reski (39), wirkt darum mit seinen in die Gegenwart geholten, direkt auf die Wand gemalten Arabesken aus Robert Walsers „Bleistiftgebiet“ im Gesamtkontext fast etwas alibihaft. Durchdachtes und in Dauer Erarbeitetes, vielfach Mehrschichtiges ist angesagt.
Nichtsdestotrotz schreiben sich vor allem jene Arbeiten ein, die Sinnliches und Hintergründiges zu verbinden vermögen. Zum Beispiel die Fotografien von Jean-Luc Moulène (39), die über 15 Jahre hinweg zusammengetragene Streik-Objekte zeigen; Gegenstände, die „Chomeurs“ geschaffen haben und als Symbole des Widerstands schwarz auf den Markt brachten. Zum Beispiel ein „Chomageopoly“ oder eine Tabakpfeife mit der klassichen 3×8-Forderung (8 Std. Arbeit, 8 Std. Freizeit, 8 Std. Schlaf). Mit dabei ist aber auch ein Bild von Holger Meins (Rote Armee Fraktion), der sich durch sein Hungern selbst zum Streik-Objekt machte. Zum Dokumentarischen, sich in der Zeit immer neu Zeigenden kommt der Streik als Kampf um das Verhältnis von Zeit und Geld (und Macht).
Zu den besten Arbeiten gehört das Doppelvideo-Installation „Soldadera“ von Andrea Fraser (37). Die bekannte Amerikanerin stellt Filmmaterial, das während der Dreharbeiten zu einem auf einen früheren Film Bezug nehmenden Film über die mexikanische Revolution entstand, nahtlos eigene Sequenzen gegenüber. So reitet sie immer wieder als Bäuerin mit kommunistisch-roter Flagge durch die Filmlandschaft oder sie setzt sich in der Rolle der Kunstvermittlerin Frances C. Paine für mehr Anerkennung der mexikanischen Künstler ein. Damit führt Fraser, die teils in Brasilien lebt, die Zeitkette nicht nur objektiv, sondern auch bewusst subjektiv und auf heute bezogen in die Gegenwart.
Ein ganz anderer Zeit/Geld-Ansatz ist in den Arbeiten des Südamerikaners Edson Barrus (41) zu entdecken. Über Jahrzehnte hat er, unter anderem, die Steuer-Zeichen gerauchter Zigaretten aufbewahrt und sie zu einem „Rosenkranz“ geflochten, was ein Video zeigt. Darum herum liegen auf dem Boden verstreut bonbonähnliche Päckchen wie sie in Rio dem Verkauf von Marihuana dienen; sie sind der einzige Grund für die Reichen mit den Armen in den Favelas zu kommunizieren. Abstrakter, stiller, aber nicht minder eindringlich ist die „kleine Kiste“ von Lygia Clark (82), die ein Papierband, Klebestreifen und eine Schere zur Verfügung stellt, mit der Zeitbahnen in die Unendlichkeit geschnitten werden können.
Dass gerade die mit Latein- und Südamerika in Verbindung stehenden Arbeiten besonders auffallen, hängt wohl mit der Trockenheit anderer Installationen zusammen. So verweist zwar der Stand mit Büchern aus dem Merve-Verlag, der seit 25 Jahren dieselbe Grafik einsetzt, auf Nachhaltigkeit, aber halt schon ein wenig spröd. Und auch die Endlos-Kassetten von Eran Schaerf, die im Wechsel aufgenommen und gelöscht haben bis sie sich selbst zerstörten, bieten wenig für Sinn und Auge.
Werke von Edson Barrus, Lygia Clark, Claude Closky, Mark Dion, Martin Ebner, Katja Eydel, Peter Fend, Andrea Fraser, David Hammons, andree Korpys/Markus Löffler, Kunstraum Lüneburg, Leonore Mau, Merve Verlag, Eva Meyer/Eran Schaerf, Karen Michelsen-Castanón, Jean-Luc Moulène, Ariane Müller, Christian Philipp Müller, Ohio-Photomagazin, Henrik Olesen, Gunter Reski, Hinrich Sachs, Christoph Schäfer, Josef Strau, Inga Svala Thórsdóttir, Bgarthélémy Toguo.
Katalog und informative Begleitschrift.