Alice Bailly im Kunstmuseum Lausanne 2005/2006

Ein Top Los des erzählerischen Kubismus

www.annelisezwez.ch       Annelise Zwez in Bieler Tagblatt vom 18. Oktober 2005

Alice Bailly und Sophie Taeuber sind die bedeutendsten Künstlerinnen der klassischen Moderne in der Schweiz. Nur kennen erstere nicht alle. Lausanne macht das jetzt wett.

Da Ferdinand Hodler, der Frauen der Kunst unfähig betrachtete, Alice Bailly nicht in seinem Atelier empfangen wollte, drehte sie den Spiess um und malte seine Frau Berthe 1918 in einem der elegantesten Ganzfiguren-Porträts des erzählerischen Kubismus überhaupt. Bailly, 1872 in Genf geboren und in einfachem, aber erstaun-lich fraubewussten Milieu aufgewachsen, war bei Ausbruch des 1. Weltkrieges aus Paris, wo sie zur Avantgarde zählte, nach Genf zurückgekehrt und schuf daselbst, widrigen Umständen zum Trotz, das vielleicht persönlichste Kapitel ihres Werkes. Bilder, in denen sie das Dekonstruktive des Kubismus mit der Bewegungsfreude des Futurismus verband und in einem für die Moderne seltenen Fest der Farben vereinte. Sie tat dies couragiert und schreckte auch nicht vor politischem Positionsbezug gegen die Deutschen und zugunsten Frankreichs zurück. Was immer Alice Bailly tat, machte sie mit Leidenschaft und Temperament. Als „une femme envahissante“ beschreibt sie der wichtigste Interpret ihres Werkes, Paul-André Jaccard.

Das in Sachen Kunst äusserst konservative Genf geizte indes nicht mit Kritik an ihrer Kunst, weniger an ihr persönlich als am Dekonstruktiven des Kubismus ganz allgemein. So wundert es nicht, dass Alice Bailly bald einmal bekannter ist in der Deutschschweiz als in der Romandie, nicht zuletzt da die stets in Geldnöten Steckende ab 1918 zu den vom Winterthurer Mäzen Werner Reinhardt geförderten Künstlerinnen zählt.

1968 wird das nach ihrem Tod weitgehend vergessene Werk in Lausanne, wo Bailly ab 1924 lebte, ein erstes Mal aufgearbeitet, doch erst Ausstellungen in Zürich (1972), Wien und Aarau (1985) geben ihrem Schaffen jenen unverrückbaren Platz in der Kunstgeschichte, den es heute hat. Alice Bailly gehört mit Sonja Delaunay zu den ersten Kubistinnen überhaupt.

Der Charakter der aktuellen Ausstellung in Lausanne verdankt seine Ausserordent-lichkeit insbesondere Paul-André Jaccard, der sich seit mehr als 30 Jahren mit Alice Bailly befasst. Er hat die Zeit seit 1985 nicht einfach verstreichen lassen, sondern mit einer Akribie ohne gleichen Leben und Werk der Künstlerin aufgearbeitet. War es der frühe Tod des Vaters, der ihre die Freiheit gab, Künstlerin zu werden, fragt er. Warum brauchte sie so lange bis sie ihr Talent voll entfalten konnte? Was hatte die unerwiderte Liebe zu Werner Reinhart für Folgen? Die zur Ausstellung erschienene Monographie hat geradezu romanhafte Züge, ohne dabei indes wissenschaftliche Ansprüche hintan zu stellen.

So ist es denn das Spannende an der nicht weniger als 220 Werke zeigenden Ausstellung, dass sie sich nicht auf die marktrelevanten Hauptwerke des Kubismus beschränkt, sondern das Werk als Ganzes ausbreitet und in Wechselwirkung zu ihrer Biographie stellt.

Nicht die am Salon des Indépendants von 1913 von Apollinaire mit Lob bedachte Kubistin steht am Anfang, sondern die Suchende, die sich ab 1906 (da ist sie schon 34 Jahre alt!) mühsam vom Impressionismus und Fauvismus löst, um in der Begegnung mit den italienischen Futuristen 1912 schliesslich die treibende (musikalische) Kraft für ihre spezifische (und einmalige) bildnerische Sprache zu finden. Die alle Räume des Musée des Beaux Arts umfassende Ausstellung in Lausanne endet auch nicht Mitte der 1920er-Jahre als Alice Bailly stilistisch in gewissem Sinn an den Anfang ihrer Reise zurückkehrt, weicher, romantischer wird in ihrer Gestaltung und dabei (wie auch bei anderen Kunstschaffenden in dieser Zeit feststellbar) an formaler Prägnanz verliert. Paradoxerweise wird sie zu Lebzeiten nie so gefeiert wie in dieser letzten Arbeitsphase, die – vielleicht – mit der Freundschaft zu Rilke beginnt, den sie im Wallis häufig besucht. Sie wird zur „grand dame“ der Waadtländer Metropole. In den 1930er-Jahren machen ihr, neben der Wirtschaftskrise, vor allem Atemwegserkrankungen Mühe, in deren Folge sie – mitten an der Arbeit für die grosse Dekoration des Theaters in Lausanne – am 1. Januar 1939 stirbt.

Interessant ist der Gender-Aspekt in ihrem Schaffen. Ihre Frauenakte von 1907/08 gehören wohl zu den frühesten je von einer Frau gemalten, aber sie wirken seltsam distanziert und schon gar nicht erotisch. Alice Bailly war keine besonders attraktive Frau – man sagt, das einzige, was sie an sich liebte, seien die Hände gewesen, denen in ihren Bildern grosse Bedeutung zukommt. So suchte sie ihre Identität in ihrem Schaffen und blieb zeitlebens „Mademoiselle Bailly“. Das war wohl ihre Chance, denn als verheiratete Frau wäre sie nicht als Malerin akzeptiert worden. Ihr Träume freilich malte sie in die Bilder hinein – in jedem Porträt ist ein Stück von ihr und die in „La fête étrange“ in weissem Kleid hoch zu Ross märchenhaft Empfangene ist unzweifelhaft eine Projektion ihrer selbst.