Wildi Ingrid Stipendiatin Atelier Robert Biel

Ein Haus für Körper und Geist

Annelise Zwez, Bieler Tagblatt, 28. März 2008

Seit 2006 lebt die in Chile aufgewachsene Ingrid Wildi im Atelier Robert in Biel. In ihren vielbeachteten Videoessays fragt sie nach der Identität von Menschen mit multikulturellem Hintergrund.

2005 zeigte Ingrid Wildi in einer Black Box im „Herzen“ des Schweizer Pavillons an der Biennale Venedig ein Video, in dem ihr Bruder (in spanischer Sprache mit englischen Untertiteln) von der belastenden Situation eines allerorten Fremden erzählt. Video-Interviews, die mehr sind als Befragungen, stehen im Zentrum des Kunstschaffens der 45jährigen schweizerisch-chilenischen Künstlerin.

Wer sich an die „Heimatfabrik“ in Murten anlässlich der Expo.02 erinnert, weiss das. Damals befragte die Künstlerin mit Aargauer Bürgerrecht Menschen aus der Deutschschweiz und der Romandie nach ihrer Beziehung zu einem selbst gewählten Gegenstand. Bereits am Ende ihrer Zeit an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich (1994-1997) war sie dieses Thema angegangen, doch wesentlich radikaler – existenzieller auch.

Damals gab sie Menschen verschiedener Herkunft ein Plexiglas-Kästchen mit verfaulten Früchten unterschiedlicher Weltgegenden und sie sollten beschreiben, was sie sahen. Diese symbolische Ebene legte Ingrid Wildi später ab und begann die Menschen direkt zu befragen, um daraufhin mit ihren Wörtern „Bilder“ zu schaffen.


Im neuesten Video mit dem Titel „Los Invisibles“ zum Beispiel fragt sie gesichtslose Vis-à –Vis unter anderem, an was für äusseren Zeichen sie illegal in der Schweiz weilende Menschen erkennen würden und sie antworten zum Beispiel „weil sie nur in Gruppen auftreten oder weil sie ständig pss, pss, pss sagen“.
 
Dass sich Ingrid Wildi mit Themen von Migration und Identität befasst, hat einen klaren Hintergrund. Ihre Grosseltern väterlicherseits waren in den 1930er-Jahren aufgrund wirtschaftlicher Not von Suhr nach Südamerika emigriert. 1981 kehrte ihr Vater mit seinen drei Kindern – aus ökonomischen wie politischen Gründen – von Santiago de Chile in die Schweiz zurück. Ingrid Wildi war damals 18 Jahre alt, stand vor dem Eintritt in die Kunstakademie und sprach nur spanisch.

So war sie – wie viele Migrantinnen – gezwungen, ihr Leben als Putzfrau, als Aushilfsverkäuferin usw. zu verdienen – „Jobs ohne Sprache“, wie sie sagt. Eben jetzt arbeitet sie, zusammen mit der Fotografin Marianne Müller, an einem Fotozyklus, der sie vor ihren frühen Arbeitsstätten im Aargau zeigt. Sprache wurde zum Schlüsselbegriff, doch erst viel später vermochte sie Wort- und Körper-Sprache als Instrument für Bilder herauszuschälen. Zunächst malte sie – Weltkarten zum Beispiel.

1994 wird sie in die freie Kunstklasse der Hochschule für Kunst und Gestaltung in Zürich aufgenommen. Als Mentor wünscht sie sich Bernd Höppner, der damals in Zürich unterrichtete und im Atelier Robert in Biel lebte. „Wenn du mich als Mentor willst, musst du meine Arbeit kennen“, sagte er. Und so lernt Ingrid Wildi das Atelierhaus im Ried in Biel kennen.

Die Schule wird zum Reifeprozess, bringt den Einstieg ins Medium Video und die Erkenntnis, dass sie die Erfahrungen ihrer eigenen Biographie unmittelbar zum Thema ihrer Kunst machen muss. Ein Nachdiplom-Studium an der Mixed-Media-Klasse der Hochschule in Genf (1998-2000) legt die Basis dazu. Sie weiss jetzt, dass das Dokumentarische von Interviews lediglich das Rohmaterial ist, um in einem langwierigen Schnitt-Prozess zu einem Essay zu gelangen, das über Körpersprache, Gestik und Gesprächs-Fragmente eine Essenz herausschält, die das Private hinter sich lässt und sich zu einem Konzentrat verdichtet, das einer Plattform gleich neue, breite Einstiegsmöglichkeiten in die Thematik ermöglicht.

Anfänglich sind das zum Beispiel Männer, die von ihrer Liebe zu einer Frau erzählen („Si c’est elle“ 2000), wobei erst mit der Zeit klar ist, dass diese Frauen ihre Mütter sind. Das Thema „Mutter“ ist nicht Zufall, denn Ingrid Wildi hat den Faden zu ihrer eigenen Mutter früh verloren. 2002 reist sie nach Chile, um ihre Mutter zu finden. „Aqui vive la Señora Eliana M…“ ist eine ergreifende Reise in die eigene Geschichte, auch in diesem Video über Begegnungen und Gespräche zu Bildern verdichtet.

Die Fachwelt hat die Aussergewöhnlichkeit von Ingrid Wildis ebenso persönlichen wie auf einer übergeordneten Ebene lesbaren Videos bald erkannt.  Die Konstellation einer Migrantin, die zur bedeutenden Künstlerin wird, ist höchst selten. Werkbeiträge, Preise und Stipendien ermöglichen ihr ab 1999 die (teure) Realisierung ihrer Media- Projekte. Von besonderer Bedeutung war 2007 die erste grosse Ausstellung im Land ihrer Kindheit, im Museum von Santiago de Chile. Dies nicht nur für die Künstlerin, sondern auch für das chilenische Publikum, das in den Videos quasi einen Blick von der anderen Seite erlebte.

Dass sich im Herbst 2005 um das Atelier Robert in Biel bewarb, hat einerseits damit zu tun, dass ihr Atelier-Stipendium in der „usine“ in Genf zu Ende ging und sie sich nichts sehnlicher wünschte als eine Bleibe zu finden, die Raum bietet für Körper und Geist, einen Raum, in dem sich atmen lässt und das sei hier so. Zu lange hätte sie in winzigen Studios gelebt und zugleich gearbeitet, Schnittplatz und Bett direkt nebeneinander, das könne sie nicht mehr. Und dann sei da, sagt sie, gewiss auch die Erinnerung an Bernd Höppner gewesen, der in einer Zeit in diesem Atelier  lebte, als für sie ein Mensch, der an sie glaubte von höchster Wichtigkeit war.

Mit Biel selbst hat sie (noch) nicht sehr viel Kontakt, aber im Rahmen von Workshops der Hochschule Genf, lädt sie ihre Studenten und Studentinnen gerne nach Biel ein – kürzlich, um sich mehrere Tage mit dem Thema „penser le temps“ auseinanderzusetzen.

Link: www.ingridwildi.net

Antille Emanuelle Museum PasquArt Biel 208 [0.14 MB]