Kunstrückblick 08 – Bieler Jahrbuch 2008

Die Szene feierte sich selbst

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Bieler Jahrbuch 2008, erschienen im Dezember 2009


Das Warum ist nicht so einfach zu beantworten, aber Fakt ist: Die Bieler Kunstszene hat im abgelaufenen Jahr (2008) in ungeahntem Mass an Dynamik gewonnen. Ob im „Lokal.int“ – dem von Chri Frautschi in einem ehemaligen Kiosk an der Aarbergerstrasse betriebenen Off Space – ob im Rahmen des von der visarte Biel inszenierten „Joli mois de mai“ in der Alten Krone in der Bieler Altstadt, ob im Espace libre, dem Ausstellungsraum der visarte Biel im Centre PasquArt, überall und immer wieder konnte man 2008 Installationen, performativen Ausstellungen, Aktionen und Interventionen von Bieler und sich Biel zugehörig fühlenden Kunstschaffenden erleben. Auch die Stadtbehörden liessen sich anstecken und veranstalteten unter dem Titel „Reçu“ in der Alten Krone eine Schau mit all jenen, die in den letzten Jahren finanzielle Beiträge zur Realisierung besonderer Projekte erhielten. Das Besondere daran war, dass nicht nur die ausstellungsgewohnten bildenden Künstler und Künstlerinnen, sondern auch die Schriftsteller, die Steptänzer und viele mehr angehalten waren, sich zu präsentieren und so ein Crossover der Sparten entstand. Allerdings litt die Veranstaltung bezüglich Publikum etwas unter dem „too much“ der Szenenfeier dieses Jahres.

Was zu diesem Feuerwerk führte, geht nicht auf ein einzelnes Ereignis zurück, es ist vielmehr Frucht vielfältiger, zum Teil seit Jahren aufgebauter Bemühungen, die sich nun bündelten. Es begann damit, dass sich erstmals mehr Kunstschaffende für die Einabend-Auftritte im Rahmen des „Joli mois de mai“ anmeldeten als es im Zeitfenster vom 21. Mai bis 15. Juni Abende gab. Das war wohl nicht zuletzt eine Folge der gesteigerten Qualität der Ausstellungen, Interventionen, Vorführungen, Performances im Jahre 2007. „Man“ will nun dabei sein und das war vielen Kunstschaffenden von Danièle Holder-Bianchetti über Hannah Külling bis Peter Zaçek und f & d cartier eine Herausforderung. Zusammenfassend kann man sagen, dass dem „Joli mois de mai“, der dank dem Einsatz von Susan & Ueli Engel immer auch ein kulinarisches Event ist, 2008 der Sprung von der Veranstaltungsreihe zum Festival gelang. Es gab keinen Tag, der nicht ein ansprechend zahlreiches Publikum angezogen hätte; viele liessen es sich sogar nicht nehmen, jeden Abend mit dabei zu sein. Und so wundert es nachträglich nicht, dass auch Daniela da Maddalenas Aktion „ASUPI“ – Art Surprise für leidenschaftliche Sammler – ein voller Erfolg wurde. Sie hatte 63 Künstler dafür gewinnen können, je 5 Mini-Werke zu schaffen, die nach einem Los-System als Dreierset mit einer kleinen Flasche Champagner für 150 Franken erworben und anschliessend an einer Börse den eigenen Vorlieben entsprechend eingetauscht werden konnten. Von Jocelyne Rickli über Markus Furrer bis Willi Müller und René Zäch war „alles“ mit dabei.

Ein anderer Faktor für die neue Lebendigkeit der Kunstszene ist sicher das „Lokal.int“ von Chri Frautschi, das einen geschickten Mix von Kunstschaffenden aus der Region, Bern, Basel und der weiten Welt (so gerade in Biel) einlädt, im, auf oder vor dem Kiosk hinter dem Bahnhof künstlerisch zu intervenieren. Die unheimliche Kadenz von jeden Donnerstagabend Vernissage (ausser in den Ferien) bringt es mit sich, dass das Lokal ständig im Gespräch ist. Auch wenn es nicht immer eine grosse Schar ist, die am Donnerstag daselbst ein (selbstbezahltes!) Bier trinkt, so bietet die konsequente Vernetzung des Realortes mit der virtuellen Präsenz im Internet (www.lokal-int.ch) doch stets die Möglichkeit, die Fülle der Projekte wahrzunehmen. Seit zwei Jahren erhält das Lokal.int eine bescheidene, städtische Subvention von 1000 Franken, doch es ist und bleibt ein No-Budget-Ort, der von der Lust der Künstler am mitmachen lebt.

Die Stadt Biel ist sich des ausserordentlichen Engagements von Chri Frautschi bewusst und hat ihm darum hochoffiziell die „Ehrung für kulturelle Verdienste“ 2008 zugesprochen. Wesentlich an dem weitgehend als „Selbstläufer“ funktionierenden Programm ist der Einbezug von Partnern im Bereich Musik („kopfhoerer“-Konzerte) und Literatur (Lesungen des Literatur-Instituts). Das Erstaunlichste ist aber, dass die Qualität der Interventionen nicht einem Bazar entspricht, sondern Spannendes, Zeitgenössisches, Experimentelles aneinanderreiht. Dabei überwiegt das zur Zeit an den Kunstschulen gepflegte Klima, was indes nicht heisst, dass nur Junge mitmachen – da war  im Sommer auch die wunderbare, Biels Bauboom ironisierende Utopie von René Zäch (geb. 1946), der für den Standort des Lokal.int. das Modell „West Tower“ mit Ateliers für „Artists in residence“ entwickelte. Das Modell mitsamt Plänen und Fotos ist nun, als „Filiale“ des Lokal.int in einer ausgedienten Telefonkabine auf dem Perron 4 des Bieler Bahnhofs installiert.

Leider ist Erfolg – auch ideeller Erfolg – immer auch eine potentielle Zielscheibe für Vandalismus. Zweimal wurde das Lokal.int  2008 von Vandalen heimgesucht – wobei insbesondere die Verunstaltung mit Silberfarbe im Sommer die Möglichkeiten des Betreibers beinahe überforderte. Die tatkräftige Unterstützung durch Freunde drehte den Frust indes aber bald wieder ins Positive.

Als dritter Szenenort ist der in den Jurafelsen gehautene Espace libre unterhalb des Filmpodiums im Centre PasquArt zu erwähnen. Wie schon in den Vorjahren, gab es da spannende, durchdachte Installationen zu sehen – zum Beispiel die „Kreisläufe“ von Monika Loeffel oder Mirjam Gottiers geheimnisvolle Inszenierung einer Frauenleiche – doch war, gesamthaft gesehen, ein gewisses repetitives Moment spürbar, was der Lebendigkeit des Raumes abträglich ist und nach einen Überdenken des Konzeptes ruft, denn wirklich neue Ideen, brachte 2008 niemand ein.

So erfreulich die Lebendigkeit der Bieler Kunstszene ist, so sehr muss man sich bewusst sein, dass die Kunstschaffenden von ideellen Einsätzen nicht leben können. Doch eine parallel laufende, aktive Galerienszene gibt es in Biel zur Zeit nicht. Zwar zeigte die Galerie Silvia Steiner an der Seevorstadt 57 auch im 41sten Jahr ihres Bestehens qualitativ gute Kunst – erwähnt seien die Ausstellungen von Ise Schwartz (Biel) und Marc Antoine Fehr (Burgund) –  doch spiegelt die Ausrichtung auf „Malerei“ nur einen Teil des aktuellen Kunstschaffens. 

Weniger repräsentativ, aber eigenwilliger im positiven Sinn war im Vergleich das Programm der Galerie Quellgasse – angeführt seien die Objekte von Nancy Wälti (Solothurn) und die auf Volumen und Farbe reduzierten Werke von Heidi Künzler (Bern). Dennoch spürte man bezüglich Ausstrahlung die sich aus der Tätigkeit von Alfred Maurer als Galerist und gleichzeitig Vizedirektor der Schule für Gestaltung Bern und Biel (B:B) ergebende Doppelbelastung. Unter der Oberfläche gärte es freilich und ab Frühherbst stand alles im Zeichen von Aufbruch. Die neu als Geschäftspartner auftretenden Alfred Maurer und Noémi Sandmeier entschlossen sich im frei gewordenen Annex-Bau des Centre PasquArt  eine „Art-Etage“ einzurichten. Im Dezember wurde eröffnet; mit Werken jener Kunstschaffenden, die neu ihr Atelier im ehemaligen Städtischen Altersheim PasquArt haben: Haus am Gern (Rudolf Steiner+Barbara Meyer-Cesta), Hannah Külling, Liselotte Togni, Tiziana De Silvestro, Jerry Haenggli und Luo Mingjun. Ferner belebten die Gewölbe-Galerie, die 2008 ihr 10-Jahr-Jubiläum feiner konnte, sowie der Art Corner den Bieler Kunstbe-trieb, während die Nidauer Snake-Gallery sang- und klanglos verstummte.

Trotz räumlicher Distanz stellten auch 2008 zahlreiche Bieler Kunstschaffende in der Galerie Vinelz am oberen See-Ende aus – unter anderem Galerist Martin Ziegelmüller selbst, Ruedi Schwyn (zusammen mit Valentin Hauri), Daniela da Maddalena, Sarah Fuhrimann. Über einen erweiterten Freundeskreis strahlt die Galerie allerdings nicht aus. „Gwirbliger“ ist im Vergleich die Galerie Regina Larsson in Siselen, die sich 2008 vor allem mit Themenausstellungen wie „Neue Bürgerlichkeit“, „Ars amor“ oder „Berg und See“ hervortat, doch kämpft auch sie darum, dass Abseits nicht gleich Offside ist. Die grösste Überraschung war wohl die Ausstellung des Bielers Hans Jörg Leist (geb. 1926), der in den 1970er-Jahren teilweise einem Brand zum Opfer gefallene Werke restaurierte und neu präsentierte. Überregional ins Gespräch brachte sich die Galerie mit der Herausgabe der Monographie des Baslers Künstler Marcel Stüssi (1943-1997), dessen Nachlass in Siselen verwaltet wird.

National immer stärker wahrgenommen wird das Centre PasquArt mit Kunsthaus und Photoforum als wichtigsten Pfeilern. Das Museum darf mit Recht stolz sein auf 2008, wurde es doch im Frühjahr in die Vereinigung Schweizer Kunstmuseen aufgenommen und im Herbst wurde bekannt, dass der „Manor-Preis Kanton Bern“ das PasquArt als Standort seiner Aktivitäten bestimmte. Auch künstlerisch setzte das Haus Marksteine. Bereits die Mehrkanal-Videoinstallation der Genfer Künstlerin Emmanuelle Antille setzte  im Februar Akzente; etwas unter den Erwartungen hingegen blieb die Sammlung Petignat im Rahmen der Reihe „Nouvelles Collections“. Trotz des spannenden Schwerpunktes „weiblicher Körper“ bis zurück in die 1960er-Jahre, zeigte sich, dass, was privat Sinn macht, im Museum nicht immer Stand hält. Für viele der jährlich rund 14 000 PasquArt-Besucher wird im Rückblick auf 2008 die Installation von Chiharu Shiota in  emotionaler Erinnerung bleiben, gelang der in Berlin lebenden japanischen Künstlerin mit ihrer mit Kilometern von schwarzen Fäden „versponnenen“  und angekohlten Konzert-Inszenierung ein eindrückliches Bild zu Leben, Tod und der Kraft der Erinnerung.

Wichtig ist, dass nicht nur der Bieler Kunstverein, der 2008 mit Nadja Schnetzler eine neue Präsidentschaft erhielt, sich um die regionale Kunstszene kümmert, sondern auch die Museumsdirektion. Für 2008 lud Dolores Denaro Luo Mingjun sowie Urs Dickerhof zu grossen Einzelpräsentationen ein. Beide zum richtigen Zeitpunkt, war die Ausstellung für den pensionierten Leiter der Schule für Gestaltung in Biel doch ein Markstein auf dem Weg zurück in ein Leben als Künstler und für Luo Mingjun Wagner kam die Ausstellung just zum Zeitpunkt als  der internationale Kunstmarkt (Art Basel und Shanghai Contemporary/Galerie Giséle Linder) auf ihr neues, chinesischen Ursprung und westliche Prägung verbindendes Werk zu reagieren begann.

Man kann sich fragen, ob sich Dolores Denaro angesichts der Möglichkeiten des Hauses (Budget/Stellenprozente etc.) nicht übernimmt mit ihrem selbstgewählten Anspruch, jedes Jahr eine internationale Themenausstellung zu realisieren. „Aurum“ war – just  während der Jagd auf Goldmedaillen an der Olympiade und zu Beginn der internationalen Finanzkrise – ein prächtiges Thema, dass sich ebenso über Trompeten-Gold, Goldfarbe, Goldfolie wie kostbares Blattgold visualiseren liess. Die Qualität der Ausstellung stand früheren Themenpräsentationen wie „Surréalités“, „I need you“, „Branding“ usw. in nichts nach und war eine grossartige Leistung des Hauses, die erneut ein grosses Publikum anzog und von den Medien auch mehrheitlich positiv besprochen wurde.

Aber: Die enorme Konzentration der Museumsleitung auf diese aufwändige Schau, brachte die Leiterin begreiflicherweise an den Rand ihrer Kapazität, sodass Anfragen, Wünsche, Vorschläge, spontane Aktionen aus dem Museumsumfeld nur noch das Echo „keine Zeit“, „keine Möglichkeit“ etc. auslösten. Die entsprechenden Klagen häuften sich, in der Stadt und weit darüber hinaus, ohne indes 2008 grundlegende Veränderungen zu bewirken.

Das Photoforum verfolgte 2008 einen Kurs, der die Institution vermehrt als kleines, aber feines Haus zwischen dem Fotomuseum Winterthur und dem Musée de l’Elysee in Lausanne positionieren will. Dabei geht es richtigerweise primär um Werkpräsentationen von eigentlichen Fotografen (also nicht Künstlern, die unter anderem mit  Fotografie arbeiten). Höhepunkt war zweifellos die Ausstellung Malick Sidibé (*1935, Soloba, Mali), der als einer der wichtigsten Vertreter der afrikanischen Fotografie gilt. Einen Markstein setzte aber auch die „Auswahl 08“, die strenger denn je juriert wurde, mit dem Resultat dass auch die Qualität höher war denn je. Der Prix Photoforum ging verdientermassen an 27-jährigen Romand Matthieu Gafsou.

Auch das Museum Neuhaus und das Museum Schwab vernetzen sich immer wieder mit der Kunstszene. Im Neuhaus ist es insbesondere die Stiftung Sammlung Robert, die das Werk der Künstlerfamilie 2008 unter dem Aspekt Ökologie zeigte. Zum Pflichtenheft gehört aber auch die Pflege der älteren Bieler Kunst, 2008 mit „Glanzlichtern der Sammlung regionaler Kunst von Anker bis Geiger“. Das Schwab öffnete sich erneut den Fototagen, setzte aber auch einen Akzent mit   der Präsentation Land-Art-Projektes „Enigma“ von Ueli Studer zur La Tène-Kultur.

Zwischen den Häusern agieren die Fototage. Sie befassten sich 2008 unter dem Titel „Make believe“ mit der „Inszenierten Fotografie“. Mit nur  19 Fotoschaffenden und nur wenig wirklich innovativen und kaum speziell für Biel erarbeiteten Projekten enttäuschte die Ausgabe 2008 etwas und die Charakterisierung „Festival“ wollte nicht so recht passen. Immerhin gab es auch qualitativ Herausragendes und erfrischend Freches wie zum Beispiel die Werkgruppen von Corinne L. Rusch und Christian Tagliavini respektive der jungen Zürcher Taiyo Onorato u. Nico Krebs.

Nicht unerwähnt bleiben darf der Aspekt der überregionalen Ausstrahlung der Bieler Kunstszene, sind es doch immerhin einige, deren Werken man in Berner oder Zürcher Galerien begegnet, die zu nationalen Veranstaltungen eingeladen werden. Genannt seiden zum Beispiel die Ausstellungen von Ruedy Schwyn bei Esther Hufschmid, Heinz Peter Kohler bei Baviera, M.S. Bastian bei Schlesinger in Zürich. Oder Pat Noser bei Selz in Perrefitte, Jerry Haenggli bei Duflon & Racz in Bern, c & f cartier bei Monika Wertheimer in Oberwil. Dann aber vor allem Pavel Schmidt, dessen one-man-show im Tinguely Museum in Basel vor allem dann zum Feuerwerk wurde, wenn der Künstler die Objekte mit Geschichten zum  Leben erweckte.  Schmidts Werke zu Kafka wurden überdies im Jüdischen Museum in Berlin gezeigt. Ebenfalls nach Berlin eingeladen war das ebenso konzeptuell wie mit subversivem Humor arbeitende Haus am Gern (Rudolf Steiner/Barbara Meyer-Cesta), deren Aktionsradius sich auch 2008 deutlich ausweitete. An nationalen Freilichtausstel-lungen fielen Werke von Hannah Külling im Autofriedhof in Kaufdorf und Arbeiten von susanne muller, Monika Loeffel, Pat Noser, Monsignore Dies und Andrea Malär in „Jetzt Kunst 08“ in Schüpfen auf.

Einige Publikationen zu Bieler Kunstschaffenden überdauern das Jahr 2008, so die Bücher zu Urs Dickerhof (Edition Clandestin), zu Luo Mingjun (Verlag Moderne Kunst Nürnberg), zu Beatrice Gysin (Verlag „Nimbus. Kunst und Bücher“), zu Verena Lafargue (Kunst am Bau Raiffeisenbank Biel-Seeland). Die wichtigste „Bieler“ Publikation ist aber vermutlich der ausführliche Rückblick auf 10 Jahre Performance von Peter Zacek und Jörg Köppl (gefeiert in der Galerie Hubert Bächler in Zürich), erschienen in der Edition Clandestin, Biel-Bienne. Und last but not least gehört hier auch der Film von Peter Wyssbrod zu Martin Ziegelmüller erwähnt, der nach jahrelanger Arbeit abgeschlossen und u.a. im Filmpodium präsentiert wurde. 2008 war ein reiches Jahr.