Waltraud Lamers
Malerin, Grafikerin (1908–1992)
Seebutz 2015
Leben und Werk Kleve, Nidau
Als die Kunst die Frauen entdeckte, war es zu spät…
Waltraud Lamers war bis in die 1960er-Jahre die wichtigste bildende Künstlerin im Seeland. Sie war die einzige ihres Geschlechts mit professioneller Bedeutung. Dass dies etwas Besonderes ist, merkte niemand und heute wollen wir kaum glauben, dass da nicht auch andere waren. Es gab Künstlerinnen mit Wurzeln in der Region, doch zogen sie früh weg. Was war mit Biel, mit dem Seeland los damals? – Ich hätte nicht an Elsie Giauque (1900–1989) gedacht, könnte man einwerfen . Die seit 1923 ob Ligerz Wohnhafte war zweifellos eine Künstlerinnen-Persönlichkeit, aber bis gegen 1960 widmete sie sich ganz primär einem aus dem Bauhaus-Gedanken heraus entwickelten Gesamt-Design und eroberte mit ihren Textilarbeiten erst danach den freien Raum. Waltraud Lamers hingegen kam anfangs der 1930er-Jahre mit einer abgeschlossenen, akademischen Maler-Ausbildung im Gepäck und dem Blauen Reiter im Kopf ins Seeland. In München – damals noch immer der Gegenpart zu Paris in Sachen Künstler-Ausbildung – hatte die angehende Tiermalerin die beiden Nidauer Kunst-Studenten Hans Hotz und Adolf Funk kennengelernt. Beide waren von der aus einer nordrhein-westfälischen Glasmaler-Familie stammenden Frau angetan. 1931 kam es – noch in München – zur Heirat von Hans Hotz und Waltraud Lamers. Damit wurde die Deutsche automatisch Schweizerin.
Ihre Vorstellung von einem Leben hierzulande war vermutlich etwas anders als die Realität sie dann brachte. Anfänglich ist der Zukunftsglauben ungebrochen. Die beiden leben in Biel und dann ab 1934 in Nidau, wo sie 1939 (wohl mit finanzieller Unterstützung ihrer Familien) die Schulgasse 23 erwerben können – das Haus, das Waltraud Lamers bis zu ihrem Tod 1992 bewohnen wird. Künstlerisch stehen bei den beiden verschiedene Motive im Vordergrund. Hans Hotz geht mit städtischen, industriellen Darstellungen auf Distanz zur damals vorherrschenden Landschaftsmalerei. Waltraud Lamers ist mit der seit dem 19.Jahrhundert populären Tier- (und Jagd-)malerei der Tradition verpflichtet, pflegt sie aber in einer stilistischen Bandbreite, die auch expressive Momente miteinschliesst. Parallel dazu experimentiert sie in Arbeiten auf Papier (Farbstift/Aquarell) mit frei verschlungenen, zur Ornamentik tendierenden Vereinigungen von Mensch und Tier. Deutlich zeigt sich hier ihre Auseinandersetzung mit den aktuellen Strömungen wie wir sie von August Mackes, Franz Marcs und auch Kandinskys Tierdarstellungen kennen.
1935 bewirbt sie sich mit solchen Arbeiten um ein Eidgenössisches Kunststipendium und erhält dieses, nach einer ersten vergeblichen Kandidatur 1932, nun auch. Eine ausserordentliche Auszeichnung für eine Künstlerin damals! Es ist anzunehmen, dass sich auch Hans Hotz bewarb, aber nicht in die Kränze kam. Mit Lamers’ 1500 Franken im Sack reist das Künstlerpaar noch im selben Jahr für sechs Monate nach Wien. In Biel wird man aufmerksam auf die beiden. Die Galerie Fankhauser zeigt sowohl 1935 wie 1936 (vermutlich auch 1938) Ausstellungen der beiden. Spätestens hier muss der Name von Betty Fankhauser (der Schwester der Galeristin) fallen, ist sie doch eine beliebte Bieler Malerin in dieser Zeit. Allerdings können ihre Blumenbilder qualitativ nicht mit der Bedeutung des lamerschen Gesamtwerkes verglichen werden, obwohl es auch von Waltraud Lamers auf den Publikumsgeschmack ausgerichtete Blumenbilder ähnlichen Stiles gibt. Man darf nie vergessen, dass künstlerische Entwicklung eines, die ökonomischen Parameter etwas anderes sind. Diese Spannung trifft alle Kunstschaffenden in Europa in der einen oder anderen Form in den 1930er- und 40er-Jahren.
Bei Hotz und Lamers gibt es durchaus helle Momente. Zum Beispiel malen sie um 1940 ein für Sitzungen nach Nidau bestellte Modell gemeinsam. Interessant ist indes, dass Lamers sich dabei nicht sonderlich wohl zu fühlen scheint; der sich in der Fondation Saner befindliche Liegende Frauenakt von 1941 ist eine malerisch durchaus überzeugende Version des von Männern tausendfach gemalten Motivs, aber dennoch strahlt die Frau keinerlei Kontakt mit ihrem Umfeld aus, sondern blickt abwesend ins Leere, als wären Kopf und Körper zweierlei. Man spürt: Da malt Gertrud Lamers nicht aus eigenem weiblichen Bedürfnis – schon gar nicht aus eigener Lust heraus.
Aufschlussreicher sind diesbezüglich zwei Selbstbildnisse aus den 1930er-Jahren. Das eine ist ein Ölbild, das sie in einer unbestimmten Ateliersituation mit beobachtendem, strengem, aber keineswegs verkrampften Gesichtsausdruck zeigt: als Malerin ihrer selbst. Die Schwere der Farben weist noch ganz auf die Münchner Tradition. Das zweite ist ein helles, leuchtendes, auf rot, gelb und blau setzendes, jung wirkendes Antlitz mit einem feinen, geheimnisvollen Lächeln. Obwohl weder signiert noch datiert, ist es zweifellos eines der wenigen frühen Hinterglasbilder. Diese Technik ist ihr ja quasi in die Wiege gelegt worden, führte doch ihr Vater in Kleve ein erfolgreiches Atelier für kirchliche Monumentalmalerei, in dem schon die jugendliche Waltraud Lamers als Gehilfin tätig war. Die beiden Selbstbildnisse zeigen einerseits die Pole des stilistischen Ausdrucks, andererseits aber auch die Gleichzeitigkeit der ernsten, nachdenklichen und der heiteren, lebensfreudigen Waltraud Lamers.
Diese doppelte Perspektive entspricht ihrer Lebensphilosophie, mit ihr überwindet sie immer wieder schwierigste Situationen. Geld ist zwar nie ein Thema, aber Geld ist im Haushalt Hotz-Lamers immer ein Thema! Wann genau Waltraud Lamers damit begonnen hat, mit kunsthandwerklichen und grafischen Arbeiten ein Zubrot zu verdienen, ist nicht bekannt; der Not gehorchend wohl, sobald sich ihr die Möglichkeit bot. Es war umso nötiger, als ihre Ehe sich immer schwieriger gestaltete. Der Alkoholismus von Hans Hotz und seine sich anbahnende psychische Erkrankung führen immer öfter zu prekären, ja gar bedrohlichen Situationen.
Unterstützt von der Familie ihres Mannes kann Lamers erwirken, dass er 1943 in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird; 1948 wird die Ehe aufgelöst. Hans Hotz erholt sich wieder, heiratet sogar noch einmal, stirbt jedoch bereits 1959. Waltraud Lamers bleibt im Haus an der Schulgasse 23 wohnhaft. Sie ist allen Widerwärtigkeiten zum Trotz eine Nidauerin geworden. Die Erinnerungen, die sich im Städtchen um sie ranken, sind durchwegs freundlicher Natur. Dass sie Kettenraucherin war und sich – finanzielle Engpässe hin oder her – stets ein Gläschen des feinsten Cognac gönnte, gehört ebenso zum Bild wie ihre Liebe zur Krähe Dodo und die Pflege des kleinen Naturgartens hinter dem Haus.
Doch diese Erinnerungen betreffen mehr die späteren Jahre, als ihr Aktionsradius aus gesundheitlichen Gründen bereits eingeschränkt war (ab 1967).
Waltraud Lamers bemühte sich seit ihrer Ankunft in der Schweiz um eine Integration in die Schweizer Kunstszene; das entsprach ihrem aus Deutschland mitgebrachten Selbstverständnis. Sie kann auf nationaler Ebene ausstellen; 1937 zum Beispiel im Rahmen einer Ausstellung des Schweizerischen Kunstvereins in der Kunsthalle Bern. 1941 wird sie für die 20. „Nationale Kunstausstellung“ im Kunstmuseum Luzern ausgewählt. Sie ist auch Mitglied der Schweizer Künstlerinnengesellschaft (GSMBK). Doch zweierlei Faktoren arbeiten gegen sie. In den Kriegsjahren steht der Kunstbetrieb in der Schweiz praktisch still; und was gezeigt wird spiegelt einen Backlash zum Postimpressionismus. Auch Lamers hat nicht die Kraft Gegensteuer zu geben; ihre Bilder spiegeln eine Malerei, wie sie sie an der Akademie gepflegt hatte. Kühe auf der Weide, Schwäne im Park, Stillleben mit Blumen, Tieren usw. Malerisch sind sie professionell und farblich reich, aber formal so als hätte es die Klassische Moderne nie gegeben. Sie ist damit nicht allein, überall in der Schweiz findet man diese Tendenz. Hinzu kommt, dass eine Künstlerin in den 1940er-Jahren einen enorm schwierigen Stand hatte, wobei die Frauen selbst (noch) nicht dagegen kämpften.
Das Jahr 1950 bildet eine Zäsur, mehrfach. Erstmals reist sie für einen Besuch zu ihrer seit 1928 in Cincinnati (Ohio) tätigen Familie. Damit bricht auch sie, just als allgemein eine neue Reisetätigkeit einsetzt, die Enge der Schweiz (und der Kriegsjahre) auf. Sie entdeckt (wohl im Atelier ihres Vaters in den USA) ihre Liebe zur (Hinter-)-Glasmalerei neu, und es entstehen nun von den faszinierendsten, verschiedene Tendenzen der Abstraktion aufnehmenden Hinterglasbilder, deren Leuchtkraft bis heute erhalten ist. Ein wunderbares Beispiel ist eine aufgeplusterte Taube, die sich stilistisch zwischen Kubismus und (Berner!) Surrealismus bewegt, als Kopf ein Drittes Auge und als Körper eine Art Hochhaus hat. Ist es Lamers Reaktion auf das Erlebnis USA?
Es gibt aber auch gemässigtere Kompositionen, die einfache Gefässe in der Art von Giorgio Morandi in rot-blau-gelbes Glas-Licht rücken. Und andere, die deutlich auf das Studium des Werks von Pablo Picasso hinweisen. Was indes roter Faden bleibt, ist die Präsenz von Tieren – mit einer deutlichen Vorliebe für das Pferd (es kann aber auch zwischendurch mal eine Schnecke sein). Wie weit man ihren Bildern Symbolwert beimessen soll, ist schwierig zu sagen. Fakt ist indes: Waltraud Lamers ist eine überaus intelligente, belesene, in Wort und Schrift eloquente Persönlichkeit, und diese ist – mit Witz und Charme und Ernst – in all ihren Bildern enthalten.
Gerade ihre kommunikative Seite ist es, die sie in Nidau nun mehr und mehr zur Figur macht und damit auch ihre Instanz (ja, man kann so sagen) in Sachen grafischer Gestaltung begründet. Sie befasst sich mit Heraldik und wird mit Aufträgen für Wappenscheiben betraut, sie gestaltet die Grafik für offizielle Publikationen, entwirft später gar die neue Uniform für die Musikgesellschaft. Dass sie der Seeländer Publizist Dr. Hans Hermann, der 1959 die Redaktion des Heimatbuch des Seelandes und des Murtenbiets“ (später „Seebutz“) übernimmt, um die Neugestaltung des Erscheinungsbildes bittet, ist fast schon logisch. Über gut drei Jahrzehnte prägt nun ihr Titelbild den Jahreskalender, in helleren oder dunkleren Braun-, Grün- oder Rottönen gehalten, immer mit den Umrissen des Bielersees als weissem Zentrum und einer heiter blickenden Sonne als Blickfang. Dazu die Schlösser von Nidau und Murten, alte Häuserzeilen, eine Industrie-Shedhalle (die Nidauer Feuerwehr-Garage?), ein Fischerboot und natürlich der Murtener Löwe und die Pranke des Amtes Nidau (seitenverkehrt, damit sich die Wappen anschauen).
Aber auch im Innern prägt Waltraud Lamers das Bild des Kalenders – sie entwirft neue Tierkreis-Zeichen, versieht wichtige Texte mit Signeten und Illustrationen, und vor allem gibt es Jahr für Jahr ein Insertin Form von Linolschnitten, die als Bild- oder Fest-Karten, als Fensterschnitte oder Bastelbogen genutzt werden können. Es sind keine Kunstwerke, Waltraud Lamers passt sich den Vorlieben einer traditionell ausgerichteten Leserschaft an. Vor allem in den häufigen Weihnachts-Geschichten findet sie jedoch zu einer überzeugenden, einfachen grafischen Sprache, die raffiniert Innen- und Aussenform miteinander kombiniert.
Diese Erfolgsgeschichte kann nicht über zwei Dinge hinweg täuschen: Zum einen wird sie als Grafikerin sehr oft nur minimal für ihre Arbeit entschädigt – rückblickend kann man sagen, sie sei eine working poor gewesen, doch die Frauen ihrer Generation schaffen es nicht (oder nur sehr selten), ihre Arbeit als finanziellen Wert zu betrachten und diesen auch einzufordern. Zu sehr ist ihnen ihr eigener Minderwerteingeschrieben.
Zum andern führt die Situation Waltraud Lamers dazu, eine Art Doppelleben zu führen, eines am Tag und eines in der Nacht. Die Nacht gehört der Künstlerin. Sie ist nach wie vor bestens orientiert über die Entwicklungen der Kunst und passt sich ihnen auch an. Ende der 1950er-Jahre boomt in der Schweiz der Wandel zur ungegenständlichen Malerei. Auch Waltraud Lamers geht um 1960 diesen Weg; ihre Bilder werden zu freien, organisch-konstruktiven Kompositionen, die mal ein Fest der Farbe sind, mal in ihren Bewegungen die Dynamik des Lebens zum Ausdruck bringen. Erinnerungen besagen, dass die Heureka von Jean Tinguely an der Expo 64 sie fasziniert und beeinflusst habe.
In den 1950er-Jahren nimmt sie die Ausstellungsmöglichkeiten im Rahmen der GSMBK noch wahr, ist zum Beispiel 1958 an der Saffa (der Schweizerischen Ausstellung für Frauenfragen) vertreten, doch dass sie nun, da es mit der Wirtschaft aufwärts geht, Kontakte zu Galerien knüpfen, sich als Künstlerin zeigen müsste, das schafft sie nicht – da bleibt sie lieber in ihrer eigenen Welt. Vom kleinen Nidauer Kreis, der die Künstlerin schätzt und ehrt und unterstützt, ist es vor allem Otto Affolter, der sich auch um finanzielle Belange bemüht. So ist er es, der 1964 im Atelier-Theater Bern eine Ausstellung veranstaltet, um durch Bild-Verkäufe eine weitere – letzte – Reise zu ihrer Familie in den USA zu finanzieren, was auch gelingt.
1967 bringt eine schicksalshafte Zäsur, die gleichsam die Enge des Lebensraumes von Waltraud Lamers spiegelt und nun auch noch verstärkt. Sie fällt und bricht sich dabei das Bein. Dass die Medizin den Bruch nicht zufriedenstellend heilen kann, hat seinen Hintergrund wohl teilweise in einer früh fortgeschrittenen Osteoporose, hervorgerufen durch das Kettenrauchen sowie Vitamin- und Mineralstoffmangel. Sie kann zwar weiterhin selbständig leben, (gibt auch das Rauchen auf), aber ihre Kräfte kommen nie ganz zurück. Auch das Augenlicht nimmt stetig ab. Man sagt, das sei der Grund, warum in ihrem Spätwerk leuchtendes Gold eine so wichtige Stellung habe. Auffallend ist auch, dass ihre mit Malerei kombinierten Collagen oft Cocon-Charakter haben, das heisst, der Reichtum ist, einem Mikrokosmos gleich, in eine Innenform eingeschlossen.
Daraus wird klar: Als ab den 1970/1980er-Jahren die Frauen damit beginnen, ihre eigene Identität wichtig zu nehmen und sich auch in der Öffentlichkeit zeigen, da ist es für Waltraud Lamers für einen Neuanfang – wie man ihn in der Biographie zahlreicher älterer Künstlerinnen feststellen kann – zu spät. Sie erlebt die Anerkennung ihres künstlerischen Oeuvres nicht mehr. Dass die Fondation Saner in Studen – nicht zuletzt durch die Vermittlung von Nachlass-Verwalter Otto Affolter – bereit ist, das Werk in ihre Bestände zu integrieren, ist ein verdienter Glücksfall. 1997 kommt es zu einer ersten, reichen und von einem Katalog begleiteten Retrospektive in den Räumen der Stiftung. Kuratorin Katrin Künzi und die hier Schreibende arbeiten in ihren Texten das Werk Waltraud Lamers ein erstes Mal auf. Seither jedoch ist wieder Funkstille. Lamers Schaffen wird weder auf Auktionen gehandelt, noch wird es gezeigt. Nur wenige wissen, dass die beiden grossformatigen, der Fondation Saner gehörenden Bilder im RestaurantPalace in Biel von Waltraud Lamers stammen. Hoffnung ist angesagt, dass sich die Wahrnehmung gelegentlich wieder ändert und das Bewusstsein für diese wichtige und erste professionelle Künstlerin im Seeland wieder wächst.