Vorwort von Annelise Zwez für den Katalog Stefanie Anrig mit Bildern von 2013 bis 2017

 

Ein neuer Katalog! – Ein neuer Katalog? – Was heisst das? Doch nichts anderes, als dass eine Künstlerin etwas Neues zu zeigen hat!

Das malerische Werk von Stefanie Anrig hat in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen. Die Künstlerin ist ihren Zielen: „Mehr Raum schaffen im Bild“, „mehr Leerstellen zulassen“ und „nie die Vision der Transparenz aus den Augen verlieren“ entscheidend näher gekommen. Es ist eine innere – und damit im Künstlerischen auch äussere, bildhafte – Freiheit entstanden, die zugleich ein höheres Mass an Ruhe und Klarheit beinhaltet. „So lange habe ich gewartet, gehofft, mich danach gesehnt; jetzt ist die Malerei Zentrum meines Lebens.“

Es gibt in der Kunstgeschichte immer wieder Künstler – insbesondere Frauen – die in der zweiten Hälfte ihres Lebens ihr Hauptwerk schaffen. Meret Oppenheim ist ein Paradebeispiel dafür.

Stefanie Anrig ist, was ihr malerisches Werk anbetrifft, eine Spätberufene. Wobei das ebenso stimmt wie nicht stimmt. Zum einen beschäftigte sie sich in nebenbei schon immer mit Malerei. Vor allem aber ist die Zeit, da sie primär als Designerin und als Dozentin tätig war, in ihrem Lebens- und Wissensschatz enthalten. Wenn sie sagt, „für mich ist bezüglich Materialien nur die beste Qualität möglich“ hören wir die Fachfrau und in der Art und Weise wie sie ihre Malmittel wählt, mischt, kombiniert verrät sich langjähriges Know-how. Doch erst nach einer Zäsur in der Biographie verschafft sich der Wunsch, eine eigene malerische Welt zu schaffen, definitiv Bahn. Doch wo ist sie, diese Welt? Wie haben andere Kunstschaffende sie gefunden und gestaltet? Sie reist nun fast jedes Jahr zu Weiterbildungen – Malerei wird einem nicht geschenkt! Künstler wie Hans Sieverding, Ina Barfuss, Thomas Wachweger gehören in den 1990ern zu ihren Lehrern.

Es sind Landschaften, die Stefanie Anrig schafft. Sie sind nicht der Natur und auch nicht der Stadt verpflichtet, haben auch nicht einfach seelischen Charakter und sind dennoch alles in einem. Sie erzählen und doch auch nicht. Mit Farben, mit Licht, mit Gesten arbeitet sie, aber auch mit der Linie, immer wieder der Linie, die sich frei bewegt, hier und dort zu Zeichen festigt. Kunstgeschichtlich sind die Jahre des expressiven Informel spürbar, aber auch die ausdrucksstarke Malerei der 1980er-Jahre. Lange ist eine gewisse Unruhe da – sie kann Dynamik bedeuten, Freude, Aufbruch, aber auch Fragen nach dem „Wo bin ich“ aufwerfen. Vieles überlagert sich, Gegenständliches wird weggewischt, weniges darf einfach nur sein. Die Summe der Spuren eines intensiven Malprozesses bildet letztlich die bildnerische Komposition.

Seit Beginn ihrer verstärkten Beschäftigung mit Malerei, mit freier Kunst, erkämpft sich die Künstlerin jedes Jahr Auszeiten, denn um eine andere als die Alltagswelt zu schaffen, muss sie sich selbst an einen anderen Ort begeben. Ein- und ausatmen, den Körper ausweiten, mit allen Sensorien ­die Beschaffenheit der Umgebung respektive ihr Echo in sich selbst ausloten. Aufenthalte in Italien und im Tessin spielen dabei eine wichtige Rolle.

Mit entscheidend für die heutige Malerei ist zweifellos ein längerer Aufenthalt in Venedig 2008. Die „Serenissima“ zwingt ihr – wie könnte es anders sein – eine vermehrt auf Architektur ausgerichtete Bildsprache förmlich auf. Eine Architektur, die Vergangenheit aufscheinen lässt, auf der emotionalen Ebene jedoch die Gegenwart ins Spiel bringt. Genau das fasziniert die Künstlerin. Zwar sagt sie, dass sich ihr in Venedig anfänglich alles in den Weg stellte, sie überhaupt nicht malen konnte….das ist leicht nachzuvollziehen. Neues ist unvertraut und muss sich erst einen Weg suchen!

Was die Lagunenstadt längerfristig einbrachte, ist das, was schon vor 500 Jahren die Renaissance in die Kunst einführte, den Raum. Fortan dürfen sich die Formen, die Farben, die Gesten nicht mehr „wild“ austoben; sie müssen – bei aller Freiheit gegenüber allem Abbildhaftem – Wege, Plätze, (Wasser)-Strassen, Aus- und Durchblicke berücksichtigen, die Differenz zwischen klein und gross, Nähe und Weite aufzeigen. Die einzelnen Bildelemente sind dabei nicht neu, auch der Tenor der Farben mit seinen Vorlieben für Rot- und Grün-, seltener Blau- und noch seltener Gelbtönen nicht. Was sich verändert, ist gleichsam das Selbstbewusstsein, mit denen sich die Flächen, die Farbfelder, Rundbogen und Nischen, die Gitter, die Schlaufen, die Wellen in Szene setzen, ohne gleich wieder übermalt zu werden. Langsam zeigt sich, was die Künstlerin sucht: Landschaften, die Ahnungen evozieren, zum Verweilen und Spazieren anregen, die – wie eingangs formuliert, Gewachsenes, Umbautes sowie Emotionales in sich vereinen.

Doch die Künstlerin ist noch nicht zufrieden. Wird sie es je sein? – Hoffentlich nicht, denn das würde Stillstand beeinzelne, immer sdeuten. Es ist ihr alles noch zu gedrängt, die Plätze nicht frei genug, die Verbindung von Ruhe und Lebendigkeit noch nicht defintiv gefunden, sie nähert sich ihr indes mit jedem neuen Bild.

Doch wie sich das Ziel zeigt, mischen sich plötzlich neue Elemente ein, oder, präziser ausgedrückt, chon bestehende „Zeichnungen“ gewinnen an Bedeutung. Plötzlich steht da ein Kelch im Bild und darf – sogar zur Überraschung der an der Staffelei arbeitenden Künstlerin selbst – bleiben.
„Ein offenes Gefäss, das dreibeinig steht, ist ein wunderbares Zeichen, ein weibliches Zeichen, aber auch einfach eines, das birgt und frei gibt – Düfte, Farben, Kräfte, Gefühle“. Gegenständliches und Abstraktes überlagert sich, ansatzweise nur, auch naturnahe Rispen und Ranken scheinen auf.

Immer noch und immer wieder reizt Stefanie Anrig die Frage nach der Transparenz. Mehrschichtigkeit lässt Einblicke zu, gibt Tiefe, doch Transparenz ist mehr, sie ist weicher, durchlässiger, ist nicht hinten und vorne, sondern alles in einem. Es gibt in ihrem Werk immer auch Arbeiten auf Papier, doch die Leinwand ist vorherrschend, auch in den Kleinformaten. Bis, ja bis 2016 die Serie der schwarz-weissen „Kleinen Geschichten“ entsteht. Gewachste Papiere werden zu schummrigen Fenstern, lassen Geschehnisse auf einem Blatt darunter erkennen, aber nicht greifen, verbinden sich mit zeichnerischen Stellen in der Wachsschicht. Man kann die Geschichten nicht benennen; Weiches und Festes, Natur- und Ding-haftes, Wesenartiges führen – verbunden und ergänzt durch Lineaturen und Schraffuren – ihr eigenes Bild-Theater auf, mal zentriert, mal von links nach rechts, mal von rechts nach links. Das Sehen reicht nicht, um es zu fassen, man muss auch die stumme Musik hören, sich mit wachen Sinnen den Gefilden des Traumes nähern. „Ich bin selbst begeistert von diesen neuen, vorläufig noch kleinen Arbeiten“, sagt Stefanie Anrig, „ich weiss, da ist ein Weg weiter“ – wohin, das erfahren wir dann im nächsten Katalog!