Ansprache anlässlich der Vernissage der Ausstellung „Ernst Geiger und der Hof“ am 2. Mai 2018 im Rebbaumuseum in Ligerz
Sehr geehrte Damen und Herren
Wer war Ernst Geiger? Keine kleinere Frage versuche ich im Folgenden zu beantworten.
Und mehr dazu.
Die Ausstellung umfasst drei Kapitel. Beim ersten und wichtigsten geht es um den Maler, den Künstler Ernst Geiger; was war seine Vision?. Die beiden Unterkapitel geben der Ausstellung ihren spezifischen Charakter, denn sie machen hier ganz besonders Sinn.
Ich meine zum einen die Spuren, welche die Beziehung zwischen Ernst Geiger und seinem Neffen Max Bill im Werk beider Künstler hinterlassen haben. Und zum andern die visuelle Wechselwirkung zwischen dem Haus und dem Leben von Ernst Geiger hier im „Hof“ in Ligerz, den er – wie wir gehört haben – 1918 zusammen mit seiner Frau Maria Bockhoff erworben hat und wo er 47 Jahre lang wohnte.
Der Künstler Ernst Geiger wird in fast allen Texten, die es gibt, in Bezug gesetzt zu anderen Kunstschaffenden, zu Gottardo Segantini, zu Giovanni Giacometti, zu Cuno Amiet und natürlich zu Ferdinand Hodler. Das ist nicht falsch, denn er hat all diese bedeutenden Kunstschaffenden gekannt (Segantini natürlich nur indirekt, denn er starb just als der junge Forstingenieur Geiger ihn für sich entdeckte). Er hat mit ihnen allen zusammen ausgestellt, insbesondere in den 1910er und 20er-Jahren.
Aber, so begann es mich im Laufe der spannenden Vorbereitungen auf heute umzutreiben, niemand – wirklich niemand – hat sich je die Frage gestellt, warum dieser Ernst Geiger zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu diesem illustren Kreis gehörte. Gewiss, da waren die Bilder, von denen wir einige wenige hier und heute sehen können. Aber Bilder malen sich ja nicht von selbst. Und Bilder sind nur dann Kunst, wenn sie von einem inneren Feuer beseelt sind. Was war denn im Fall von Ernst Geiger dieses Feuer? – X-fach heisst es, der künstlerisch Begabte habe 1899 im Bergell die Licht und Farbe aus der Landschaft herausdividierenden Werke Segantinis entdeckt und daraufhin beschlossen seinen Wunsch selbst Maler zu werden, umgesetzt. Einverstanden, aber was genau hat ihn so fasziniert, dass es lebensbestimmend wurde.
Es gilt zu wissen, dass Segantini damals an seinem grossen Tryptichon „Werden – Sein – Vergehen“ arbeitete, eine mystische Thematik, die er jedoch weder religiös noch abstrakt darstellte, sondern aus der Natur heraus, in den Bergen, da, wo sich Materie und Universum zu begegnen scheinen. Ernst Geiger war damals bereits aus der christlichen Kirche ausgetreten, bezeichnete sich als Atheist, hatte somit eigentlich nichts für Mystik übrig.
Aber da ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter vielen Denkenden eine treibende Kraft, die sich mit der 4. Dimension beschäftigt. Man interpretierte sie als die immaterielle, die als Energie alles Materielle durchwirkt. Das Licht respektive die Farbe, die ja nichts anderes sind als Licht, die Sonne, sie waren für die bildende Kunst ideal, um diese Thematik auszudrücken. Als Phänomen, das – wie bei Segantini – mystisch interpretiert werden kann, aber der Mystik nicht eigentlich bedarf und gerade das – so behaupte ich nun mal – dürfte Ernst Geiger als Naturwissenschafter – als in der Natur beobachtender und forschender elektrisiert haben. Da war eine Weltsicht, die ohne religiösen Überbau über sich selbst hinaus wies. Das zog ihn zu den Malern, die auf ähnlichen Wegen voranschritten, allen voran natürlich Ferdinand Hodler. Und es zog ihn nicht nur dahin, es befähigte den künstlerisch Suchenden, selbst ein Kapitel hiezu beizutragen.
Wenn Sie die Jahrzahlen in der Ausstellung verfolgen, werden Sie sehen, dass es noch eine Weile dauerte bis Ernst Geiger ganz da war. Denn er hatte auch eine erdige Seite, wollte nicht alles über Bord werfen – der „Hof“ ist (später) ein beredtes Beispiel dafür. – So sind seine Bilder zunächst noch im Grün der Wiesen verhaftet bis er – ermutigt von den Künstlern, mit denen er nun in Kontakt stand – die Landschaft, den Wald, die Blumen und die Dinge als Spiegelungen von Licht im farblichen Austausch mit der Materie darzustellen vermochte.
Und gleichzeitig war da noch eine andere Kraft. 1906 weilte Ernst Geiger im Haus von Freunden im Berner Oberland, um daselbst zu malen. Unter den Gästen war auch eine junge deutsche Alt-Philologie-Studentin namens Maria Bockhoff. Und wie’s dann so geht, die beiden verliebten sich, zogen miteinander in die Welt, nahmen dann in Bern Wohnsitz, wo Bockhoff studierte. Die Kräfte der Liebe und die Vision der Kunst, kumulierten sich, verliehen Ernst Geiger Flügel. Er engagierte sich auch kulturpolitisch, wurde u.a. Sekretär der Schweizerischen Künstlergesellschaft, die von Hodler präsidierte wurde. Er war also mit dem „Meister“ in direktem Kontakt, in gutem Kontakt, denn dieser setzte sich danach auch für Geiger als Maler ein, öffnete Türen und Tore, auch nach Deutschland. Überdies gab es seit 1909 auch noch den kleinen „Hans“ und leider die Sorge um die Gesundheit seiner Frau.
Es war wohl die Erkenntnis, dass er einen Freiraum schaffen musste, um seine Vision von Kunst voranzutreiben, die ihn und seine Familie 1911 eine Wohnung auf dem Kapf ob Twann mieten liess. Der Bielersee in Relation zu Hodlers Genfersee dürfte dabei ein wesentliches Argument gewesen sein. Denn hier entstanden nach und nach von den schönsten Bielersee-Landschaften von Ernst Geiger. Eine grossartige von 1915 hängt hier im Hof in diesem Sommer. Auch Maria Bockhoff kam voran – ihre Dissertation zur sog. „Visio Philiperti“, einem mittelalterlichen Gedicht von Hans von Neustadt wurde 1912 angenommen und 1916 in Tübingen publiziert. Sie waren ein junges, erfolgreiches Power-Ehepaar, die beiden.
Doch die Kapf-Wohnung war klein und so packten sie 1918 – dank einem Erbanteil – die Chance, das Haus der einstigen „Edlen“ von Ligerz käuflich zu erwerben. Die Sonne schien und – endlich – meldete sich auch das zweite Kind an. Seine Geburt 1921 wurde dann freilich zum traurigen, tragischen Schicksalstag; der Tod von Maria Bockhoff zerbrach etwas in Ernst Geiger. Alles wurde relativ, die Welt mit Kunst zu erobern schien ihm hinfällig. Er blieb wohl ein guter Maler, ohne Zweifel, aber eine internationale Karriere war nicht mehr sein Ziel.
Umsomehr muss ihn der Kontakt mit seinem Neffen Max Bill, dem später wichtigsten Vertreter der Zürcher Konkreten, erfreut haben. Bills Mutter Marie war Ernst Geigers Lieblingsschwester und er ihr Lieblingsbruder. Der widerspenstige Max Bill sog bei seinen Aufenthalten in Ligerz auf, was ihm sein Onkel von sich und der Kunst und dem Metier des Malens vermittelte. Es bestätigte ihn in seinem eigenen Wunsch, Künstler zu werden. Als 17-jähriger entwarf er hier im Hof das Plakat für einen von Chocolat-Suchard ausgeschriebenen, anonymen Plakat-Wettbewerb und gewann ihn. Der Check über 2’500 Franken gab Max Bill die Möglichkeit seinem Vater vorzuschlagen, einen Teil seines Studiums am Bauhaus in Dessau selbst zu finanzieren. Nachdem sich auch Ernst Geiger noch beim Vater für ihn einsetzte, konnte die Reise im Frühjahr 1927 losgehen.
Bereits im August 1927 ist Bill wieder zu Besuch in Ligerz. Animiert von neuen gestalterischen Sichtweisen, schlägt er vor, eines der hinteren Zimmer farblich neu zu gestalten. Die Decke malt er blau, die Ostwand gelb und die Westwand orange-rosa. Christoph Geiger erinnert sich, dass er und sein Bruder jeweils im Herbst, wenn die übrigen Räume durch die Herbstausstellungen belegt waren, im Bill-Zimmer wohnten. Es ist zu schade, dass es später bei einem Umbau zerstört wurde. Immerhin gibt es zwei kleine Aquarelle davon und – jetzt komme ich zu einem der Highlights der Ausstellung – nur kurze Zeit nach seiner Entstehung malte der junge Bill ein Porträt seines Onkels, konstruktiv eingepasst in die gelb-blaue Ecke des Raumes. Ein Max Bill avant la lettre.
35 Jahre später verkaufte Ernst Geiger – inzwischen bejahrt und kein finanziell erfolgreicher Maler mehr – das Bild der Stadt Brugg, wo es bis heute im barocken Büro der Stadtschreiberin hängt. Ich muss da eine Anmerkung machen: Das 1749 erbaute, heutige Brugger Amtshaus gehörte 1879-1908 den Eltern von Ernst Geiger, das heisst, er ist daselbst aufgewachsen! Das ganze macht also Sinn. Und wir sind natürlich glücklich, dass wir das Frühwerk von Max Bill – das direkt von der engen Beziehung der beiden erzählt – hier haben dürfen. Christoph Geiger lieferte dann uns auch noch gleich das Selbstporträt, das Bill als Vorlage diente und so findet man jetzt in der Nordwest-Ecke des Cheminée-Raumes ein kleines Stück Schweizer Kunstgeschichte, die wohl vielen von Ihnen und späteren Besuchenden der Ausstellung bisher unbekannt war. Es gibt da in der Vitrine auch noch eine Skizze von Ernst Geiger, die den malenden Max Bill zeigt.
Damit nicht genug. Die Beziehung der zwei, die zweifellos angeregten und von Bills ersten Erfahrungen in Dessau bereicherten Diskussionen, welche Onkel und Neffe – vielleicht am lodernden Cheminée-Feuer – geführt haben, hat durchaus auch Ernst Geiger in seinem Schaffen beeinflusst. Der Hintergrund des Bildes, das für das Plakat ausgewählt wurde, ist nicht umsonst monochrom gelb! – Es ist übrigens ein Bildnis von Clara Woerner, die in dieser Zeit den Geigerschen Haushalt führt und später Hans Geiger heiraten wird. Der kecke Hut befindet sich heute im Neuen Museum in Biel und ist nun für diesen Sommer als Leihgabe zurück an seinen Ursprungsort gekehrt.
Es ist eine kunstgeschichtlich und menschlich berührende Geschichte, die sich da in die Ausstellung eingefügt hat. Max Bill hat sie einmal in nur zwei Worte gefasst. Angela Thomas, die in verdankenswerter Weise ein Buch über den „privaten“ Max Bill geschrieben hat, fragte ihren Ehemann wie denn Ernst Geiger gemalt habe. Als Antwort soll dieser die Arme in die Luft gestreckt haben und schliesslich gesagt haben: „Ganz nah“. „Ganz nah“ – was braucht es da mehr.
Auch später kam Max Bill immer wieder nach Ligerz – und zwar – für mich immer noch frappierend – um zugleich seinen Onkel Ernst wie seinen Vater und dessen zweite Frau zu besuchen. Erwin Bill war nach seiner Frühpensionierung 1931 nach Ligerz gezogen, wurde daselbst Gemeindeschreiber, ja sogar Gemeindepräsident.
Doch zurück zu Ernst Geiger. Die 1930er-Jahre waren schwierig; es drohte Krieg; die Armee suchte Räume für Einquartierungen. Ihr Blick fiel auch auf den „Hof“, doch da stellte die Handweberei von Hans und Clara Geiger-Woerner eine Anzahl Praktikantinnen ein und schon waren im „Hof“ keine ungenutzten Räume mehr. Das wäre hier nicht relevant, wenn unter diesen jungen Frauen nicht Margharita Fahrer gewesen wäre, die den 63jährigen überraschend zum „jungen Mann“ machte. Dem Krieg zum Trotz herrschte „Frühling“ in Ligerz. Samuel und Christoph wurden geboren und es entstanden auch wieder zahlreiche neue Bilder.
Meine Sprechzeit ist abgelaufen und ich habe das 3. Kapitel, das eigentlich am Anfang der Geschichte der Ausstellung steht, noch gar nicht erwähnt. Es geht darum, mit Bildern von Ernst Geiger vom „Hof“ zu erzählen, von seiner Architektur, vom Garten, von den Trauben,die einst an der Fassade wuchsen, aber auch von den Menschen, die da lebten oder zu Besuch kamen. Es gibt einige markante Werke zum Thema, oft sind es jedoch kleinere Arbeiten. Niemand kann sie so zum Leben erwecken wie Christoph Geiger, der hier aufgewachsen und in jeder Ernst Geiger betreffenden Hinsicht ein wandelndes Lexikon ist. Gerne übergebe ich darum ihm das Wort und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.