Im Herbst 2024 weilte Die Aargauer Künstlerin Andrina Jörg als Stipendiatin der Amici di Sciaredo in dem 1932 nach Plänen von Georgette Klein (1893-1963) erbauten „Gelben Kubus“ in Barbengo/Tessin.
Als Mitglied der Stipendiatskommission habe ich im Anschluss an ihren Aufenthalt auf dem Hügel Sciaredo folgenden Text verfasst:
Paranatur als Langzeitprojekt
Es war noch während des Studiums der Bildenden Kunst in Basel in den späten 1990er-Jahren, dass Andrina Jörg auf die Idee kam das Thema «Alltag» als «Malerei» mit hellgrünen Trinkhalmen, die sie in den Boden ihres Gartens steckte und fotografierte, zu interpretieren. Ohne zu ahnen, dass dies der Startschuss zu einer Auseinandersetzung mit Natur und Künstlichkeit sein würde, die sie bis heute als «Paranatur Forschungslaboratorium» beschäftigt.
Der Name benennt es: Die Untersuchungen zu «Paranatur» – ein von der Künstlerin erfundener Begriff – stehen für ein vielfältiges Forschungsfeld, das ebenso mit visuellen wie mit ökologischen und gesellschaftlichen Themen besetzt ist.
Als sich Andrina Jörg um das Sciaredo-Stipendium 2024 der «Amici» bewarb, dachte sie in erster Linie an einen Moment der Ruhe, der ihr die Möglichkeit bieten würde, ihre Doktorarbeit zum Thema weiter zu vertiefen und ortsspezifische Aspekte ihrer künstlerischen Interventionen umzusetzen.
Eigentlich war es vorauszusehen gewesen: die naturbetonte Umgebung des Atelierhauses wurde zum «Fest» für jene Seite der Paranatur, die mit Verlockung, Verführung, Humor spielt und erst in der zweiten oder dritten Wendung zur Reflektion über die Bedrohung der Natur, das tatsächliche Ersetzen von Natur durch Künstlichkeit wird.
Im Wissen, dass am Ende ihres Aufenthaltes Mitte Oktober 2024 ein «Sciaredo-Talk» zum Thema «Garten» stattfinden würde, machte sie das Terrain von den Hausmauern bis hinauf zu den Palmen zum Ausstellungsgelände. Ihre «Protagonisten» hatte sie mitgebracht, die spitzigen und untersetzten, die roten, blauen, schwarzen «Beserich», die weissen Kabelbinder, die gelben Ohrschützer, die Löffler und vieles mehr.
Mit ihnen versetzte Andrina Jörg den verwilderten Garten wie einst zu Georgette Kleins Zeiten in einen Park voller bunter Stängel mit blumigen Dolden, Geflechten mit kleinen farbigen «Blumen», gelben «Baumpilzen» und mehr.
Das erste Mal habe sie mit ihren «Züchtungen» eine eigentliche Beziehung aufbauen können, meinte die Künstlerin im Gespräch; jeden Tag, wenn sie aus dem Fenster schaute waren sie da. Sie nahm sie in einem engeren Sinn wahr – versetzte sie auch, wenn ihr eine Perspektive nicht gefiel. Sie konnte beobachten, wie sich Insekten dazu verhalten, wie sie von den Farben angezogen wurden, aber ihrem Naturel folgend schnell feststellten, dass sie für sie nicht interessant waren. Auch der Hirsch, der seit langer Zeit immer mal wieder auf dem Hügel auftaucht, machte eines Tages die Runde, schnupperte aber nur daran und befand wohl ernüchtert, dass es keine seiner geliebten Rosenknospen sind.
Als eine weitere Dimension ihrer Arbeit nennt Andrina Jörg das Paradoxe, das ihr Projekt in sich trage – die Gleichzeitigkeit von malerischen, Freude bereitenden Aspekten und virtuellen, uns in einem ganz anderen, bedrohlichen Sinn be-treffenden. Sie nutzt es gerne auch in einem grösseren Zusammenhang im Rahmen ihrer Professur für Kulturvermittlung und -forschung an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz.
Ebenso interessant wie das Erlebnis ihrer Para-Gärten ist die Konsequenz und Systematik, mit welcher sie ihre Gewächse katalogisiert, sodass man sie – wie einst mit dem obligatorischen «Binz», dem Bestimmungslexikon für die Flora der Schweiz – benennen und einordnen kann.
Unterteilt ist ihr Paranatur-Feld in vier Pioniergenerationen: Die Plantae Aquaneraceae, die Plantae Utiligeneraceae, die Plantae Nutrigeneraceae und die Plantae Aerogeneraceae.
Die Plantae Aquageneraceae, so ist auf einer die Para-Gärten ergänzenden Informationstafeln zu lesen, sind grünliche Stängel (man erinnere sich der Trinkhalme, mit denen alles begann!), die einzeln oder in Gruppen stehen und oft horstbildend sind. «Dank ihrem weit verzweigten Wurzelgeflecht und Kapillarsystem transportieren sie Wasser an die Erdoberfläche und helfen damit, den Wasserhaushalt zu regulieren.»
Geradezu eine literarische Dimension nehmen die einzelnen Namen und Charakteri-sierungen an: da gibt es zum Beispiel den «Noppa ignea flammea», den flammroten Spitzbeserich, dessen Spitzen als «sehr sensitiv» gelten. Oder den «Penicillus rosalbina calixum virgatum», den gestreiften Standlöffler. Und den «Astringia giganta alba», den grossen, einknotigen Bundspargel gegen Reisefieber.
Wie, so fragt man sich, kam die Künstlerin auf diese lateinisch klingenden Namen? Um den Zauber nicht allzu sehr zu enträtseln, verrät sie hier nur, dass sie sich von lateinischen Übersetzungstools habe inspirieren lassen.
Das Erstellen eines Paranatur-Gartens war in Jörgs Zeit in Sciaredo nur ein Aspekt ihrer Tätigkeit. Es ging auch darum mit Zeit und Musse ihre Doktoratsarbeit «Paranatur-Forschungslaboratorium – Eine künstlerisch-ethnografische Erkundung zu Vorstellungen von Natur und Konsum» (Arbeitstitel) voranzutreiben. Hiefür ist lesen ein wichtiges Moment, denn es ist klar, auch andere haben sich mit dem Thema befasst. Sei es bezüglich dem für Andrina Jörgs Dozentur wichtigen Bildungssystem, seien es Kunstschaffende, die ebenfalls eine recherchebasierte, kritische Kunstpraxis verfolgen. Als Beispiel erwähnt sei hier Uriel Orlow (CH/GB), der in einem seiner Projekte mit einer Wissenschafterin die Vegetationsgrenze in den Alpen im Kontext des Klimawandels filmisch und zeichnerisch untersuchte.
Andrina Jörg ihrerseits tritt seit 1999 in Kunst-Ausstellungen in Erscheinung, oft mit Fotografien von Paranatur-Interventionen, die nicht einfach dokumentieren, sondern eigene künstlerische Qualität ausstrahlen. Entsprechend war auch in Sciaredo immer wieder fotografieren angesagt und man darf gespannt sein, wie Georgette Kleins Haus und Garten in nächster Zeit in Ausstellungen von oder mit Beteiligung von Andrina Jörg auftauchen werden.
Annelise Zwez November 2024 – Fotos: Andrina Jörg (1/3/4/6) oder Annelise Zwez(2/5)