Newsletter IX 2024

 

 

 

Biennale Venedig 2024 Schweizer Pavillon Guerreiro do Divino Amor. Foto: azw

Im Zentrum meines Septembers waren eigentlich nicht die bildenden Künste, sondern die beiden Hauskonzerte im Fraubrunnenhaus in Twann, welche die Rückkehr und die aufwändige Restauration eines sich seit 1787 in  unserer Familie befindlichen Tafelklaviers aus der Berner Instrumentenbau-Werkstatt Hählen feierten. Ein «musikhistorisches Ereignis» sagte die renommierte Musikfachfrau Brigitte Bachmann (84) in ihrer Einführung, da es ihren Recherchen zufolge das einzige Berner Tafelklavier (entwicklungsgeschichtlich das erste mit Hämmerchen zur Klangerzeugung) sei,  das heute noch (oder besser wieder) spielbar ist. Der Restaurator Mirko Weiss (Trubschachen) machte es möglich und die Pianistin Karin Schneider (Biel/Ligerz) erbrachte den musikalischen Beweis in beglückender Art.

Dennoch: Die Kunst kam nicht zu kurz. Möglichkeiten für diesen Newsletter sind die Biennale Venedig, Christoph Büchel in der Fondazione Prada, Julie Merethu im Palazzo Grassi in Venezia, Renate Bodmer in Winterthur und Zofingen, der Rückblick auf die Schweizerischen Plastikausstellungen in Biel, Isabelle Krieg in Altdorf, Olivier Mosset/Nathalie du Pasquier resp. Jos de Gruyter & Harald Thys im Kunsthaus Biel (Pasquart), Chaim Soutine in Bern, Robert Schürch in Aarau, Paula Rego in Basel.

Die Biennale ist ein Must:

Stranieri Ovunque/Strangers Everywhere ist das Thema. Das kann man sehr verschieden interpretieren (bitte nicht mit Ausrufezeichen, sonst wird es ein SVP-Slogan!). Adriano Pedrosa – Direktor des Kunstmuseums Sao Paulo/Brasilien – meint damit primär das Ungleichgewicht im westlichen Kunstkanon, wo Künstler*innen aus Süd- und Lateinamerika, Afrika – teilweise auch den USA –  seltener des asiatischen Raumes kaum je beachtet wurden und selbst in ihren Heimatländern Aussenseiter*innen waren, weil sie indigenen Volksgruppen oder – ohne diesen Aspekt geht im Moment gar nichts! – einer queeren Community angehör(t)en. Das ist eine durchaus nachvollziehbare Haltung für den ersten südamerikanischen Biennale-Kurator, aber er strapaziert den Gedanken schon sehr! Nicht nur einmal hatte ich den Eindruck, die Biographie sei wichtiger als die künstlerische Qualität! Wobei, sich auf alle Biographien einlassen, ist gar nicht möglich bei 332 vertretenen Kunstschaffenden! Umsomehr als wir Europäer*innen von den meisten nie gehört haben und auch die kulturellen Hintergründe nicht differenziert genug kennen. Umso erstaunter habe ich reagiert als ich plötzlich einer Vielzahl von Werken von «Aloïse» (CH 1886 – 1964) begegnete, doch – klar – auch Art Brut-Kunstschaffende sind «Fremde», leben in ihrer eigenen Welt. Dasselbe gilt für Magde Gil (GB 1882-1961), von welcher ein wunderbarer Fries zu sehen ist. In gewissem Sinn gehört auch das Werk von Anna Zemankova (CSSR 1908-1986) dazu, die sich in Nachtstunden eine fiktive Pflanzenwelt erschuf; für mich ein Highlight!

Das erstaunlichste ist eigentlich die retrospektive Ausrichtung. Sehr, sehr viele Künstler*innen sind noch im 19. Jh. oder dann im frühen 20. Jh. geboren. Insbesondere auch in dem der Migration von italienischen Künstlern gewidmeten Kapitel im Arsenale – eine Hommage an den Standort, international betrachtet dennoch etwas fragwürdig.

Pedrosa will damit vermutlich aufzeigen, dass Migration schon immer ein Thema war, nicht erst heute, früher aber in Bezug auf die Anerkennung viel problematischer. Ein Beispiel ist die seit 1959 in Bologna lebende Österreicherin Greta Schödl *1929, eine Vertreterin der visuellen Poesie wie sie in Wien gefeiert wurde. In Italien wurde Schödl aber erst in den letzten Jahren als Pionierin dieser rhythmisch-repetitiven Wort-Klang-Kunst entdeckt.

Heute hingegen gehört Migration zu fast jeder Künstler-Biographie; bestimmt auch viele künstlerische Positionen. Das ist in Venedig aber viel weniger ein Thema, schon gar kein politisches!

Für mich ist Pedrosas Biennale trotz schöner Zusammenzüge wie z.B. im Saal «Abstractions»  zu wenig zeitgenössisch. Unter den anti-rassistischen, post-kolonialistischen, feministischen und queeren Positionen jüngerer Kunstschaffender aus aller Welt fand ich einiges zwar interessant, aber nichts, das ein grosses «Wow!» ausgelöst hätte.

Bei den Pavillons interessierte mich vor allem die Schweizer Präsentation. Guerreiro do Divino Amor(Krieger der göttlichen Liebe) *1983 in Genf ist ein brasilianisch-schweizerischer Doppelbürger mit Wohnsitz in Sao Paulo. Er wurde von Andrea Bellini vorgeschlagen, der ihn bei den Swiss Awards in Basel für sich entdeckte und 2022 zu einer Einzelausstellung im Centre d’art contemporain in Genf einlud. Die Wahl entspricht nicht nur dem Generalthema des Überall-fremd-seins, sondern rückt zudem das Thema Migration und was sie bei Kunstschaffenden auslösen kann in ein positives Licht, was bei Pedrosa zu wenig der Fall ist.

Zufällig stiessen wir (ich und meine Tochter) im Hof des Pavillons auf den zweiten Teil eines Gesprächs mit dem Künstler und einer seiner Performerinnen. Ich hatte gelesen, dass er ein leidenschaftlicher Rechercheur sei und lieber im (Digital)-Labor arbeite als nach aussen kommuniziere. Jetzt glaubte ich es auch, denn er sagte kaum etwas, überliess das Wort lieber der Sängerin und Tänzerin aus «Roma Eterna» (2. Teil der Präsentation), die sinnlich-opulent davon sprach, dass wir uns alle lieben sollten.

Seit 2005 arbeitet Divino Amor an einem als animierte Projektionen gestalteten Atlas der Welt. Für die Biennale entstand «Miracle of Helvetia» als raumgreifende Himmelskuppel. Schon der Titel verrät den herrlich ironischen Ansatz, mit welchem der Künstler sämtliche Cliché- und Werbe-Bilder, die er in digitalen Archiven fand, zu einem derart «nationalistischen» Panoptikum der Schweiz überhöht, dass es laufend kippt.  Und das ist gut so! Zuweilen mögen Passagen zu wenig verfremdet wirken – etwa wenn Simonetta Somaruga zum 1. August spricht – aber gerade für Schweizer*innen ist «Miracle Helvetia» alles in allem ein wunderbar animierendes Erlebnis.

Der Pavillons wurden im Laufe der Jahre immer mehr. 60 sind es jetzt. Das überfordert. Den Preis für den schönsten Pavillon erhielt Australien, wo Archie Moore den Stammbaum ihrer Familie als raumgreifende Installation über mehr als 50’000 Jahre nachgezeichnet hat. Dies nicht um Migration aufzuzeigen, sondern genau das Gegenteil, die Verwurzelung der als älteste noch lebendige Kultur geltenden Aborigines sichtbar zu machen. Sind die Namen und Verwandtschaftslinien anfänglich noch lesbar, verlieren sich die greifbaren Daten zum Dach hin immer mehr. Der Preis ist dahingehend nachvollziehbar als der Pavillon eine sehr schöne Einheit bildet, mit dem Werk eins wird.

Möglich gewesen wäre für mich auch der leuchtend farbige amerikanische Pavillon von Jeffrey Gibson *1972 als Nachkomme indianischer Vorfahren. Aufgewachsen in den USA, Europa und Asien, lebt er heute in Hudson (New York). Überzeugend ist sein Werk und die Einheit des Pavillons, weil er die indianischen Muster, Traditionen und Forderungen («We want to be free», «Treat me right») mit einem weltweiten Kunstkanon verbindet und so seiner Vision einer global vernetzten Bildsprache Ausdruck gibt.

Ein Highlight – da sind sich fast alle einig – ist die filmische Theaterinszenierung von Wael Shawky (*1971 in Alexandria ) im ägyptischen Pavillon. Der international bekannte (u.a. 2016 Kunsthaus Bregenz) Videokünstler visualisiert die Geschichte Ägyptens aus arabischer Sicht. Erinnerungsrelevanter sind aber oft Erlebnisse, so z.B. die Live-Performance zu «Rehearsal of Swan Lake» In dem von Anna Jaermoleva(*1970 Leningrad, lebt in Wien) bespielten österreichischen Pavillon. «Schwanensee»  steht in ihrer Kindheitserinnerung für «Machtwechsel», weil das UdSSR-Fernsehen das Ballett  immer dann zeigte, wenn ein Staatsmann o.ä. starb. Mit der filmischen und real getanzten «Probe für Schwanensee» (erarbeitet mit einer ukrainischen Choreographin!) sendet sie ein Hoffnungs-Zeichen für eine Nach-Putin-Aera. Das ist zur Zeit zwar chancenlos, aber es berührt, zumal das Ballet wie auch Tschaikowskys Musik zu einem kollektiven europäischen Kulturerbe gehören.

Als hochemotional empfand ich auch das raumfüllend projizierte Video von Yael Bartana (*1970 Israel, lebt in Berlin) mit dem Titel «Abschied vom Planeten», eine ebenso romantische wie hoch-bedrohliche Vision einer Zeit, in der die Menschen im All ein neues Zuhause suchen müssen. Die Kombination mit dem Asbest-Staub geschwängertem Intérieur von Ersan Mondtag (*1987 in Berlin) – eine seinem Grossvater gewidmete biographische Inszenierung – ist einerseits nachvollziehbar, wirkt aber dennoch etwas plakativ und mit dem Thema der Biennale hat der deutsche Pavillon nicht eigentlich etwas zu tun. Ganz im Gegensatz zu Frankreich, wo ein Künstler aus der Südsee-Provinz Martinique (Julien Creuzet) eine dichte Meeres-Installation inszenierte.

Die Ländervertretungen in den Giardini und im Arsenale sind leicht zugänglich, schwieriger haben es jene in der Stadt, doch unverhoffte Entdeckungen können bereichernd sein, so z.B. der Pavillon von Zimbabwe in der Nähe des Markus-Platzes. Wie früher schon, präsentiert sich das ehemalige Rhodesien auch heuer mit qualitätvollen Werken. So zeigt sich dass der Nigerianer El Anatsui  (*1944 in Ghana) nicht der einzige ist, der mit Alltags-Abfall (Flaschendeckel) monumentale Werke schafft, sondern z.B. auch Takadiwa Moffat(*1983) sowie der etwas ältere Victor Nyakauru (*1977). Während ersterer ganz einfach ausgedrückte Zahnpastatuben und einzelne PC-Buchstaben kumuliert und in skulpturale Form verwandelt, ist zweiterer (noch) ganz dem Handwerk verpflichtet, gestaltet mit klar kompositorischer Bildvorstellung. Beides hat mir sehr gut gefallen.

Last but not least sei der Pavillon von Saudi-Arabien erwähnt, wo (wie schon vor zwei Jahren) eine betont selbständige, heuer gar feministische Künstlerin ausstellt: Manal AlDowayan (*1973). Zu sehen sind riesige, sog. «Desert Roses» (Wüsten-Kristalle) nachempfundene, mit Seide überzogene Scheiben, auf welche in dichter Schrift Hunderte internationaler Kommentare zur Situation der saudischen Frauen zu lesen sind, aber auch (im zweiten Teil), Kommentare von saudischen Frauen auf dem Weg zu mehr Öffentlichkeit. – Dass hinter der Wahl ein politisches Credo steckt, ist offensichtlich, das Werk und die Installation sind nichtsdestotrotz eine Bereicherung.

 

Wenn der Aufenthalt  in der Lagunenstadt einen Montag beinhaltet, gibt das Gelegenheit die anderen grossen Ausstellungen in der Stadt zu besuchen. Ein Must ist dabei die unglaubliche und zuweilen verwirrende, in jedem Fall erstklassige Gesamt-Installation des Schweizer Künstlers Christoph Büchel(*1966) in der heuer besonders schwierig zu findenden Fondazione Prada. Schwierig weil der Total-Ausverkauf («Alles muss raus!) des venezianischen «Pfandleihhaus» so täuschend echt aussieht und das natürlich auch vermitteln will.

Büchel hat ein gewaltiges Sammelsurium an verstaubten, aus der Zeit gefallenen, aus Konkursmassen übrig gebliebene Gegenständen versammelt. Bei den durchwegs heiter wirkenden Besuchenden dröhnt schon bald einmal der Kopf ob all der Fülle an «Ehemaligem», zu dem längst auch elektronischer Schrott gehört. Eine «Bibliothek» mit alten Pfandleih-Buchhaltungen verweist darauf, dass das alles einmal wirklich war. Der Gedanke an die überbordende Konsum- und Wegwerfhaltung allüberall begleitet einem dabei hinterhältig. Gleichwohl ist man auch als Jäger*in unterwegs; vielleicht gibt’s ja da und dort ein «Goldvreneli» oder – ja wirklich, Kunst, die sich dahin verirrt hat, die ein Sammler mal in finanzieller Not ins Pfandleihhaus brachte. Ungläubig entdeckte ich so plötzlich Herbert Distels Schubladenmuseum in einer Ecke und Manzonis «Künstlerscheisse»-Konserven in einer Vitrine. Büchel wäre nicht Büchel, wenn er damit nicht auch sagen wollte: Mich fasziniert das Ganze!

Eigentlich sollten meine Newsletter nicht länger als drei «Schreibmaschinenseiten» sein, aber die Fülle der Biennale hat das verunmöglicht und zudem alles andere vorläufig vom Tisch gefegt.