2024 ist im Verlag Scheidegger&Spiess die erste umfassende Monographie zum malerischen, zeichnerischen und (vereinzelt) plastischen Schaffen von Renate Bodmer (*1939 in Zofingen, aufgewachsen in Thun, 1978-2020 in Winterthur) erschienen.  Die Konzeption des Buches besorgte der Zürcher Kunsthistoriker Matthias Fischer; von ihm stammen auch die Haupttexte. Er lud Annelise Zwez und Karin Salm ein ihre Sicht auf das Werk zu formulieren – Zwez aus einem Gender-Blickwinkel heraus, Karin Salm aus der Erinnerung an ihre Schulzeit bei Renate Bodmer am Gymnasium in Winterthur.

Hier der Text von Annelise Zwez

Das Theater der eigenen Lust

Das eindrückliche künstlerische Schaffen von Renate Bodmer wurde zu Unrecht kaum über die Region hinaus bekannt. Der Grund dafür wird selten derart stereotyp erklärt wie bei ihr: Sie stand halt im Schatten ihres Künstlergatten Bendicht Fivian. Nein! Sie stand im Schatten des lange männerbetonten Kunstbetriebs. Der folgende Text mit speziellem Augenmerk auf die Arbeiten der 1980er und der frühen 1990er-Jahre geht darauf ein, zeigt aber auch dessen längst nicht nur schwarz-weisse Komplexität auf.

1983 stellte die «Kunsterzieherin» Renate Bodmer erstmals aus, in der Galerie und Kunsthandlung Walter Lüssi in Winterthur. Da war sie bereits 42 Jahre alt. War Lehrerin im Kanton Bern gewesen, Dozentin in Berlin und bereits seit acht Jahren als Zeichnungslehrerin am Gymnasium in Winterthur tätig. Doch der Zeitpunkt ist typisch. Ab Mitte der 1970er-Jahre (1975 war das «Jahr der Frau») weitete sich der Blick auf weibliches Kunstschaffen stetig, wenn auch noch sehr zögerlich. Ein deutlicher Akzelerator waren 1980 Miriam Cahns verbotenerweise auf Betonbalken im Untergrund der Basler Autobahn gesprayte Worte: «Mein Frausein ist mein öffentlicher Teil». Wichtig: Das war nicht ein Appell an den Kunstbetrieb, sondern an die Frau selbst, die endlich aufstehen soll, sich – im Fall von Renate Bodmer – nicht mehr «Kunsterzieherin» nennen, sondern Künstlerin und entsprechend bildnerisch gestalten. Und genau das machte Renate Bodmer; eigenständig und zugleich im Mainstream der Entwicklung der Kunst von Frauen in der Schweiz.

Seit ca.1980 verfügte sie über ein grosses Atelier an der Eulach, wo auch Bendicht Fivian arbeitete. Das beflügelte sie und führte zu einem Zyklus von figürlich-abstrahierten oder auch gänzlich abstrakten gestisch-konstruktiven oder bewegt-expressiven, meist grossformatigen Bildern.

Was Mitte der 1980er-Jahre den Ausschlag gab, dass sie die «Abstraktionen» hinter sich liess und sich dem Figürlichen – auch sich selbst – zuwandte, ist nicht bekannt. Es ist aber zum einen in ihrer Kunst deutlich sichtbar und zum anderen im Einklang mit künstlerischen Strömungen der Zeit, wenn auch selten so narrativ wie hier.

Eine ausgesprochen spannende, vieles vorweg nehmende Darstellung findet sich in einer – ausnahmsweise nur 56×56 cm grossen – Gouache auf Papier von 1984. Es ist eine auf blau fokussierende Intérieur-Situation mit einer weiblichen Figur, die einen Wolf auf den Achseln trägt, und einem auf einem Stuhl (einem Thron?) sitzenden, männlichen Figur mit einer fez-ähnlichen Kopfbedeckung. In vielen Arbeiten von Frauen in jener Zeit erscheinen Tiere – oft der Wolf – als Metapher eigenständiger weiblicher Sexualität. Als Vergleich sei auf Arbeiten der Basler Künstler Annette Barcelo (*1943) hingewiesen. «Schau!» scheint die Frau zu sagen und auf etwas hinzuweisen. Der Blick des Mannes folgt ihrem Handzeichen.  Was sie ihm erklärt, ist unserer Interpretation überlassen, sicher scheint aber, dass SIE die tonangebende Bildfigur ist.Dialoge, Verbindungen, Vernetzungen von Figuren und deren Blickrichtungen kann man in vielen Werken von Renate Bodmer beobachten. Auch mit Bühnen vergleich-bare Intérieurs wurden nun immer öfter zu Settings für ihre Bilder.

Die beschriebene Gouache war 1986 in «Renate Bodmer, Beatrice Gysin, Eva Haas, Manuela Stähli-Legnazzi – Vier Berner Künstlerinnen im Frauenmuseum Bonn» zu sehen. Die Ausstellung war Teil des «Berner Sommers» in Bonn – einem spartenübergreifenden Austauschprojekt. Renate Bodmers Freundschaft mit der von der Kulturabteilung mit der Auswahl betrauten Manuela Stähli-Legnazzi führte zu ihrer Teilnahme, obwohl die in Thun aufgewachsene damals ja bereits 11 Jahre in Winterthur wohnte. Wichtig war zweifellos, dass Bodmer mit ihren ich- und fraubewussten Arbeiten jener Zeit sehr gut ins Klima passte. (Bild: Renate Bodmer beim Aufbau der Ausstellung in Bonn.)

Zu sehen war z.B. auch ein Bild, das Renate Bodmer von hinten und leicht abgedreht im weissen Overall in einem Volkskundemuseum(?) zeigt. Sie ist in Bewegung, schaut aber dennoch kurz zurück auf eine hochschwangere Frauenfigur, die an eine afrikanische Holzskulptur erinnert. Im Gespräch mit jungen Feministinnen wird das Bild zuweilen als Sehnsucht nach Schwangerschaft interpretiert. Dass das Bild den Blick der Malerin auf die halb hölzern, halb lebendig wirkende Figur zum Thema hat, ist sichtbar, doch scheint es uns eher ein – vielleicht wehmütiger – Abschied der 47jährigen von diesem, offenbar nicht zu ihrem Leben gehörenden Thema zu sein.

Die Erfahrung der vier Künstlerinnen in Bonn war, wie sich Beatrice Gysin erinnert, zwiespältig; einerseits war da die Freude, dass es in Bonn (übrigens bis heute) ein Frauenmuseum gibt, andererseits gab es kaum technischen Support fürs Einrichten.  «Wir fühlten uns recht allein gelassen». Auch die Resonanz in der Bevölkerung sei eher bescheiden gewesen und Männer interessierten sich sowieso nicht dafür. Dennoch war es kunstgeschichtlich betrachtet ein kleiner Meilenstein.

Renate Bodmer und Eva Haas stellten in der Folge gemeinsam im Vebikus in Schaffhausen aus (1986), alle vier Künstlerinnen zusammen mit Lilly Keller und Vreni Stein im Kirchgemeindehaus Langnau i.E. (1988).

Wenig später begann Renate Bodmer mit einem Zeichenzyklus, den sie «Frühe Erinnerungen – schwarzes Theater» nennt und Motive aus ihrer Kinderzeit zusammen mit dem jüngeren Bruder Köbi zum Inhalt hat. Kein anderes Kapitel ihres Kunstschaffens wurde so häufig gezeigt wie diese intensiven, autofiktionalen, Schauder auslösenden «Theaterzeichnungen». Genannt seien der Kunstkeller Biel, die Galerie ge in Winterthur.  Der im Titel aufscheinende Begriff «schwarzes Theater» ist in einem übertragenen Sinn zu interpretieren, haben die Zeichnungen doch nichts mit vermummten und darum unsichtbaren Schauspielern zu tun. Wohl aber mit «unsichtbaren» Erinnerungen an häusliche Szenen aus den 1940er-Jahren. Es ist allgemein bekannt, dass wir oft die bedrohlichen Szenen aus der Kindheit memorieren. Hier zum Beispiel der kleine – offenbar aufmüpfige – kleine Bruder, der vom Schaukelpferd fällt, weil die Versuche der Mutter, es festzuzurren scheitern und alles zum Schreckenszenario wird, sodass das auf dem Stubenbuffet sitzende Mädchen (sie selbst) nur noch den Kopf einziehen und sich die Ohren zuhalten kann. Auf einer anderen Zeichnung sitzt sie auf einem (Wisa-Gloria)-Dreirad und versucht den in einem hölzernen Zweirad-Karren sitzenden Bruder voranzuziehen (in ihrer linken Hand hält sie die Deichsel), doch weil der Vater daneben auf sein Velo aufsteigen will, wird alles viel zu eng und es funktioniert gerade gar nichts mehr – auch das Schaukelpferd ist längst umgefallen. Es ist ein Desaster.

Es gibt aber auch humorvolle Zeichnungen, denn hinter dem gesamten Zyklus steht nicht zuletzt ein Generationenkonflikt zwischen Mutter und Kindern. Er verschiebt den Zyklus indirekt aus den biographischen 1940er-Jahren in die 70er/80er-Jahre, somit die Entstehungszeit der Serie. Da sitzt zum Beispiel die Mutter auf einem Sessel und strickt, den Kopf dreht sie aber nach hinten und nach oben und schaut ängstlich auf ihre beiden Kinder, die bedrohlich nahe an der Deckenlampe auf dem Stubenbuffet eine Tanzvorführung imitieren. Köbi verbeugt sich gerade, Renate zeigt so etwas wie eine «Schwalbe». Die Lust der Kinder und die Angst der Mutter prallen aufeinander, mit «Sieg» für die Kleinen.

Aufschlussreich ist eine in mehreren Zeichnungen sichtbare kleine Ton-Schale mit fünf Vögeln am Rand, die zwischen Bruder und Schwester auf dem Buffet steht. Sie ist, der Situation entsprechend, akut gefährdet und zieht darum unsere Aufmerksamkeit auf sich. Vögel sind in der Kunst der 1980er-Jahre ein wieder- und wiederkehrendes Symbol für die Befreiung der jungen Frauen-Generation aus der Enge der alten Gesellschaftsordnung. So fügt sich der ebenso «dunkle» wie auch lustvoll überzeichnete Zyklus nahtlos ins aktuelle Werk von Renate Bodmer.

In der Reihe der friesartigen, Raum an Raum hängenden «Aufzeichnungen» von 1992 bis 1997, welche die Erinnerungen an ihre Adoleszenz aufarbeiten, findet er eine direkte Fortsetzung, doch ihr Schaffen beschränkt sich nicht darauf. Es entstehen auch grossformatige Zeichnungen, die noch deutlicher in einen zeit- und frau-betonten Zusammenhang gestellt werden können. Allen voran die hochformatigen «Türme», die mit ihren spiralförmigen Windungen nach oben sogleich an den «Turmbau zu Babel» erinnern, allerdings ohne dessen biblischen Hintergrund. Hier geht es um das zunächst noch ängstliche, dann immer frechere Erklimmen eines eigenen Babel mit unbegrenzten Möglichkeiten.

Dass man bei Renate Bodmer den Faktor Humor, ihre Liebe zum Absurden, Fantastischen, Märchenhaften, Fiktionalen nie vergessen darf, zeigen auch Leinwandbilder aus der Zeit wie zum Beispiel das köstliche «Tingel-Tangel» im Format 202×2015 cm (!), das eine Gruppe weiblicher Figuren mit Tiermasken, Pompon-Ohren, Tatzenhandschuhen und Prankenfüssen zeigt, die auf einem Spiegelboden ebenso fröhlich wie subversiv Party feiern. Oder die ungewohnt kleinformatigen, ausgesprochen ambivalent wirkenden «Drei Mamsells» (Acryl und Öl auf Papier, 47×57 cm), die drei sehr verschiedenartige weibliche Figuren vor oder nach einem Auftritt in einem Variété zeigen.  Aufgrund der Frisuren könnte man sie etwas spekulativ als «Porträts» der drei befreundeten Künstlerinnen Eva Haas, Manuel Stähli-Legnazzi und Renate Bodmer (v.l.n.r.) bezeichnen, die vom Kunstbetrieb noch immer eher als «Mamsells» eingeschätzt werden, denn als den Künstlern ebenbürtige Kunstschaffende.

Zum Schluss sei noch der Bogen zur eingangs erwähnten Komplexität der Stellung von Renate Bodmer in der Schweizer Kunstszene geschlagen. Bodmer war Zeichenlehrerin am Gymnasium, d.h. sie hatte ein regelmässiges Einkommen, war somit nicht auf den Verkauf ihrer Kunst angewiesen. Das führte bei sehr vielen Künstlern wie Künstlerinnen in analoger Situation dazu, dass sie sich zu wenig um Ausstellungen bemühten. Dass ein Prinz kommt, die gestalterische und motivische Qualität erkennt und die Kunstschaffenden berühmt macht, ist eine Mär!

Bei Renate Bodmer spielt aber noch anderes eine Rolle. Ihre Grossformate waren in gängigen Galerien mit eher kleinen Räumen kaum zu zeigen und schon gar nicht zu verkaufen! Sie liebte trotz ihren narrativen Motiven die grosse Geste, sie wollte sich in ihren Theatern bewegen können. Und vielleicht – das nun aber eine subjektive Vermutung – liebte sie es, in ihrem Atelier ganz in ihre Welt einzutauchen, ihre Theater ganz für sich aufzuführen, damit auch keiner Kritik von aussen ausgesetzt zu sein. Wobei gerade dies wiederum typisch wäre für die Frauen-Generation von Renate Bodmer, die Selbstbewusstsein erst Stück um Stück erarbeiten musste. Was Bodmer dann am besten gelang, wenn sie ihre Bilder als schwarzes, als unsichtbares und gleichzeitig eminent fantasievolles, subversives Theater aufführte.

Ihr Schaffen heute ans Licht zu holen, ist entsprechend ein Erlebnis!