Eine Zusammenstellung sämtlicher längerfristig relevanter Einträge auf der Facebook-Seite von Annelise Zwez im Jahr 2024. Es handelt sich um
Kommentare zu den Endjahresausstellungen in diversen Kantonen, zu einer Videoarbeit von Ingeborg Lüscher im Kunsthaus Zofingen, einen Beitrag zur Ausstellung von Yves Netzhammer in Solothurn, eine Beschreibung der Ausstellung von Augusto Giacometti im Aargauer Kunsthaus in Aarau, eine Einschätzung von Picasso in der Maag – Lichthalle respektive Christoph Hänsli in der Galerie Kilchmann in Zürich, einen Text zur Gedenkausstellung Ka Moser in Bümpliz, kombiniert mit einer Performance von Chantal Michel, ein Kapital zu Tracy Rose im Kunstmuseum Bern, eine Gratulation zur Eröffnung des neuen Kunsthaus Baselland mit „Rewilding“, einen Rundgang entlang der Bieler Fototage, die etwas enttäuschte Sicht auf den „Eiligen Geist,“ der in der Klosterkirche Schönthal (Langenbruck) zur Ruhe kommen sollte, einen wertschätzenden Kommentar zur Art Unlimited in Basel, einen begeisterten Beitrag zur Installation/Ausstellung von Olga Titus in der Kartause Ittingen, als Intermezzo ein persönlich-familiengeschichtlicher Hinweis auf ein Tafelklavier aus dem 18. Jh., einen freudvollen Beitrag zur Ausstellung von Isabelle Krieg in Altdorf, einen kurzen Einwurf zu Jerry Haenggli in der „Art Etage“ in Biel/Bienne und zu guter Letzt ein versöhnlicher Bericht zu „Thalassa“ im Musée des Beaux Arts in Lausanne.
Weitere Texte zu Ausstellungen finden sich in den Newsletter 1 bis 11 auf der Home-Page respektive nach jedem Wechsel unter „Texte“ auf dieser Website.
Die Jahresausstellungen 2023/2024 Aargau – Bern (Cantonales) – Neuenburg (La Chaux-de-Fonds) – Solothurn (KM Olten) Januar 2024
11 Jahresausstellungen in vier Kantonen (darunter 8 der regionalen «Cantonales» im Kanton Bern) habe ich bisher gesehen. Die «Regionalen» im Raum Basel sind für Auswärtige schwierig, «Zentral» ist noch geplant – es gäbe noch mehr. Aber irgendwann geht einem in der Ups und Downs in grosser Vielfalt vereinenden Ausstellungen der Schnauf aus. Man schwört wieder auf Einzelausstellungen, die mehr Vertiefung erlauben. Unter den 11 Ausstellungen einen «Golden Globe» zu vergeben, ist schwierig – oben aus schwingen für mich Moutier, Aarau und Olten, am Tabellenende ist die Kunsthalle Bern.
Was mir allgemein aufgefallen ist, wie wenig Werke sich explizit mit politischen Inhalten (inkl. Umweltthemen) befassen; indirekt schon, aber nicht radikal. Identitäts- und Körperthemen hingegen sind zahlreich; das zeigt auch meine höchst subjektive, kommentierte Bildauswahl.
Die junge Aargauer Künstlerin Félicia Eisenring (*1985) befasst sich seit längerem mit Pferden; 2022 zeigte sie hiezu in der «Auswahl Aargau» Zeichnungen. Jetzt ist es ein faszinierendes Objekt, das sie «a bath in the hors body» nennt (Acrylbadewanne und Pferdefell). BILD
Marie-Claire Baldenweg (*1954) beschäftigt sich seit sehr langer Zeit mit der Konsumwelt, die sie u.a. über gemalte Einkaufstaschen aus Plastik aufschienen liess. Aktuell ist es nun eine 15teillige Reihe von Glas- und Plastikfläschchen mit Kunststoffdeckeln, denen sie humorvoll (männliche) Charaktere zuordnet, vom «General oft the Army» über den «Head of Curatorial» bis zum «Tech Billionaire». Der satirische Ansatz gefiel der Ankaufskommission des Aargauer Kunsthauses, welche die Reihe für die Sammlung ankaufte. BILD
Eine vor allem auch in der technischen Umsetzung faszinierende Arbeit zeigt Urs Aeschbach (*1956) in Aarau. Die vier Objekt-Skulpturen bestehen aus fotokopierten Architektur- und Natur-Zeichnungen in der Fläche, die sich an einem Rohr mit Spiegelfolie zusammengedrängt in die Vertikale aufstellen. Warum der Künstler sie «place for the homeless» oder «place for the rich” nennt, müsste er mir noch näher erklären.
Die in der Nähe von Lausanne lebende Liliane Gassiot (* 1959) ist nicht die einzige, welche das «Zeichnen» mit der Nähmaschine praktiziert. Es ist fast so etwas wie ein Hype geworden, wobei nur selten Männernamen auf den Schildchen stehen. Liliane Gassiot begann mit einer Art Kaffeesatz-Zeichnungen auf Servietten, die einst ihrer Grossmutter gehörten. Seit längerer Zeit näht sie auf eigenen Fotos und gibt ihnen so geradezu malerische Qualität, wie die Beispiele in La Chaux-de-Fonds zeigen. BILD
Angetan war ich in der Biennale des Kantons Neuenburg von der Idee von Meryl Levi Festisse (*1985) ihr aufwändig genähtes Performance-Kostüm als Figur in die Ausstellung zu setzen und so präsent zu halten, auch ohne das explizite Engagement der Künstlerin für die LGBTQIA+ Community (nachzuschauen auf Instagram) unmittelbar wahrzunehmen. Im Hintergrund eine «Tuftage» von Roxane Christinet (*1999).
Spontan in Bann zog mich in der Cantonale in Interlaken dieses leicht surreale Bild von Andreas Jenni (*1984). Die Dinge ein klein wenig aus der Normalperspektive rücken, weiss in dunkle Zonen zu bringen, tut gut. Mit Hilfe von Instagram entsann ich mich dann, dass ich schon vor zwei Jahren in der Cantonale in Moutier ähnlich auf Bilder Jennis reagierte. Ob das für das Gesamtwerk gilt, weiss ich nicht. BILD
Echt schräg fand ich in der Cantonale in Moutier diese Installation von Garance Finger (*1981) mit Schleck-Zungen aus Zucker in einer Kühl-Vitrine wie man sie von Confiserien her kennt.
Ein Highlight der Cantonale in Thun war diese «Traumdusche» der mir ansonsten unbekannten Barbara Reichen (*1971). Man stellte sich in ein mit Goldfäden ausgestattes Kabäuschen und streckte den Kopf nach oben in ein reiches, romantisches Traum-Panorama-Theater. Wow, so schön möchte ich auch mal wieder träumen!
Echt beeindruckt haben mich in der Cantonale in Thun (und später wieder in St. Ursanne, wenn dort auch unvorteilhaft gehängt) die auf alte Tischtücher gemalten Bilder von Linda Meli (*1991). Diese Souveränität im Umgang mit dem Körper zugunsten einer Komposition von Farben und Formen und Zuneigung! Chapeau! BILD
Wahrscheinlich ist es zeitbedingt, dass für mich der grosse «Duschvorhang» (im Bild lediglich ein kleiner Ausschnitt) von Janes/Funariu vermutlich die Nummer 1 der diesjährigen Cantonales ist (wer die beiden Frauen sind, ist mir noch nicht ganz klar). Wie hier KI eingesetzt und ausgelotet wird, ist für mich neu und zeigt Möglichkeiten auf, die erst gerade angestossen werden. Konkret haben die beiden «das System DALL.E mit dem immer gleichen Prompt «funny snow face» gefüttert» und die Resultate (ebenfalls via KI) in ein riesiges «Wimmelbild» integriert und auf Stoff ausgedruckt. Nur ganz kleine «unpassende» Zeichen (ein Hund z.B.) deuten auf eine Art subversive Präsenz der Künstlerinnen.
In der Solothurnischen Jahresausstellung in Olten hat mich u.a. diese minimal konzipierte, aber sogleich die Dramatik der aktuellen Weltlage evozierende Arbeit von Eli Equagoo (*2000) beeindruckt, wobei das kleine Schildchen «Reserviert» wahrscheinlich ausschlaggebend ist, dass das rationale Objekt an sich emotional aufgeladen wird.
Ebenfalls eingeschrieben hat sich mir in Olten dieses «Pferd mit Blumen» betitelte Acrylbild von Pat Treyer (*1956). Die mir eigentlich von Luzern her bekannte Künstlerin hat hier für einmal nicht den Frauenkörper in intimem Dialog mit sich selbst malerisch dargestellt, sondern versucht sich in die Seele eines Pferdes einzufühlen, das Tier ohne Fell, direkt auf der Haut zu spüren. Das berührt und macht für einmal den Verweis auf Miriam Cahn und Maria Lassnig hinfällig.
Last but not least überzeugten mich – ebenfalls in Olten – die Körperzeichnungen von Delia Ferraro (*1996), die trotz des tausendfach bearbeiteten Themas, kein sofortiges déjà-vu auslösen, sondern vielmehr Freude ob er eigenständigen Annäherung ans Thema, mit dem sie selbst Genderzuordnungen hinfällig macht.
Videoart Ingborg Lüscher Kunsthaus Zofingen Jan 2024
Ich besuchte kürzlich «Video*Kunst» in Zofingen – eine kleine Retrospektive zur Videokunst in der Schweiz seit 1989; von Franziska Megert über Pipilotti Rist bis Judith Albert. Irritiert und zu diesem Post veranlasst hat mich eine Arbeit von Ingeborg Lüscher von 2009/10. Damals stellte sie 15 Palästinenser*innen und 14 Israeli – somit Menschen zweier Völker, die das 20. Jahrhundert traumatisiert hat – drei Fragen und filmte ihr Nachdenken: Denke…wer bist du, deinen Namen, deine Herkunft. Denke…was die andere Seite dir angetan hat. Denke…kannst du das vergeben? Die Hintergründe und die Umsetzung der Gründung des Staates Israel durchdie Weltgemeinschaft – die UNO – ist derart kollektives Wissen, dass es keiner weiteren Erklärung bedurfte. Die unverkennbar der einen oder anderen Gruppe zuweisbaren Gesichter sprachen für sich selbst. 2009/10 ist nicht Januar 2023 mitten im Gaza-Krieg zwischen Israel und der Hamas-Bewegung. Dieser bewegt uns emotional derart, dass wir nicht anders können als die Arbeit von Ingeborg Lüscher gegenwartsbezogen zu denken. Dann entspricht sie aber nicht mehr der Intention der Künstlerin, die – notabene – deutscher Abstammung ist (*1936 in Sachsen). Sie stimmt auch nicht mehr – der Holocaust geht irgendwie verloren, verkürzt die Stimmungslage auf die Zeit seit dem 7. Oktober 2023. Wir werden uns der eigenen Reaktion bewusst, verfolgen die Arbeit gleichwohl mit grosser Spannung und sind berührt davon. Die Frage, die sich stellt, ist, was passiert mit der Kunst, wenn sie plötzlich ihre Bedeutung entscheidend verändert? Damit ist nicht die Kunstgeschichte gemeint, sondern in diesem Fall ganz klar politische Inhalte. Der Vermerk vor Ort: «Die Arbeit ist den Opfern auf beiden Seiten gewidmet» nimmt ihr allfälligen Vorwürfen den Wind aus den Segeln. Die Frage bleibt: Was passiert mit mir? – Ich habe die Augen kurz geschlossen und traurig gedacht: Ach, es ist alles noch viel komplexer und unlösbarer.
Dann habe ich im Barocksaal einen Kaffee getrunken – das «Café» gehört zum Konzept – und bin mit Zilla Leuteneggers «hydropneumatisch gefederten Citroën DS Cabriolet» (Wandzeichnung + Video-Projektion, 2006) in freundlichere Zonen aufgebrochen.
Zur Ausstellung von Yves Netzhammer im Kunstmuseum Solothurn, Jan 2024
Netzhammer müsste eigentlich als der bedeutendste Schweizer Künstler gefeiert werden. Denn ich vermute, niemand anders hatte mit 53/54 Jahren schon so viele Museumsausstellungen inklusive Biennale Venedig gestaltet wie er. Dem ist aber nicht so. Das Bilanz-Rating 2023 zeigte es auf. Bezüglich der «besten Präsentationen 2022/23» war Netzhammer auf Platz 2, in der Liste der «wichtigsten Schweizer Künstler» jedoch auf Platz 18. Das spiegelt das allgemeine Verständnis von «wichtig» als Markt-Bedeutung. Die Liste seiner Ausstellungen macht es deutlich: Da fehlen die wirklich grossen Galerien, da fehlt die USA mit ihrer Markt-Dominanz (weitgehend zumindest)!
Der Grund ist einfach: Netzhammers Animationen, Filme, «Maschinen», Installa-tionen sind weder Malerei noch Skulptur, eher selten Objekt, somit nur bedingt tauglich für repräsentative Kunst-Sammlungen. Und Netzhammer widersetzt sich der Anbiederung. Auch jetzt wieder in Solothurn. Das ist bewundernswert.
Es ist charakteristisch für Yves Netzhammer, dass er jeder Ausstellung ein ganz spezifisches Narrativ zu Grunde zu legen vermag. So wiedererkennbar seine von der Linie ausgehende, transformatorische Bildsprache ist, so verschieden ist, was er damit erzählt.
Die Solothurner Ausstellung trägt den Titel «Die Welt ist schön und so verschieden, eigentlich müssten wir uns alle lieben». Man ahnt von Anfang an, dass die Worte selbst in ihrer Wunschformulierung zu schön sind, um wahr zu sein. Es braucht indes eine Weile bis man die fliessend-fantastischen Figurationen – seien es Wandbilder oder Filme – auseinanderzudividieren vermag und darin trotz ihrer sinnlichen Formen die Gleichzeitigkeit gegenläufiger Verschränkungen erkennt. Da sind nicht nur Liebkosungen, da sind auch Zähne, aber in der Virtualität des netzhammerschen Kosmos dringt – ähnlich wie im Comic – kein Schmerz nach aussen.
Die Ausstellung beginnt sehr verhalten, legt gleichsam die Parameter fest. Das ist, als Video visualisiert, die Linie, die sich unentwegt bewegt, formt und weiterzieht zum einen. Zum andern ist es eine Reihe weiss bemalter Holzstäbe mit einem aufgepropften, metallen wirkenden, schwarz bemalten und schwarz tropfenden Objekt. Es könnten Werkzeuge, Stachel für Weidlinge und anderes mehr sein, aber man wird latent den Gedanken an Hellebarden aus dem Spätmittelalter nicht los, auch wenn das nicht 1:1 sichtbar ist. Und genau in dieser Ambivalenz schickt der Künstler seine Ausstellung einem Perpetuum Mobile gleich auf die Reise. Die klar umrissenen Masken an den Wänden, sind sie harmlos oder doch chinesische Kung Fu Kämpfer? Wohltuender ist es, dem reich herausgearbeiteten erotischen Strang in den Zeichnungen und Filmen nachzugehen.
Die Ausstellung birgt noch SEHR viel mehr! Eines – das muss ich zuletzt noch gestehen – habe ich nicht begriffen: Was will der Künstler mit den Presspan-Schachteln in Raum 6? Ist es eine Allusion an die Bildschirmarbeit mit ihren Fenstern und Räumen und darin enthaltenen Objekten? Vielleicht gibt der im April erscheinende Katalog darüber Auskunft.
Augusto Giacometti – Aargauer Kunsthaus – Februar 2024
Es war eine Freude. Gemeint ist der Besuch der Ausstellung Augusto Giacometti (1877-1947)im Aargauer Kunsthaus in Aarau. Doppelt. Zum einen sind die Bilder des ältesten Giacometti – ein Cou-Cousin Giovanni Giacomettis, dem Vater von Alberto und Diego – eine Augenweide. Zum andern ist die Ausstellung das, was man sich unter einer musealen Schau vorstellt, nämlich ein Duo zwischen vorausgehender wissenschaftlicher Recherche und Präsentation. 2023 erschien nach jahrelanger Arbeit am Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft der «catalogue raisonné», der nicht einfach Werkverzeichnis ist, sondern Giacomettis theoretischen und praktischen Umgang mit der Farbe – seine eigene Erkenntnislehre – aufarbeitet. Anhand von Audio- und Film-Stationen wird sie in der Ausstellung sicht- und nachvollziehbar gemacht. So wird die Magie der Ausstrahlung der sich zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion bewegenden Bildwelt mit einem weit über «malerische Intuition» hinausgehenden Hintergrund vertieft.
Interessant ist, dass Augusto Giacometti eigentlich von der «Grande Decoration» herkommt. Er besuchte 1897 in Paris die «Ecole Nationale des Arts Décoratifs». Dieser Weg zur Kunst begründet gleichsam die von ihm betonte Gleichstellung von freier und angewandter Kunst und erinnert damit an die – in meinen Augen – legendäre Ausstellung «Ornament und Abstraktion» von Markus Brüderlin von 2001. Diese Parallelität ist auch Parcours der Ausstellung, die im einen Rundgang die Entwicklung Giacomettis von Jugendstil und Symbolismus zu den mit dem Spachtel aufgetragenen mosaikartigen Darstellungen und zum «weicheren» späteren Werk zeigt und in einem zweiten Rundgang Giacometti als Gestalter von Wandfresken und Glasbildern. Mit Ausnahme des absoluten Highlights der mit Virtual Reality dreidimensional erlebbaren grossen Malerei im Amtshaus in Zürich (1922) und den wunderbaren Fragmenten des Kinder-Fries (1916) gelingt in Aarau hier freilich nicht dieselbe Intensität wie sie die «freie» Kunst zu evozieren vermag. Darin ist, meiner Ansicht nach, evident, dass Augusto Giacometti seine Höhepunkte in der Landschaft fand. Denn hier kommt der Bergeller, der mit dem Licht der Bergwelt aufgewachsen ist, auch in der Abstraktion besonders zur Geltung. Zu meinen Favorites gehören aber auch einige Städtebilder, wie z.B. die Bar Olympia von 1928. Viele Schweizer Kunstschaffende haben Augusto Giacometti im Laufe der Zeit beerbt. Einer ist mir beim Betrachten eines Intérieurs ganz besonders in den Sinn gekommen: Samuel Buri (*1935)!
Picasso in der Maag-Lichthalle – Christoph Hänsli in der Galerie Kilchmann in Zürich März 2024
«Immersiv» ist ein Schlagwort in der aktuellen Kunst-Diskussion. Die raumfüllenden Licht-Shows zu Van Gogh, Frieda Kahlo oder Picasso wurden dabei rotz grosser Publikumserfolge meist negativ bewertet. U.a. war von einem Pseudo-Kunsterlebnis die Rede. Das Musée des Beaux Arts in Lausanne konterte und machte eine erhellende Ausstellung zu immersiven Kunst-Installationen, als deren «Erfinder» Lucio Fontana mit «Ambiente spaziale al luce nera « (1949) gilt.
Ich kam zum Schluss: Ich kann nur mitdiskutieren, wenn ich eine der kommerziellen Licht-Shows gesehen habe. Also ging ich in die Maag-Lichthalle in Zürich, bezahlte 25 Franken um mich von Picassos Werken «betören» zu lassen. Und wurde ein bisschen vom Saulus zum Paulus. Die Schau ist gut und – zum Beispiel in Bezug auf «Guernica» – respektvoll.
Im Korridor zur Halle sind verständliche, aber keineswegs banale Texte platziert. Man spürt die auf Picasso spezialisierte Kunsthistorikerin Androula Michael als Kuratorin dahinter, die mit Annabelle Mauger von «Cathédrales d’images» 200 Werke auswählte und mit dem Architekten Rudy Ricciotti inszenierte.
Zu sehen ist eher ein auf Wände, Boden und zwei «kubistische» Bauten im Zentrum projiziertes Bühnenstück als eine immersive Schau. Man ist als Besucherin wohl mitten drin, bleibt aber Schauende und wird nicht Mitspielerin wie etwa in Judy Chicagos «Feather Room» von 1969 (Lausanne). Das Publikum macht überdies den «Fehler» auf den am Rand und auf einer Tribüne platzierten Sitzgelegenheiten zu verweilen und den «Film» anzuschauen, statt im Raum umher zu gehen.
Ein Highlight sind selbstverständlich die «Demoiselles d’Avignon» (1907), die collageartig geschnitten ein «kubistisches» Puzzle bilden. Die Farben sind nicht überdreht und daneben hat die Zeichnung in schwarz-weiss durchaus ihren Platz. Auch «Guernica» als Kriegs-Monument erscheint schwarz-weiss und wie ein Mahnmal angehalten im Fluss der Bilder.
Es ist klar, die Show ist politisch korrekt – die sexuellen Konnotationen sind zurückhaltend und lüsterne Stiere habe ich keine gesehen. Somit ist das Porträt unvollständig. Und die im Genderkontext problematische Figur Picassos scheint schon gar nicht auf!
Warum von Zeit zu Zeit Bilder anderer Künstler (z.B. Manet) als Vergleiche auftauchen, wird nicht klar, umsomehr als das «breite Publikum» sie gar nicht erkennt.
Nach Picasso ging ich zur nahe gelegenen Galerie Kilchmann, um mir die Ausstellung von Christoph Hänsli (* 1963 ZH) anzuschauen. BILD Fast hatte ich ein wenig Angst davor, wie ich in der Folge auf «gewöhnliche» Bilder reagieren würde. Doch die Angst war unbegründet. Denn schon bei den ersten Bildern begannen die Hirnrädchen zu drehen, Bilder wie «Eisenerne Lunge» oder «Die Schöpfung» auf die Mehrdeutigkeit der Dinge und ihrer Hintergründe zu erforschen. Aktives Schauen war gefordert. Und genau das ist denn die wichtigste Differenz zu Picasso. Passives Schauen dort, aktives und somit Erkenntnis förderndes Betrachten da.
Im Gedenken an Ka Moser – Ausstellung Art Nachlass-Stiftung Bümpliz – Performance Chantal Michel März 2024
Bern feiert die 2023 verstorbene Berner Malerin und Musik-Performerin Ka Moser (1937-2023). Mit drei Ausstellungen. Das ist mehr als nur verdient. Ka Moser war seit den 1970er-Jahren eine unverwechselbare Erscheinung in der Berner Kunstszene, leise und prägnant zugleich. Ihr zuletzt schlohweisses, langes Haar umspielte ihr schmales Gesicht weich. Unvergessen sind mir ihr Auftritt 2019 (d.h. mit 82 Jahren!) während eines Rezitals Klavier–Stimme in der Antonierkirche in Bern und ein Besuch in ihrer Atelier-Wohnung im Rahmen meiner Recherchen zu Künstlerinnen in Bern in den 1970er-Jahren.
Jetzt war ich an der Vernissage der Art Nachlass-Stiftung in Bümpliz. Wie zu hören war, hat sich die Stiftung aktiv um den Nachlass bemüht (ein selten zu hörendes Statement!). Die ausgestellten Kapitel ihrer Malerei und auch ihrer digitalen Kaleidoskope waren mir weitgehend vertraut. Ich hielt nach Zeichnungen aus den 1970er-Jahren, wie ich sie bei ihr zuhause gesehen hatte, Ausschau und stellte fest, dass dieser Schatz noch nicht gehoben wurde. Sie selbst hat sie nie gezeigt, liess ihr Werk erst in den 1980er-Jahren beginnen, was mir aus meiner und aus feministischer Sicht falsch zu sein scheint. Aber das kommt schon noch.
Viel mehr und nachhaltig beeindruckt hat mich an der Vernissage die Performance von Chantal Michel. Aus unerfindlichen Gründen hat die Galerie eine doppelte Decke. In diesen Zwischenraum zwängte sich Performerin in einem langen, weissen, semitransparenten Kleid, das sie ebenso wie ihre langen Haare in den Raum hängen lies. Die Legenden um die den Menschen wohlgesinnte «Weisse Frau» kamen mir in den Sinn. Geräusch- und reglos verharrte sie da oben und war doch DA. Es gelang mir, die Vernissage-Gäste einen Moment auszublenden, die Energie der Performerin zu spüren und den Geist Ka Mosers zu imaginieren. Das berührte mich ungemein, umsomehr als es sich um eine Gedenk-Ausstellung handelt. Ich denke, Ka hat sich gefreut.
Tracy Rose im Kunstmuseum Bern März 2024
Kunst ist nicht gratis. Das kann vieles heissen. Ich meine hier, dass eine Ausstellung besuchen nicht einfach Werke (welcher Art auch immer) anschauen und in vorhandenes Wissen einordnen heisst, sondern Arbeit. Als ich nach der Vernissage der Ausstellung Tracy Rose im Kunstmuseum Bern nach Hause ging, war ich schlicht ratlos; ich hatte mich ganz offensichtlich zu wenig vorbereitet. Ich registrierte wohl das wilde, performative und multimediale Schaffen der Südafrikanerin (*1974), aber die Hintergründe, die Verknüpfungen begriff ich nicht. Also war Arbeit angesagt. Mit den Saaltexten auf dem Handy fuhr ich lesend zurück an den Bielersee. Und langsam vermochte ich mich in das von der Geschichte Südafrikas, von der Geschichte der Apartheid und ihrer Überwindung geprägte Universum von Tracy Rose «einzuloggen».
Entscheidend dünkt mich heute, dass sie knapp 20 Jahre alt war, als alles aufbrach, Neues möglich und Altes umsomehr bewusst wurde. Sie war in gewissem Sinn ein Kind der Revolution. Politisches, Feministisches wurde zentral und dass sich ihre Motivation bis heute an Unterdrückungen, Diskriminierungen entzündet ist geradezu logisch.
Zentral ist ferner, dass man das Wort «karnevalesk» oder «grotesk», das die Berner Kuratorin Kathleen Bühler an den Anfang ihres Begleittextes stellt, versteht. Es heisst für sie – vereinfacht ausgedrückt – die Möglichkeit alles was ist auch anders zu sehen; dass jede Geschichte – bis zurück zu Adam und Eva – auch andere Gesichter haben kann, anders hätte verlaufen können.
Dieser hintergründige Humor ist eine wesentliche Qualität ihres Werkes, das ernst – sehr ernst – gemeint ist, aber das Lachen und stets auch die Erotik immer mitnimmt.
Ein Hauptwerk der Ausstellung sind die «Mandela Balls» – aus tausend Abfallmaterialien (Abfall mehrdeutig gedacht) zusammengesetzte und mit Glanz und Glimmer liebevoll veredelte Opfergaben für Nelson Mandela, der Afrika nicht nur von der Apartheid befreit, sondern mit seiner christlichen Haltung auch gewaltfrei in eine Demokratie umzuwandeln vermochte (dass auch er zwischendurch strauchelte ändert nichts daran).
Für Tracy Rose’s Werk heisst dies, sie schreit und lacht und tanzt nicht einfach, sie will auch Mandelas Geist in ihrem Werk sehen. Ein Video z.B. zeigt eine nackte dunkelhäutige Afrikanerin vor einer Wand, auf der die Namen vieler, die für die Freiheit der «Colored people» beigetragen haben, aufgepinselt sind.
Mit ihren vielen Auslandaufenthalten (Residencies) ist das Schaffen von Tracy Rose weltumspannender geworden, ist aber auch nicht gefeit vor Wiederholungen in neuen Kleidern. Aber summa summarum: Es hat sich gelohnt, «Arbeit» zu leisten und mein Denken ist um eine inspirierende Facette reicher geworden. Danke!
«Rewilding»– Kunsthaus Baselland – Dreispitz Kunstcampus Basel/Münchenstein April 2024
Rundum gelungen. Gratulation an Ines Goldbach und ihr Team. Die Eröffnungs-ausstellung «Rewilding» im neuen Kunsthaus Baselland im Basler/Münchensteiner Dreispitz Kunstcampus ist ein Highlight. Zum einen durch die Qualität der gezeigten Werke/Installationen von rund 30 Kunstschaffenden aus der Schweiz und aller Welt , zum anderen essentiell durch die Thematik des «Rewilding» respektive wie diese auf vielfältigste Weise zu einem Rund geführt wird.
Der Titel bezieht sich auf ein Buch der britischen Autoren Paul Jepson&Cain Blythe, die darauf hinweisen wie mit kreativen ökologischen aber auch sozialen Ansätzen Positives für Umwelt und Gesellschaft erreicht werden kann. Es ist somit keine apokalyptische Ausstellung (wie so viele aktuell), sondern eine mit den Mitteln der bildenden Kunst eindringlich auf zukunftsversprechende Möglichkeiten hinweisende. Das ist enorm bereichernd, umsomehr als der Zeithorizont der Werke bis 1981 zurückreicht und ebenso auf Umwelt- wie Gesellschaftsthemen fokussiert.
Da sind – als vermutlich älteste Werke – drei analoge Schwarz-Weiss-Fotos von Anna Maria Maiolino (*1942 Italien), die sie selbst (?) zeigen wie sie auf einem verwitterten Steinplattenboden behutsam durch ein Geviert von rhythmisch ausgelegten Eiern geht. BILD – Da ist (auch noch aus den 80ern) das bekannte Video von Anna Winteler (*1954 Basel) «Horizontal Waltz for Left and Right», das auf die wichtigen Anfänge des Feminismus in der Schweiz hinweist.
Es gibt aber auch witzig-politische Arbeiten wie z.B. die auf farbigen Satinstoff gedruckten Bänder der amerikanischen Gender-Aktivistin Andrea Bowers (*1965), die Aufschriften wie «My body is not your business» oder «Dismantel Patriarchy» tragen und einem dichten Vorhang gleich zwei Wände bedecken.
Berührt hat mich der naturpoetische «Altar des Prekären» von Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger (*1967/1964), der mit tausend kleinen Dingen aus jedwelchem Lebens- und Naturbereich ein Netz von Zuneigung zu Non-Valeurs spinnt, zu einem «musikalischen» Gedicht verwebt. Zum gleichen Kapital gehören auch die in den Wind geschriebenen («Draw on the wind»), im Raum hängenden Zeichnungen der von mir seit langem verehrten Amerikanerin Joan Jonas (*1936).
Irritiert haben mich die Zeichnungen von Danielle Goliath, die sie als Manifest für die erstarkenden Frauen in Südafrika sieht. Mir fiel indes auf, dass alle Porträts auf einem Auge blind zu sein scheinen, was eine ganz andere, wesentlich kritischere Interpretation suggeriert, sind wir doch alle bezüglich des Zustandes des Planeten Erde mindestens auf einem Auge blind!
Nicht unerwähnt bleiben darf die Installation «Melody of Certain Damage* von Naama Tsabar (*1982), die teilweise zerstörte Saiteninstrumente so auf einem Holzboden verspannt zeigt, dass die Besuchenden sie zum Klingen bringen können. Es sollen Töne der Versöhnung sein in Zeiten von Krieg und Gewalt, was angesichts einer in Israel geborenen, in New York lebenden Künstlerin besondere Emotionalität weckt. BILD
JA, es sind überwiegend Künstlerinnen, welche Ines Goldbach eingeladen hat. Obwohl das vielleicht mit ein Grund ist, warum mir die Ausstellung so gefällt, mag ich das eigentlich nicht. Analytisch betrachtet fehlen denn auch die von Männern häufig pointiert formulierten konzeptionellen Ansätze. Schade, denn zweifellos gäbe es wichtige männliche Positionen, die etwas zum Thema zu sagen haben.
Bieler Fototage – Diverse Standorte in Biel/Bienne – Mai 2024
Wow; das war eine gute Idee: An der von Sarah Girod (Direktorin der Bieler Fototage) und den beteiligten Fotograf*innen angesagten Führung vom 4. Mai teilzunehmen. Hatte ich im Vorfeld eine selektive Auswahl unter den 23 Ausstellun-gen an 11 Orten in der Stadt erwartet, so täuschte ich mich. Sarah Girod zog mit uns durch (fast) die ganze Stadt: 2 3/4 Stunden! (Ganz schön anstrengend für eine alte Dame wie mich!). Sie und die zahlreich präsenten Fotograf*innen respektive der Kuratorinnen beteiligter Institutionen (z.B. Mulhouse, Le Locle, Espace libre) machten das indes so informativ und bereichernd, dass (fast) die ganz Gruppe bis zum Schluss mit dabei war. Das ist ein Kompliment! – Thema der Bieler Fototage (bis 26. Mai): «Commonplaces» – was am ehesten mit Alltag oder mit täglich Gegebenem gleichsetzen kann, wobei man die Thematik schon da und dort etwas an den Haaren herbeiziehen muss. Sei’s denn, wenn die Position überzeugt.
Ich greife heraus: z.B. den «Big Fish» – eine hervorragende Recherchearbeit von Laurence Kubski (*1986 Lausanne) zum Thema Zierfische, die meist aus Indonesien in unsere Aquarien kommen (wobei nur rund ¼ der Fische die Reise überlebt). Überzeugend ist, dass Kubski im «Grenier» der Couronne eine Auswahl zeigt, die ihre eigene Mischung aus Faszination und kritischem Blick spiegelt und neuerdings auch den Handel mit Medusen miteinbezieht. BILD
Oder: Pedro Rodriguez aus Saas Fee, der sich auf ernsthafte, aber betont visuelle, sogar humoristische Weise mit dem Perma-Frost und der Gefahr von Steinschlägen befasst. Sei es, dass er lose Steine zusammenbindet oder das Krachen fallender Steine hörbar macht.
Oder: Rebecca Bowring (CH/GB), die den Alltag von Menschen in der Bieler Altersresidenz Au Lac einfängt, visuell und in Zitaten, darunter dieses der 96-Jährigen Heidi: «Il faut mourir la nuit, le jour on pourrait encore apprendre des choses».
Oder als einzige betont konzeptuelle Position: Die (den Bieler*innen nicht unbekannte) Arbeit des Künstlerpaares F&D Cartier, die im Kern nichts anderes zeigen als belichtetes Fotopapier, das je nach chemischer Beschaffenheit verschiedene Farbtöne generiert und so zu chromatischen, «invisible photographs» werden.
Ausgesprochen spannend fand ich auch die Arbeit von Alice Pallot (FR/BE), die mir mit technisch zwar nicht begreiflichen, aber verführerisch schönen, mikrokosmischen Aufnahmen auf die ökologisch bedrohliche Verbreitung giftiger Grünalgen (hier in der Bretagne) auseinandersetzt und dokumentarische Aspekte fiktional in Vorstellungen einer Welt ohne Sauerstoff vorantreibt. – In klar dokumentarischen, aber kompositorisch eindrücklichen Bildern macht auch der Marrokaner M’hammed Kilito auf ökologische Gefahren aufmerksam, indem er die wachsenden Dürre-Regionen Nordafrikas visualisiert.
In einem herkömmlicheren Sinn gefallen haben mir die bewusst lapidaren «Studioaufnahmen» von Dingen und Tieren im Bericht von Nina Ferrer-Gleize (FR) auf dem (veralteten) Bauernhof ihres Onkels in Frankreich. – Etwas mager erlebte ich hingegen die Installation der Bernerin Nina Rieben im Espace libre, indem die angekündigten künstlichen «Tartines» mit eingeritzten Sinnsprüchen auf drei nicht lesbare Beispiele reduziert sind und auch die «falschen Monde» nur gerade in einem einzigen Beispiel aufscheinen.
Weil ich trotz positivem Gesamterlebnis, kritische Momente nicht unter den Tisch wischen will, erlaube ich mir die Bemerkung, dass es eigentlich Ziel der Bieler Fototage sein müsste, die (allzu) frankophone Optik mit einigen Deutschschweizer Beispielen zu ergänzen! (Aber das war/ist in der bald 30jährigen Geschichte der Fototage schon immer so!).
«Der eilige Geist kommt zur Ruhe» – Steiner/Lenzlinger – Klosterkirche Schönthal Mai 2024
Pfingsten schien mir ein geeigneter Tag für den Besuch von «Der eilige Geist kommt zur Ruhe», der Totalinstallation des Künstlerpaares Steiner/Lenzlinger im Kloster Schönthal im basellandschaftlichen Jura. Im Kopf hatte ich wunderbar-filigrane Installationen von Steiner/Lenzlinger, bis zurück zur Kirche San Staë an der Biennale in Venedig 2003. Im Kopf hatte ich auch eindrückliche Installationen in der einst Mönchen als Kirche dienenden Schönthaler Klosterkirche, zum Beispiel von Andrea Wolfensberger 2021. Jetzt war ich enttäuscht und liege damit falsch. Die mit Andachtsorten am Wegrand inszenierte Pilgerreise ist nicht als Kunstinstallation des Künstlerpaars im engeren Sinn gedacht, sondern als ganzheitliche Manifestation der Bevölkerung des Thals, ihrer bäuerlichen Traditionen, ihrer Geschichte und des darin enthaltenen Lebens bis zur Hühnersuppe und zur Vielfalt des geteilten Brotes. Steiner/Lenzlinger spielen in diesem Landschafts- und Lebens-Theater gleichsam die Regisseure und bringen ihre Arbeitsweise in die Gestaltung der «Altare» mit hinein.
Da gibt es einen Altar für die Schweine, einen Wasser-Altar mit Krokodilen, einen Eier-Altar, einen Salzaltar und zentral einen raumgreifenden Brot-Altar samt Pilger-Backofen zum sich selbst schmoren zu lassen. Dazu eine Vielzahl von Devotionalien-Altärchen und kleinen Andachtsstationen (für Mäuse z.B.) sowie netten Videofilmchen (darunter eines mit dem Titel «Flügel für die Vögel»).
Das alles gefällt einer breiten Besucherschaft mitsamt Kindern. Das ist alles absolut positiv. Aber ich stand da in dieser Kirche und wartete vergeblich, dass sich der «eilige Geist» in einen «heiligen Geist» verwandle und ich ergriffen werde von einer Spur spirituellen Gefühls. Ich sei eine «verkopfte», eine «kunst-elitäre», wirft man mir wohl aufgrund dieser Einschätzung vor. Ja, richtig. Eine Einzelgängerin auch, die gerne mit der Kunst und sich selbst ihre ureigenen Denk-Universen aufbaut. Eine aussterbende Spezies, ich weiss, werde ja schliesslich 77 dieses Jahr. Pilger-Feste mit Saus und Braus sind mir eher fremd und so gehe ich etwas niedergeschlagen den nicht sehr angenehmen 20-Mintuten-Weg auf der Strasse zurück nach Langenbruck, nehme dort (nach einem Gelati im Selbstbedienungskiosk) das Postauto nach Balsthal und von da den Zug nach Oensingen und dann die SBB zurück ins Bieler Seeland.
Die Art Unlimited an der Art Basel Juni 2024
Die ART Basel 2024 ist Geschichte. Noch nie war das Angebot an Messen, Ausstellungen, Events so gross wie heuer. Ein Overkill. Mein Highlight:
Die Art Unlimited:
In den letzten Jahren wurde die Kunstmesse immer zeitgenössischer und mit ihr auch die Art Unlimited. Jetzt eine Kehrtwende. Vertreten sind Künstler*innen, die zwischen 1929 und 1992 geboren wurden und somit das gesamte Spektrum der Kunst seit den 1960er (selten 1950er-)-Jahren. Und dies so hochkarätig wie – so meine ich – noch nie. Gerade was die Kunstgeschichte anbetrifft, reiht sich zum Teil Ikone an Ikone. Ich denke da z.B an die Serie von qualitativ erstklassig reproduzierten Beispielen von Robert Franks «Americans» aus den 1950er-Jahren oder an den «Survival»-Kreis mit Stein-Bänken von Jenny Holzer (1989), in die eindringlich emotionale Sätze eingraviert sind wie z.B. «Go and see where people sleep and look if they are safe» ( (leider fotografisch kaum lesbar). Und ebenso die zum Raum gefügten Metallplatten des amerikanischen Minimal Art-Pioniers Donald Judd von 1970. BILD: Mario Cerola *1938 – Progetto per la pace 1968.
Erstmals hat der Schweizer Kunsthistoriker Giovanni Carmine (bekannt als Leiter der Kunsthalle St. Gallen) die ART Unlimited kuratiert. Mir scheint, noch nie sei eine lenkende Hand so deutlich sichtbar geworden wie heuer. Früher war die Art Unlimited eine Ansammlung von grossformatigen Werken, Installationen und vor allem auch Videos, welche finanziell potente Galerien nach ihrem Gusto zusätzlich zum Kunstgut in ihren Ständen zeigen wollten. Jetzt spürt man eine bewusst ansteuerte Vielfalt, hervorgegangen aus Diskussionen des Kurators mit den interessierten Galerien wie Goodman, Gladstone, Gagosian, Hyundai, konradfischer, Hauser&Wirth, Presenhuber usw., aber auch international weniger bekannten Kunstmarkt-Häusern, darunter auch die Galerie Linder aus Basel, die das eindrückliche Mehr-Kanal-Video «Flowers 4» der Schweizer Künstlerin Ursula Palla zeigt – Bilder einer Fabrik in Holland, in welcher Blumen in Pigment-Bädern farblich gesteigert werden.
Noch immer ist ART Unlimited keine Ausstellung, sondern eine Ansammlung von besonders hohen (z.B. die vertikal verschränkten, rot lackierten Autobahn-Leitplanken von Bettina Pousttchi (*1971 in Mainz) oder besonders breiten Werken wie z.B. das geradezu mittelalterlich wirkende Erzähl-Epos der kanadischen Künstlerin Dominique Fung (* 1987) mit stolzen 26.87 Metern. Oder betont installativen Werken, wie das mit einer Dauer-Performance gezeigte «Manifest» wider die Privatisierung von Wasser in Chile durch Seba Qualfucueo (* 1991 Santiago de Chile). BILD Es ist auch ganz klar, dass der Veranstaltung politische Grenzen gesetzt sind! Transparente mit Slogans wie «Free Palestine» fehlen selbstverständlich!
Dennoch: Giovanni Carmine ist es gelungen, heute relevante Themen – insbesondere Krieg und Frieden – einzubringen; aufzuzeigen, dass auch kritische Themen in visuell verführerische und damit kunstmarktrelevante Arbeiten eingebracht werden können. Als Beispiel: Die mit Bäumen aus Armierungseisen in eine Steinwüste gebaute «Landschaft» von Kader Attila (*1971 Frankreich) mit dem Titel «The Endless Rhizomes of Revolution» (2016). Oder das an Absurdität grenzende Video von Ali Cherri (*1976 Beirut, lebt in Paris), in welchem formal ein Wachturm im Niemandsland im Vordergrund steht, emotional aber durch den Soldaten im Dienst berührt, der für einen kleinen toten Vogel ein Grab in eine Felsmauer schlägt. Zur Installation wird das Video durch überdimensionierte Wachmänner aus hartgepresstem Schlamm.
Zu den nachhaltigsten Werken gehört zweifellos das konstruktiv angelegte , quadratische Feld von 365 Holzstangen mit weissen Wimpeln und dem eindringlichen Titel «Progetto per la pace» von 1968 (!) des mir bisher unbekannten Italieners Mario Ceroli (*1938). Siehe Bild. Direkt hinter dem Eingang platziert wird es gleichsam zum Aufruf, die ART Unlimited 2024 unter diesem Aspekt zu bedenken.
Es ist nicht nur die ART Unlimited, die das Generationenfeld weitet, auch an der Messe findet man zahlreiche «Kabinette» innerhalb der Stände, die mit kunstgeschichtlichen «Entdeckungen» aufwarten. Bei Foksal/Warschau habe ich z.B. ein Bild mit dem Titel «Fire Fountain» von 1977 der 1913 in Liviv geborenen und 2004 in Warschau verstorbenen, jüdischen Künstlerin Erna Rosenstein entdeckt.
Olga Titus – Kunstmuseum Kanton Thurgau – Kartause Ittingen – August 2024
Es ist wieder einmal so. Da besucht man ein Museum, wo gleichzeitig zwei Ausstellungen stattfinden. Wegen der einen reiste man hin, aber gepackt hat einem schliesslich insbesondere die zweite.
Konkret: An einem klimatisch wunderbar angenehmen Tag war ich kürzlich wieder einmal in der Kartause Ittingen. Ein wunderbarer Ort!! Die Retrospektive Eva Wipf (1929-1978) wollte ich nicht verpassen, wollte wissen wie sich das Werk gut 45 Jahre nach ihrem Tod verselbständigt hat. Damals standen wir alle im Bann ihrer Biographie und waren erschüttert. Konnte sich das leidvolle Werk inzwischen davon ablösen? Über die Antwort darauf muss ich noch etwas mehr nachdenken.
ABER: Die Ausstellung von Olga Titus (*1977) im oberen Gewölbekeller hat mich restlos eingesaugt. Ich habe in den letzten Jahren mehrere Ausstellungen von und mit Werken der schweizerisch-indischen Künstlerin gesehen. Aber diese ist die mit Abstand beste.
Sie weitet die Welt der schillernden Paillettenbilder in ein zugleich physisches, skulpturales wie digital-bewegtes Universum. Diese Gleichzeitigkeit von materieller Präsenz und virtuell wirkender Dreidimensionalität ist einzigartig.
Die Vielfalt der medialen Aufbereitung macht den Begriff ihres Ateliers als Labor für visuelle Erscheinungsweisen nachvollziehbar.
Motivisch ist es eine fiktionale Naturlandschaft, in der alles vielfarbig fliesst, in der man sich in einem Zustand des Fliegens fühlt ohne das Bedürfnis nach Halt zu haben.
Nun stellt sich bei technischen Wunderwelten ja oft die Frage, ob sie sich in ihren «special effects» erschöpfen und eine künstlerische Denkweise, die darüber hinaus führt, letztlich fehlt. Das ist hier eindeutig nicht der Fall. Zum einen weil die experimentelle Suche der Künstlerin nach immer neuen Bild-Erscheinungs-Welten so intensiv spürbar ist. Zum andern weil die Gleichzeitigkeit von Körperlichkeit undVirtualität DAS zentrale Thema unserer Zeit ist.
Speziell in der tempelartigen Raum-Installation mit Tapetendrucken und sich durch bewegtes farbiges Licht verändernden Glas-Flächen darauf, hat man den seltenen Eindruck Virtuelles greifen zu können und zwar nicht mit einer 3D Brille, sondern mit den eigenen Füssen.
Zu den herausragenden Werken zählen auch die neuen Lentikulardrucke, die sich mit der Lichteinwirkung im Vorbeigehen verändern und durch Video-Einsprengsel zusätzlich in ständiger Bewegung sind. Sie erinnern mich von Ferne an barocke Porträts, die sich von einer Person in eine andere wandeln je nachdem ob man von links oder von rechts schaut oder, auf noch stärker physischer Ebene, an Markus Rätz’ Mickey Mouse. Doch hier ist alles übersetzt in unsere heutige, faszinierende Lichtwelt.
Auf der Galerie werden Videos von Olga Titus gezeigt. Dass sich hier mit heutigen Software-Programmen bildlich alles in alles verwandeln lässt, ist uns bereits so vertraut, dass sie – erstaunlich – nicht mehr überraschen und wir uns gerne wieder dem Zauber ihrer Pailletten – auch sie sind markant vertreten – zuwenden.
Das Tafelklavier aus der Werkstatt Hählen (1787) in Bern zurück in Twann
Vor 250 Jahren bauten die Gebrüder Hählen in ihrer Werkstatt in Bern Cembali und Tafelklaviere. Die wachsende Bürger-Gesellschaft des 18. Jahrhunderts eignete sich an, was bisher der Aristokratie vorbehalten war, z.B. Hauskonzerte.
1787 kaufte mein Ur-,Ur-,Urgrossvater Conrad Sigmund Irlet – Reb-Schaffner der Landvogtei Münchenbuchsee in Twann bei einer gewissen Jungfer Meley in ein solches Tafelklavier. Für 10 Louis d’ors – wie er in seinem Journal festhält.
Als das Buchsee-Haus 1834 dem Strassenbau weichen musste, zügelte das kleine Pianoforte mitsamt Familie ins bereits 1804 als Ersatz erworbene Fraubrunnenhaus an der Dorfgasse in Twann. Um 1926 ging es mit einer Grosstante nach Bern und danach zu deren Nachkommen nach Zürich.
Seit langem «spanyfelte» ich darauf, es irgendwann heim zu holen. Ende 2022 glückte eine Vereinbarung, wonach es wieder ins Fraubrunnenhaus kommt, nachdem es von einem Spezialisten für alte Instrumente restauriert worden ist. Es war eine aufwändige Geschichte; monatelang tüftelte Mirko Weiss (Trubschachen) an dem von Altersgebresten gezeichneten Instrument. So manches musste ersetzt werden.
Und jetzt ist es da! – Dass es gemäss der aktuellen Musikwissenschaft nur noch 7 solcher Hählen-Klaviere gibt, dass unseres zur Zeit das einzig spielbare ist….von all dem hatte ich keine Ahnung zuvor. Für mich war es ein familiengeschichtliches Coup de coeur… und ist es immer noch, einfach mit mehreren Surplus!
Mitte September werden kleine Konzerte mit sämtlichen Nachkommen von Sigmund Conrad Irlet stattfinden. Bereits ist die Pianistin Karin Schneider (Biel/Ligerz) am üben. Denn so einfach ist der Wechsel von den heutigen Klavieren zurück zum allersten Klavier, das nach dem Hämmerchen-Prinzip funktioniert und nur 41/2 Oktaven hat, nicht.
Isabelle Krieg – Kunsthaus Uri/Altdorf – September 2024
Retrospektiven von Künstler*innen, die mitten im Leben stehen und nicht selten in wichtigen Ausstellungen präsent sind, tragen die Gefahr in sich, dass Insider enttäuscht reagieren, weil sie viele Arbeiten – logischerweise – schon kennen. Das trifft auf die Ausstellung von Isabelle Krieg (*1971) im Kunsthaus Uri durchaus zu, ABER eigenartigerweise kommt die zwiespältige déjà-vu-Regung nicht auf; ich juble fast, dass eine der potenziert weiblichen, weissen «Milchstrassen» aus Polyurethan-Schaum von 2005 überlebt hat und nun den chronologischen Anfang der Ausstellung bildet. Und die Freude vervielfacht sich angesichts der auf dem Flachdach des Museums-Anbaus dargebotenen Performance «Überfluss», denn jetzt spritzt die «Milchstrasse» als göttliches Quell-Wasser aus den Brüsten der Künstlerin und fängt so den Zeitbogen der Ausstellung eindrücklich ein.
Warum keine negative Reaktion? – Ich vermute zwei Gründe: Zum einen die Emotionalität, die allen Arbeiten innewohnt und die ich gerne wieder spüre und zum andern die Vertrautheit mit den verwendeten Materialien und «Bildern», die auch zu meinem Alltag gehören.
Aber halt! Das tönt nun möglicherweise banal und schrammt vereinzelt vielleicht auch die Grenze dazu. Darum gilt es die Kipp-Momente gut zu beobachten. Die «Milchstrassenstücke» von 2005 entstanden nach der ersten Feminismuswelle, mitten in der Backlash-Situation der Nuller-Jahre und waren ein wunderbar ironisches Bild dafür. «Überfluss» kann durch den Titel der Performance auf verschiedenste Weise gelesen werden – von humorvoll bis hin zu beschämend.
Eine besonders starke Arbeit ist «Unerledigt» – einzelne oder gestapelte Kaffeetassen, in welche die Künstlerin mit den Resten ihres morgendlichen Kakaos in (auf den ersten Blick erkennbare!) Gesichter zeichnete und so ihre Gedanken zum emotional belastenden Weltgeschehen als eine Art Seufzer, selten auch ein Schimmer von Hoffnung dem Abwasch (oder eben, der Kunst) hinterlässt.
Ich habe die Arbeit erstmals 2019 in Solothurn gesehen, jetzt ist sie – wie die Tasse von Kamilla Harris zeigt – à jour geführt und erfährt dadurch eine Steigerung.
Dass der Tisch die Masse jener überdimensionierten «Plattform» entspricht, an welcher Wladimir Putin seine Botschaften an die Nation zelebriert, ist ein Surplus, aber nicht mehr. Nicht alle Arbeiten haben dieselbe Intensität!
Eines der neuesten Werke ist das «Tent of Hope», das aus einer Vielzahl von kleinen Glimmerplättchen genäht ist und die Form eines Ziegeldaches hat. Sie zeigt einerseits einen höheren Abstraktionsgrad als frühere Arbeiten, was keineswegs negativ ist, betont andererseits das Kollektive, das man auch anderswo in ihrem Schaffen findet und das der Titel der Ausstellung «Active Hope» wohl meint. Nämlich den gemeinsamen Widerstand gegen bedrohende Entwicklungen, welcher Art sie auch seien.
Ein Besuch lohnt sich, auch wenn für viele Altdorf nicht gerade vor der Haustüre ist. Und wenn dabei der Wilhelm Tell vom Hauptplatz herüber winkt, so ist die Symbolik durchaus geschichtsträchtig!
Barni Kiener – Privates Aussenprojekt – Fraubrunnenhaus Twann September 2024
Manchmal hat man eine verrückte Idee; im Fall von Barni Kiener wurde sie Realität. Der Berner Künstler befasst sich u.a. mit Flugobjekten, Schiffen und SITZBÄNKEN, mal zwei-, mal dreidimensional. Diese erscheinen nicht statisch korrekt, sondern wie lebendige Wesen, die sich drehen und wenden. – Als ich sein vielfach durchbrochenes, grünes Bank-Relief sah und nicht wusste ob ich mich von vorne oder hinten darauf «setzen» soll, machte es click: Das wäre doch die ideale Erweiterung meines Terrassen-Mobiliars! Umso mehr als es da eine freie, gelbe Mauer gibt.
Es dauerte dann noch eine Weile, der Künstler drehte und wendete sein «Bänkli» und fertigte für mich schliesslich ein wunderbar zu den alten (unlängst renovierten) Stühlen und der Wandbank passendes aus wetterfestem Oukumé-Sperrholz und mit Leinölfarbe moosgrün gestrichenes an. Unlängst haben wir es montiert und freuten uns darüber…
Jerry Haenggli – «Art Etage» Biel/Bienne – November 2024
Gestern ging mir ein Satz von Jerry Haenggli (*1970) zu seiner Malweise so unter die Haut, dass ich ihn notieren muss, damit er sich nicht zu schnell verflüchtigt. Wir standen zu dritt vor dem hier zu sehenden Bild in der „Art Etage“ in Biel und rätselten in welchen Kontext das Bild zu stellen sei. Düster, fremd, bedrückend waren schon mal klar, aber was war unter dem Titel „Rencontre“ zu verstehen? Kommunikation war nicht erkennbar.
Immer noch die sich um verstehen bemühende Kunstkritikerin, hielt ich den vorbei eilenden Künstler am Ärmel zurück und fragte ihn, ob er uns den Einstieg in sein Bilddenken erleichtern könne, wir kämen nicht weiter. Die Figuren begegneten sich im Bild zwar, so sagte er u.a., aber alle stünden nur für sich selbst und er beobachte im Malprozess wie sie sich entwickelten. Und dann: „Sobald ich merke, dass die Figuren mehr wissen als ich selbst von ihnen weiss, höre ich auf und lasse sie so stehen.“ Das heisst der Künstler gleicht seine Vorstellung nicht mehr mit dem Bild ab, sondern gewährt ihm selbst Gestaltungskraft. Das ist bemerkenswert.
Gleichzeitig berührt und bedrückt mich die Vereinzelung, das aneinander vorbei leben der Figuren im Bild. – Aber gerade das ist letztlich wohl die innere Kraft dieses und anderer Bilder in der aktuellen Ausstellung. (Mitaussteller: Nicolas Bernière * 1970 Paris/Bern)
Thalassa – Musée des Beaux Arts – Lausanne Dezember 2024
Immer mal wieder nehme ich mir vor, nicht jede Ausstellung, die ich besuche fotografisch zu dokumentieren, zumal wenn mich das Thema nicht brennend interessiert. So z.B. bei «Thalassa», Vorstellungswelten des Meeres» im MBA in Lausanne. Die romantisierenden Werke aus dem 19. Jahrhundert gaben meiner subjektiven Erwartung recht. Doch als ich dann bei den Crochet Coral Reefs der Geschwister Wertheimer (fast eine Ausstellung in der Ausstellung) ankam (vlg. Biennale Venedig 2019) konnte auch ich (wie alle Mitbesuchenden zur selben Zeit) nicht umhin, die Handy-Kamera zu zücken. Die im Kollektiv mit einer Vielzahl von Mitwirkenden fabrizierten und von Margaret und Christine Wertheimer arrangierten Häkel-Installationen sind zu grossartig, um nicht als Freude-Moment bildlich festgehalten zu werden. Natürlich kommen einem die Medienberichte zum Sterben der Korallen-Riffs in den Weltmeeren in den Sinn, aber das schürt nur die emotionale Reaktion auf die Crochet Coral Reefs.
Überhaupt ist die Gegenwarts-Abteilung der nicht allzu grossen Ausstellung nachhaltig. Wer könnte Miriam Cahns Ölbild von Mutter und Kind, die im Meer versinken (2021) einfach als «gesehen» abhaken…? Oder sich François Burlands «Cartographies des merveilles», mit roter Tinte auf Packpapier gezeichneter «Erzählungen» übers Meer eingereister Migrantinnen entziehen; das Paradox, dass sie den Künstler an die Märchenerzählungen aus seiner Kindheit erinnern, nachvollziehen.
Last but not least ist da auch die riesige, ephemere Installation von Sandrine Pelletier (ein Auftragswerk für die Ausstellung) zu bewundern. BILD Die teils in Aegypten lebende Waadtländerin hat das grosse Rundfenster des MBA mit Spiegelfolie beklebt und mit einem Bunsenbrenner traktiert, sodass die Folie in Partikel zerfiel und jetzt sowohl Assoziationen an das Schillernde von Meeres-Oberflächen wie auch an (giftige?) Sedimente auslöst.
Dass die Ausstellung international – national – regional bestückt ist, gefällt mir.