Georgette Maag Artist in Residence – Stipendium der Amici di Sciaredo Herbst 2025
Es ist alles schon da!
Man müsse nichts erfinden, es sei alles schon da! sagt die Zürcher Videokünstlerin und Fotografin Georgette Maag (*1955) sinngemäss. Es reicht eine kleine Schnecke, die den Rand eines Einmachglases umrundet, um die Welt zu vermessen (Video 2023).
Der Unterschied zu den meisten Menschen ist, dass sie das Naheliegende, das Spannende im Hier und Jetzt SIEHT, das visuelle Potenzial eines wandernden Schattens in der Natur ebenso wie in der Stadt, die bildnerisch bereichernde Unschärfe in einem verwitterten Spiegel – ach, einfach überall – erkennt!
Die Wahrnehmung von Licht und Schatten, die Magie des sich rhythmisch, tänzerisch, musikalisch Bewegenden bilden den roten Faden des in den letzten 30 Jahren geschaffenen Oeuvres von Georgette Maag. Aber da ist auch ihr ungemein lebendiges Vernetzen von Erlebtem, in Werke Umgesetztem oder im Archiv Wartendem, das stetig nach Erneuerung und Veränderung ruft.
Sehr deutlich kommt das in einem während ihres zweiten Aufenthaltes in der Casa Sciaredo im Herbst 2025 geschaffenen Werk zum Ausdruck. 2012 war u.a. das Video «Basso continuo» entstanden, das die Künstlerin zeigt wie sie auf der Dachterrasse der Casa – mit der Morgensonne im Rücken – als Schatten in der haushohen Paulownia hin und her geht. Jetzt ist der wachstumsstarke Baum dem Tessiner Programm der Dezimierung nicht einheimischer Bäume zum Opfer gefallen und nicht mehr da – oder doch? Die Stockausschläge der Paulownia ennet dem Weg hinauf zum Haus überragen das Gestrüpp bereits deutlich. Mit Ausdauer beobachtet die Künstlerin das Licht der Morgensonne darin, den Schattenwurf des Hauses und entdeckt, dass die Dach-Terrasse westseitig im richtigen Moment Bühne für die Fortsetzung von «Basso continuo» sein könnte. Sie platziert die Videokamera im beobachteten Winkel hinter sich und wandert eine volle Stunde hin und her, ihr Schatten verschwindet in den Blättern, tritt wieder hervor, wird angehoben vom Aufstieg der Sonne, wird in der Palme zur rechten sichtbar und ist schliesslich ausserhalb des Bildes. Faszinierend! (Siehe Titelbild)
Wo nimmt sie die 60 Minuten Ausdauer her? Ach, das sei kein Problem, sagt sie lachend, wenn sie in einem Projekt drin sei, dann gebe es nichts anderes, sie zähle die Schritte, die Runden, achte auf den Rhythmus, sie singe… und schon drehen ihre Gedanken weiter, das nächste Mal wolle sie unbedingt die Kirchturm-Melodie integrieren! Man spürt das innere Feuer und freut sich. Ob das die Italianità ist, die sie von ihrer Tessiner Nonna geerbt hat?

Gut habe sie diese Arbeit gleich in der ersten Woche ihres Aufenthaltes gemacht, denn danach sei ein enormes Hagelwetter gekommen, das alles zerschlagen habe (die Medien berichteten davon). Allerdings – wie könnte es anders sein – begegnete sie dem damit verbundenen Starkregen nicht mit eingezogenem Kopf. Denn Fenster sind im weitesten Sinn ein wichtiges Requisit ihres Schaffens und so schaute sie gebannt auf die Perlen an den Atelier-Scheiben, die wie Kristalle das Licht spiegel-ten, beobachtete mit der Kamera wie sich die Sicht vernebelte, Nahes und Fernes in der Wahrnehmung zu geheimnisvollen Landschafts-Räumen wurden (Serie «Regenwald»).
Eine andere, früher schon begonnene, nun fortgesetzte Werkreihe greift ein ähnliches Phänomen ganz anders auf. Georgette Maag ist eine gewiefte Wanderin auf abgelegenen Pfaden. Deren gibt es rund um Sciaredo viele. Einer ihrer Fokusse: Verwitterte Verkehrsspiegel, die eigentlich unübersichtliche Kreuzungen sicherer machen sollten, die sich aber geradezu als «Landschaftsmaler» entpuppen. Sie irritieren zunächst durch die veränderte Perspektive, dann aber auch – aufgrund der Verwitterung – durch eine mehr und mehr verschwindende Sicht und werden schliesslich in Kombination mit der realen Umgebung zu einem Neugierde weckenden, poetischen «Fenster» in eine andere Welt.
Georgette Maag ist nicht einfach eine die Welt intuitiv betrachtende Wanderin in mannigfaltigen Bildern, sie vertieft ihre Gedanken auch gerne, zum Beispiel im Austausch mit der Wissenschaft. So liegt auf dem Büchertisch anlässlich der PORTA APERTA (der Besuchstag während Georgette Maags Residenz in der Casa Sciaredo) u.a. Jean-Henri Fabres legendäres Buch «Erinnerungen eines Insektenforschers». Nicht dass Insekten nun explizit zum Thema geworden wären, aber Fabres literarisch-philosophische Sichtweise finden wir im Sinne des Credos «es ist alles da, man muss nur schauen», auch bei ihr.
Es ist naheliegend, dass der Aufenthalt in Sciaredo den «Naturstrang» in ihrem Schaffen in den Vordergrund rückte. Er ist der Gegenpol zu ihrem ebenso dem Raum, der Architektur gewidmeten urbanen Schaffen. Das wundert nicht, sind doch Räume im Austausch mit der Sonne (dem Licht) geradezu ein El Dorado für Schattenspiele. Dabei geht es ihr aber nicht nur um das konstruktive Moment, sondern ebensosehr um uns, um unsere Körper, die in diesen Räumen wandeln, aus dem Fenster schauen oder durch ein Fenster hinein in einen anderen Raum. Durch alles hindurch drängt sich der Begriff der «Bewegung» im weitesten Sinn des Wortes. Auch das erstaunt nicht, wenn man zurückschaut auf die Jugendzeit der Künstlerin, die seltsamerweise in Texten zu ihrer Kunst kaum je erwähnt wird. Georgette Maag durchlief keine «offizielle» Kunstausbildung, geprägt haben sie einerseits die 3 Jahre an der in den 1980er-Jahren aktiven, selbstorganisierten Zürcher Schule für Ausdruck und Gestaltung, die als interdisziplinäres Labor bildnerisches Gestalten, Bewegungstheater, Tanz und Gesang pflegte. Die gelegentlichen, wunderbaren Einlagen als Jodlerin (an der PORTA APERTA von der Dachterasse der Casa direkt ins Universum!) erinnern daran. Wichtig waren andererseits aber auch die die folgenden 3 Jahre an der international ausgerichteten Freien Kunstakademie Basel. Die bildende Kunst wurde schliesslich zum Katalysator, als Malerei zunächst, dann als Zeichnung (die sie heute noch pflegt), als Fotografie…doch da fehlte einfach die Bewegung und so wagte sie sich schliesslich an die Videokamera und blieb dabei, je länger je souveräner, aber – auch das beeindruckt – stets allein, mit sich selbst, ihrer Bildvision und ihren Gedanken.
Annelise Zwez November 2025
