Joggi Dössegger (1920-1995) Ansprache 1991

Retrospektive Rathaus Aarau

www.annelisezwez.ch    – Vernissagerede von Annelise Zwez anlässlich der breiten Schau des Aarauer Outside-Künstlers und Stadtoriginals am Freitag, 29. November 1991

Sehr geehrte Damen und Herren

Bevor ich mich am Mittwochnachmittag (27. Nov. 1991) an den Computer setzte, um die kommenden Worte auf den Bildschirm zu bringen, befragte ich – wie oft – zunächst mein Archiv zum Thema Joggi Dössegger. Mich interessierte nicht nur, was ich selbst 1976 anlässlich der Ausstellung in der Stadtbibliothek Lenzburg, 1980 anlässlich der Ausstellung in der Galerie Lauffohr in Brugg und 1981 anlässlich der Foyer-Ausstellung im Aargauer Kunsthaus über Joggi Dössegger geschrieben hatte, sondern primär eine ganz konkrete lokal-kunstgeschichtliche Frage.

Ich erinnerte mich nämlich an ein Gespräch mit dem vor einigen Jahren verstorbenen Aargauer Maler  Werner Christen, in welchem dieser in etwas bitterem Ton behauptet hatte, er habe in den späten 50er Jahren die ersten ungegenständlichen Bilder im damals ( damals?) neuer Kunst gegenüber recht feindlich eingestellten Aargau gemalt. Dass Christen dabei Rudolf Urech-Seon vergass, sei ihm verziehen. Dass in Zofingen Heinrich Gisler  ebenfalls in den späten 50er Jahren rein geometrische Forschungen betrieb, konnte er nicht wissen, da es eigentlich erst die Sonderausstellung im Aargauer Kunsthaus vor drei Jahren zu Tage förderte.

Und dass vermutlich vor den beiden letztgenannten Joggi Dössegger zu nennen wäre, ahne auch ich erst seit meiner mit männlichem Schutz unternommenen Expedition ins pelzige Königreich des Künstlers vor einigen Wochen und weiss ich mit etwas mehr Sicherheit seit der genannten Befragung meines Archivs. Auch wenn ich den Aargau keineswegs mit der Welt verwechsle, so freut es mich doch, dass diese Ausstellung von Joggi Dössegger mit ihrem retrospektiven Charakter an der lokalen Kunstgeschichte kratzt.Ich will aus den ungegenständlichen Arbeiten Joggi Dösseggers von 1957/58 auch keine weltbewegenden Werke machen, aber sie zeigen mir doch klar, mit welcher Freiheit, mit welcher „Vision“ – ich brauche das Wort wenige Wochen nach Eröffnung der Ausstellung „Visionäre Schweiz“ im Zürcher Kunsthaus sehr bewusst – der zwischen 30 und 40 Jahre alte Joggi Dössegger schon in den 50er Jahren an die Kunst heranging.

Joggi Dössegger besuchte damals jeden Winter Mal- und Zeichenkurse bei Hans Eric Fischer, dessen Maxime nicht Doktrin war, sondern Förderung des Eigenen. Obwohl Joggi Dössegger Freizeit-Künstler  – Freizeit/Freiheit –  war, arbeitete er kontinuierlich. Dass ihm die Veranstalter dieser Ausstellung die geliebten Akt-Bilder – „man solle doch sehen, dass er hübsche Frauen gerne habe“ – aus der Auswahl katapultiert haben, möge er ihnen verzeihen. Die ungegenständlichen waren für ihre  und auch für meine Augen einfach die besseren, die ungewohnteren, die überraschenderen, die eigeneren.

Joggi Dössegger erweist sich vor allem in den gereifteren Informels der 60er Jahre als Maler auf der Höhe seiner Zeit. Komposition und Farbigkeit, Flächigkeit und lineare Leichtigkeit haben in den besten Arbeiten persönlichen Charakter und bilden die Basis für alle später entwickelten Zeichnungen und Bilder. Das Gerüsthafte, das mit Linien Strukturen Schaffende ist in diesen frühen Werken ebenso gegeben wie die Freude an satter Farbigkeit und die Fähigkeit, Farbe zum Klingen zu bringen.

Man vergleiche zum Beispiel die frühen, farbig-flächigen Arbeiten mit den analogen Grossformaten aus den 80er Jahren.Die 50er/60er Jahr-Bilder inhaltlich zu fassen ist schwierig – ich glaube nicht, dass das Wollen – mit Ausnahme der nicht anwesenden Akte – definiert war, auch wenn Städtisches und Landschaftliches anklingen mag. Befindlichkeiten, beeinflusst vom äusseren Geschehen und vom inneren Empfinden, führten ihn wohl zum einen oder anderen. Nur eines wusste und fühlte er wohl klar: Er wollte nicht malen wie die anderen,und gerade das erachten wir heute als Stärke.

Die Zeit hat Joggi Dössegger damals nicht ernst genommen – darum kennen wir diese Bilder auch nicht. Sie wurden nie ausgestellt. Und auch hier sind sie eigentlich nur aus zwei Gründen: Zum einen mag Joggi Dössegger heute begreiflicherweise nicht mehr so viel malen, also kramte er in Aelterem, brachte hervor, was er jahrzehntelang nicht brauchte, da immer genügend Neues da war.

Zum andern haben Thomas Widmer und ich bei unserem Besuch im Atelier anderweitige Beanspruchung Joggi Dösseggers blitzschnell genutzt, um  heimlich  – im Normalfall hat man nämlich zu tun, zu lassen, was der Meister befiehlt – stapelweise Herumliegendes zu sichten und das uns Ueberraschende – eben das, was sie unten sehen – herauszuziehen. Dass es dann im Atelier – und nochmals beim Hängen hier – viel Ueberredungskunst brauchte, bis es gehängt werden durfte, gehört mit zum Charakter des Künstlers. Ich traue ihm auch zu – und bin ihm deswegen ja nicht etwa böse – dass er uns prüfen wollte. Er tat nämlich etwas „Böses“ ( Zitat J.D.). Er hat fünf kleine Querformate aus den 60er Jahren, die uns besonders gefielen, an die Weihnachtsausstellung im Kunsthaus eingegeben. Und siehe da, sie fanden, massiver Razzia zum Trotz, Gnade bei der Jury. Damit haben wohl er und wir Punkte gewonnen.

In den 68er Jahren – Kultur-Aufbruchzeit im Aargau – arbeitet Joggi Dössegger viel. In dieser Zeit entstehen auch die ersten Städtezeichnungen. Sie sind noch klar als Aarauer Zeichnungen erkennbar, auch wenn in Joggi Dösseggers Stadtsichten Tempel, Säulen und Pyramiden durchaus auch darin Platz finden. Diese im Lauf der Zeit stark verdichteten Zeichnungen, die zu Recht gewichtigen Platz in dieser Ausstellung einnehmen, sind Joggi Dösseggers ureigenste Aeusserungen und auch das, was in Aarau allgemein bekannt ist.

Ab 1970 wird Joggi Dösseggers Kunst nämlich in gewissem Sinn öffentlich. Es findet die erste Einzelausstellung – in Ammerswil – statt und auch die Aufnahme in die Aargauer Weihnachtsausstellung glückt nun öfters. In den Zeitungsberichten, die über Ausstellungen Joggi Dösseggers erschienen sind, ist unentwegt von diesen „Wimmelbildern“, diesen dichten, städtischen Visionen – wieder dieses Wort – die Rede, aber niemand – so weit ich weiss – hat je versucht, wirklich in ein Bild einzusteigen.

Und so habe ich mir denn am Mittwochmorgen hier eine dieser Zeichnungen – Jahrzahl 1977 – herausgepickt und versucht, sie zu erwandern. Meine Wahl war nicht sehr gezielt –  ich nahm eine schwarz/weisse Zeichnung in der Hoffnung darin klarer zu sehen und eine nicht allzu grosse, um mich nicht zu verirren. Hören Sie, was mir dabei begegnete:

Zunächst nicht wissend, wo einzusteigen, entdeckte ich auf einem kleinen Platz eine Skulptur. Das sollte zu mir passen, dachte ich. Es war zu meinem Erstaunen eine sehr eigenständige Eisenskulptur mit einer klaren Wirbelsäule,in mehrere Richtungen weisenden Armen

und sieben, teils befestigten, teils schwebenden Kugeln. Aus den Armen Geschütze zu machen und aus den Kugeln Kanonen wäre wohl  Bestätigung eines Vorurteils. Mir war wohl auf dem kleinen Platz mit der konstruktiven Plastik; eine zweite war auch noch da – vielleicht der erste Entwurf. Wo sollte ich nun weiter. Ueber die Mauer hinunter  – nein, da hatte es zu viele Zacken – oder waren sie nur ein geometrisches Bild? Wie dem auch sei, da wollte ich nicht weiter, denn der unten liegende Teich – eine Badi? – mit den vielen Phalli, löste komische Gefühle aus.

Also kletterte ich über die Höhenkurven hinter dem Skulpturenplatz hinauf, hinunter und wieder hinauf, hielt mich an einer neuen Stangenplastik fest und schwang mich auf die Treppe dahinter. Oben angelangt, stand ich vor dem Eingang zu einem Tunnel. Zeichen und Malernotizen definierten den Ort. Rennend und johlend – neugierig und beklommen eilte ich durch den Tunnel und war glücklich, hinten wieder Licht und eine Treppe zu sehen. Eine massiver Palisaden-Zaun – heute würde man sagen eine Lärmschutzwand –  versperrte mir die Aussicht.

So blieb nichts anderes als wieder zu klettern – gut, dass das nur im Bild war. Auf dem Aussichtsturm war nun Rundblick möglich und ähnlich wie auf dem Eifelturm sah ich unendlich viel und nichts zugleich,denn alles war dicht ineinander verschachtelt. Ich musste mich konzentrieren, um über eckige und kuppelige Häuser, Wände, Hinterhöfe und Tunnels bis hinunter zur Erholzone  – wieder mit einem kleinen See  – zu sehen.

Von irgendwoher platschte eine Kugel ins Wasser, es spritzte. Von Ferne sah ich eine Riesenwelle den Abhang gegenüber hinuntergleiten, durch den Teich schwingen und an der Stadtmauer zurückschwappen. Ich war weit genug weg, sodass mir nichts passierte. Ich kletterte nun jedoch wieder ein Stück hinunter, ging dem Haifisch-Zahn-Weg entlang, trat durch ein rundes Tor in ein Haus, fuhr mit dem Lift in den 1. Stock und stand dann vor dem Licht-Spiel-Theater.

Gegenüber wieder Aussicht, auf einen Käfig mit Geier-Vögeln zum Beispiel. Ob’s wirklich ein Käfig war oder ob die Vögel freiwillig da geierten, war nicht so klar auszumachen. Gleich nebenan sah ich zwischen zwei Häuserschluchten hindurch die Haifisch-Bar mit ihren Zeichen-Reklamen. Bar – ich? Nein, lieber nicht,so allein.

So wandte ich mich einer charmanten Bikini-Dame zu, die mir den Weg in eine eigenartige, nach oben geöffnete Wanne zeigte. Geheimnisvoll. Plötzlich überkam mich ein Gähnen – eine Stadt – pardon, ein Bild von Joggi Dössegger – ist nicht in einem Tag zu erwandern. Gut so. Vielleicht beginnen Sie ihren Rundgang nach meiner Rede in den Stadtalpen, ruhen sich dann im gestreiften Haus à la Daniel Buren aus bevor sie den Weg zum Museum 131 unter die Füsse nehmen, wo zur Zeit eine Skulpturenausstellung zu sehen ist, in der Archaisches und Heutiges zueinander in Beziehung gestellt wird. Fürs Uebernachten schlage ich Ihnen das Hotel LLO, ganz in der Nähe vor.

Wer denkt, ich hätte dies alles nur erfunden, steige meinen Weg nach im Bild Nr…. Garantieren, dass Sie dasselbe sehen und empfinden kann ich allerdings nicht. Was mir,Joggi Dösseggers Zeichnungen überdenkend, nun auffällt, ist vor allem der enorme Reichtum an Skulpturen, die der Zeichen-Architekt in seinen Städten plaziert. Dann findet der Symboliker natürlich eine Vielzahl von relevanten Zeichen und Formen, die Inneres im Aeusseren zeigen – Männliches und Weibliches, Aggressives und Defensives, Hartes und Weiches, Zugemauertes und Schutz Bietendes, Offenes, und  Geschlossenes usw.

Vor allem aber kommt mir Joggi Dössegger in den Sinn, wie er in seinem vollgestopften Atelier, das er kennt wie seine Hosentasche, da sitzt und vom Stuhl aus sein Reich regiert. Da sind seine Zeichnungen fast fühlbar. Utopisch und voller Phantasie – Phantasie zum  in einer Welt, die ihn – real besehen – nie auf Händen getragen hat, die er aber liebt, indem er sie für sich so zurechtbiegt bis sie ihm – wenigstens auf dem Papier – gehorcht und ihn zum König der eigenen Vorstellung ernennt.